xxx

  Friederike Wapler   Forum Recht Home

 

Weibliche Genitalverstümmelung in Deutschland   Heft 3/2003
nachhaltig gestört
Das ökologisch-ökonomische Gleichgewicht

Seite 105
Rezension  
 

Marion Hulverscheidt: Weibliche Genitalverstümmelung. Diskussion und Praxis in der Medizin während des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum. Mabuse Verlag Frankfurt am Main 2002. 189 Seiten, 21,- €.

Die Genitalverstümmelung bei afrikanischen Frauen wurde in den neunziger Jahren in Deutschland breit diskutiert - nicht nur in der Medizin, sondern auch in der Rechtspolitik. Die in der Beschneidung und Verstümmelung junger Mädchen und Frauen liegende Menschenrechtsverletzung war der ein Aspekt dieser Debatte, der andere betraf die Frage, wie weit Mädchen und Frauen, die in ihrem Heimatland von Genitalverstümmelung bedroht waren, Asyl oder Abschiebungsschutz gewährt werden sollte (hierzu siehe Hulverscheidt in Forum Recht 1998, 117). Die Diskussion erreichte über Fachpublikationen hinaus auch die Tageszeitungen und Magazine, autobiographische Schilderungen der grausamen Praxis wie das Buch "Wüstenblume" von Waris Dirie machten das Problem einer breiten Masse bekannt.
Den Menschen und Organisationen, die sich auf diesem Gebiet engagieren - in Deutschland etwa "Terre des Femmes" - war und ist zumeist bewusst, dass sie sich auf einem schwierigen moralischen Feld bewegen. Denn so verachtenswert die Verstümmelung von Mädchen und Frauen zweifellos ist, so verständlich ist es andererseits, wenn die Bürgerinnen und Bürger in den afrikanischen Staaten sich eine herablassende Einmischung und Belehrung durch weiße MenschenrechtsaktivistInnen verbitten. Organisationen wie "Terre des Femmes" beschränken sich daher darauf, lokale Initiativen gegen Genitalverstümmelung in den jeweiligen afrikanischen Staaten zu unterstützen.

Nicht ganz so sensibel gehen zuweilen die Massenmedien mit dem Problem um. Hier wird nicht selten der Eindruck erweckt, bei der Genitalverstümmelung handele es sich um einen barbarischen Ritus moralisch minderwertiger Kulturen, der aus unserer zivilisierten Sicht und christlich-abendländischen Tradition ganz und gar unverständlich sei. Dass dies nicht so ist, hat die Medizinerin Marion Hulverscheidt in ihrem Buch "Weibliche Genitalverstümmelung - Diskussion und Praxis in der Medizin während des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum" nachgewiesen. Für den Zeitraum von etwa 1815 bis 1915 hat sie in medizinischen Zeitschriften und Lehrbüchern etwa 100 Fälle gefunden, in denen Mädchen und Frauen in Deutschland und Österreich die Klitoris und/oder die Schamlippen abgeschnitten, verätzt oder vernäht wurden, ohne dass diese Organe selbst krankhaft verändert gewesen wären. Von Beginn an stellt die Autorin klar, dass diese Formen der weiblichen Genitalverstümmelung zu keinem Zeitpunkt eine allgemein akzeptierte Praktik gewesen sind. Der geistige Hintergrund, vor dem die zum Teil heftigen Auseinandersetzungen um die beschriebenen Fälle stattfanden, lässt die aufgeklärte Leserin an dem zivilisatorischen Standard der damaligen Medizin dennoch zweifeln.
Aus Afrika wird häufig berichtet, Hintergrund der genitalen Verstümmelung junger Mädchen und Frauen sei die Vorstellung, das weibliche Geschlechtsorgan sei "unrein", hässlich und eine Bedrohung für die Keuschheit bzw. eheliche Treue der Frau. Im deutschsprachigen Raum wurden die entsprechenden Operationen durchgeführt, um Mädchen und Frauen von Masturbation, "übersteigertem Geschlechtstrieb", Hysterie und Neurosen zu heilen, Indikationen, die aus heutiger Sicht als nicht weniger an den Haaren herbei gezogen erscheinen.

Drei Erklärungsmodelle führt Hulverscheidt an, die zu dieser Entwicklung führten: Zum einen radikalisierte sich zu jener Zeit die Debatte um die Masturbation, die - bei Männern wie bei Frauen - als ein Übel angesehen wurde, das zu körperlicher Schwächung, zu Geisteskrankheit und in extremen Fällen sogar zum Tode führen konnte. Neben "konventionellen" Heilungsversuchen wie "hartem Lager", Diät und kalten Waschungen wurden zunehmend auch operative Eingriffe diskutiert und durchgeführt ("Heilung eines vieljährigen Blödsinns durch Ausrottung der Clitoris" - so der Titel eines Fachaufsatzes aus dem Jahr 1825). Zum anderen wurde die extrem nervenreiche Klitoris als mögliche Ursache für allgemeine Reizzustände des Zentralnervensystems - Hysterie und Neurosen - angesehen, die operative Entfernung der vermeintlichen Ursache führte nach dieser Logik zur Heilung der Krankheit. Schließlich galten die Genitalien als Sitz des Geschlechtstriebs, der bei Frauen getreu dem bürgerlichen Menschenbild geringer ausgeprägt zu sein hatte als beim Mann. War dies nicht der Fall, galt die Frau als krank. Diagnose: "Nymphomanie". Auch zur Bekämpfung dieses Leidens wurden unter anderem operative Eingriffe empfohlen.
All diese Vorstellungen und Diskussionen sind neben zahlreichen Fallgeschichten in Hulverscheidts Buch - zugleich ihre medizinische Dissertation - anschaulich und auch für medizinische Laien verständlich dargestellt. Sie werfen ein Schlaglicht darauf, wie auch hochrangige und bis heute gefeierte Vertreter der modernen naturwissenschaftlichen Medizin Vorstellungen anhängen konnten, die uns heute nur als im höchsten Grade absurd erscheinen können - Theorien, die im übrigen gänzlich über die Köpfe der Frauen hinweg entwickelt wurden. Die damaligen Operateure haben mit ihrem Handeln glücklicherweise keine Tradition begründen können. Dennoch sollten Hulverscheidts Forschungsergebnisse uns zu mehr Bescheidenheit ermuntern, wenn es darum geht, fremde Kulturen als "unzivilisiert" oder "menschenverachtend" zu verurteilen. Was nicht bedeuten soll, dass die weibliche Genitalverstümmelung nicht angeprangert werden dürfte, wo immer sie geschieht. Doch sollte dies in dem Bewusstsein geschehen, dass nicht nur die Menschenrechte universell sind, sondern leider auch die Neigung des Menschen dazu, sie mit vermeintlich stichhaltigen Begründungen zu verletzen.

Friederike Wapler, Hannover.