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Der Neid der bürgerlichen Gesellschaft   Heft 1/2004
Europavisionen
Ode an die Freude?

Seite 25-28
 
 

In der aktuellen sozialpolitischen Debatte wird die Verteidigung bisheriger sozialer Umverteilung als unangemessener Versuch der "Besitzstandswahrung" bezeichnet. Es ist nicht beabsichtigt, diese Debatte nachzuzeichnen, statt dessen soll hier die soziale Ungleichheit, die einer Forderung nach Umverteilung vorangeht, theoretisch fundiert werden. Diese wird aus einer wirtschaftswissenschaftlichen Argumentation markttheoretisch hergeleitet, die sie als eine notwendige Folge der monetären Vergesellschaftung ansonsten unabhängiger Individuen über den Markt ausweist.
Dies steht im Gegensatz zur Behauptung des Mainstreams liberaler ÖkonomInnen, nach der liberalisierte Märkte in der Regel nicht nur ökonomisch, sondern auch sozial zu optimalen Ergebnissen führen. Konsequenter Weise ist soziale Ungleichheit in der Ökonomik nur gelegentlich ein in die Theorie integrierter Gegenstand. Eine Ausnahme hiervon bildet von Hayek, auf dessen Überlegungen daher stark Bezug genommen wird. Hierbei wird sich zeigen, dass, wenn affirmativ auf Marktergebnisse rekurriert wird, wie es in der aktuellen Diskussion der Fall ist, sich eine staatliche Umverteilung gar nicht begründen lässt. Die Forderung, soziale Ungleichheit abzubauen, erscheint dann notwendig als eine vormoderne Form des Neids.

Die herrschende Meinung der Ökonomik

Bevor im folgenden Abschnitt soziale Ungleichheit als eine Folge der Vergesellschaftung über den Markt dargelegt wird, soll die Sichtweise des ökonomischen Mainstreams skizziert werden. Für diesen verschmelzen ökonomische Effizienz und soziale Wünschbarkeit und werden beide simultan über den Markt vermittelt. Das freie Spiel von Angebot und Nachfrage erreiche über eine Preisanpassung des Angebots einen vollständigen Interessensausgleich aller MarktteilnehmerInnen: "[D]ie individuelle Verfolgung der eignen Interessen [führt] zu einem gesellschaftlich erwünschten Ergebnis", wobei "das ‚unabhängige' Verhalten eingebettet ist in eine Vielzahl handlungskanalisierender Regeln, eben den Regeln des Gesellschaftsvertrags"1, die so zugeschnitten seien, dass es zu einem gewollten Leistungswettbewerb kommt. Wird der Rahmen, innerhalb dessen gewirtschaftet wird, richtig gestaltet, sei das Marktergebnis ein Ausdruck von ökonomischer Effizienz und sozial durchaus wünschbar. Lediglich in Fällen des so genannten Marktversagens komme reines Agieren am Markt zu einem ökonomisch und/oder sozial suboptimalen Ergebnis. In diesen Fällen solle der Staat regulierend eingreifen, aber in einer möglichst marktkonformen Weise. Ein Beispiel hierfür ist die Absicht, eine zunehmende Umweltverschmutzung durch die industrielle Produktion marktkonform durch die Handelbarkeit von Emissionsrechten einzuschränken.2 Prinzipiell aber ist das Zusammenfallen von ökonomischer Effizienz und sozial Wünschbarem das Credo des wirtschaftwissenschaftlichen Mainstreams.

Liberalisierte Märkte führten hiernach zu einer Auslastung aller Ressourcen, da der Angebotspreis auf dem Markt so lange sinkt, bis es zu einer Markträumung (Vollbeschäftigung) komme. Daher sei das soziale Ziel der Vollbeschäftigung durch eine Liberalisierung des Arbeitsmarkts zu erreichen. Entsprechend firmiert Unterbeschäftigung als freiwillige Arbeitslosigkeit, da sie ausschließlich aus zu hohen Lohnforderungen und - für die ArbeitgeberInnenseite - unakzeptablen Beschäftigungsbedingungen wie beispielsweise den Kündigungsschutzbestimmungen resultiere. Andere postulierte Formen der Unterbeschäftigung seien notwendig temporär, da sie zum Beispiel einem vorübergehenden Strukturwandel (Friktionsarbeitslosigkeit) oder der beschäftigungslosen Zeit zwischen einem Stellenwechsel (Sucharbeitslosigkeit) geschuldet sind. Es mögen zwar Mindestlöhne zugestanden werden oder besser eine negative Einkommenssteuer, die gering Verdienenden eine staatliche Transferzahlung zubilligt, Gewerkschaften haben jedoch aus dieser Perspektive lediglich eine störende Funktion, da sie die freie Preisbildung behinderten. Wie weit diese Ansicht allgemein geworden ist, zeigten die Reaktionen auf den gescheiterten Streik der ostdeutschen Metallindustrie im Sommer 2003, so hieß es beispielsweise in der Zeit, Streik und Aussperrung bedeuteten Krieg, den es in einer zivilen Gesellschaft nicht geben dürfte.3 Da die Aussperrung eine Reaktion ist, hätte demnach die Aktion, der Streik, zu unterbleiben.

Soziale Ungleichheit als Folge einer Markthierarchie

Die ökonomische Gegenposition dazu weist auf Unterschiede der einzelnen Teilmärkte hin: Auf dem Vermögensmarkt mit seinen festen Beständen der zu handelnden Wertpapiere führen sinkende Preise tatsächlich zu einer Markträumung, da dieser Markt tatsächlich dem Ideal entspricht, während sich beispielsweise das Arbeitsangebot auch bei sinkenden Preisen (Löhnen) erhöhen kann, um eine mögliche Verelendung abzuwenden.4 Daher besitzt der Arbeitsmarkt Besonderheiten und kann nicht wie andere Teilmärkte behandelt werden.
In einer monetär vermittelten Gesellschaft verfügen EigentümerInnen von Vermögen über eine besondere Position: Geld, über das diese verfügen, aber weder produktiv noch konsumptiv nutzen wollen, kann gegen Zinszahlungen einer Geschäftsbank zur Verfügung gestellt werden. Die Zinsen, die sie hierfür erhalten, sind eine Prämie für einen vorüber gehenden Verzicht auf die Verfügungsmöglichkeiten über Güter und Ressourcen, also auf Liquidität5. Die Zinsen, die die Bank für das Verleihen des bei ihr angelegten Geldes verlangen kann, richten sich nach dem allgemeinen Geldangebot. Damit ist die Höhe der Prämie, welche die VermögenseigentümerInnen erzielen können, abhängig von der insgesamt zirkulierenden Geldmenge6, woraus sich das Interesse der VermögenseigentümerInnen an einer restriktiven Geldpolitik ergibt: Ihr Nominalvermögen wächst, wenn die Preise für Sachvermögen ebenso steigen wie die Zinsen für Depositen.

Wird das Geld jedoch zu knapp gehalten, sinkt in einer monetär vermittelten Gesellschaft ihre Funktionsfähigkeit. Denn eine restriktive Geldpolitik kann die Produktion so begrenzen, dass die Güter zu steigenden Preisen absetzbar sind und damit eine Inflationierung begründen7. Die so monetär vermittelte Verknappung des Güterangebots erlaubt Profite, die bei einem Ausweiten der Produktion sänken. Denn - anders als es die liberale Theorie postuliert -, ist die Produktion nicht durch eine gegebene Ressourcenausstattung begrenzt, "sondern Geld [bildet] die Budgetrestriktion des Marktsystems8", denn ohne es können weder Arbeitskraft oder Rohstoffe noch Maschinen in Gang gesetzt werden. Da aber lediglich "Geld eine Verfügung über Ressourcen und Güter erlaubt" ermöglicht, ist sein knapp Halten eine Begrenzung des Einsatzes von Ressourcen und führt damit zur Unterbeschäftigung.
Während somit die VermögenseigentümerInnen eine restriktive Geldpolitik vorziehen, sind die NichteigentümerInnen an einer eher expansiven Geldpolitik interessiert. Letztere erlaubt einen umfassenderen Einsatz von Ressourcen und damit tendenziell Vollbeschäftigung. Während eine extrem restriktive Geldpolitik den realwirtschaftlichen Prozess abwürgt, führt eine extrem expansive Geldpolitik zu einer Abwertung der Vermögenstitel und setzt so einen Prozess des Rückzugs der VermögenseigentümerInnen vom Kapitalmarkt in Gang, was ebenfalls den realwirtschaftlichen Prozess abwürgt.
Hierfür stehen den VermögenseigentümerInnen verschiedene Möglichkeiten des Marktentzugs zur Verfügung: Die Flucht in Sachvermögen, das Horten fremder Währungen oder - bei Kapitalverkehrsfreiheit - der Transfer des Vermögens ins Ausland. Diese Exit-Möglichkeiten verhindern einen Zinssatz, der ihrem Kalkül widerspricht. Die Zentralbank muss ihre Geldpolitik daher so wählen, dass das Geld so knapp bleibt, dass es eine ausreichende Liquiditätsprämie abwirft. Denn nur, wenn die Zinsforderungen der VermögenseigentümerInnen befriedigt werden, sind diese bereit, in dem betreffenden Währungsraum Vermögen zu halten. Im Extremfall führt die Weigerung, Vermögen in einer bestimmten Währung zu halten, zur Unmöglichkeit, eine Produktion mit ihr monetär zu vermitteln. So setzt sich das Interesse der VermögenseigentümerInnen gegenüber den NichteigentümerInnen durch, da "das Arbeitsangebot keine Produktion veranlassen kann9", während eine monetär vermittelte Produktion davon abhängig ist, dass ein allgemein akzeptiertes Geld vorhanden ist.

Da die auf dem Gütermarkt erwartete Profitrate mindestens dem Kreditzins entsprechen muss, wird auf dem Kreditmarkt auch die Profitrate bestimmt. Wenn der auf dem Gütermarkt erwartete Gewinn nicht mindestens dem Zins entspricht, unterbleibt die Produktion. Somit fungiert der/die UnternehmerIn als "Vikar der VermögenseigentümerInnen10". Können keine ausreichenden Profite erwirtschaftet werden, bleibt dem/der UnternehmerIn nur der Rückzug aus der Produktion - sei es vorausschauend oder in Form des Bankrotts. Da der auf dem Gütermarkt realisierbare Gewinn abhängig von der Nachfrage ist, "wird der Gütermarkt [näher: die Nachfrage] an Stelle des Arbeitsmarktes zur Produktionsschranke11". Somit steht der Arbeitsmarkt in der Hierarchie der Märkte an der letzten Stelle und der Lohn ist eine Restgröße aus erwartetem Gewinn und den zu zahlenden Finanzierungskosten für Kapital in Form von Zinsen.
Wenn sich die Lohnhöhe den Vorgaben der Vermögens- und Gütermärkte anpassen muss, so ist damit nur die Obergrenze der langfristigen Lohnhöhe grob bestimmt; das untere Niveau der individuell realisierbaren Lohnhöhe wird auf dem Arbeitsmarkt ausgehandelt. Eine gewerkschaftliche Organisation der Angebotsseite von Arbeitskraft hat daher die Aufgabe, einen Fall der Lohnhöhe unter ein Niveau zu stoppen, das nicht von einem der anderen Märkte vorgegeben wird. Innerhalb dieser Grenzen spielt sich der Verteilungskampf zwischen ArbeitgeberInnen und Gewerkschaften ab.

Die Rezeption sozialer Ungleichheit

Die auf den Märkten geschaffene Hierarchie manifestiert sich in der nicht nur umgangssprachlichen Verwendung der Begriffe Arbeit und Wirtschaft. Während mit Arbeit in der Regel die Seite der abhängig Beschäftigten gemeint ist, meint wer Wirtschaft sagt, oft nicht nur eine historische Form innerhalb derer Menschen ihre Lebensbedingungen reproduzieren, sondern es sind damit - abhängig vom Kontext sogar ausschließlich - auch Unternehmen und ihre RepräsentantInnen gemeint. Damit aber wird die genannte Reproduktion zur Angelegenheit einer besonderen Kaste der Gesellschaft: Den UnternehmerInnen. Dieses elitäre Bild des/der UnternehmerIn blendet aus, dass es in einer komplexen Wirtschaft nicht der oder die geniale Einzelne ist, die dem technischen Fortschritt in die Welt hilft, sondern dass an der Entwicklung von Neuerungen auch die Beschäftigten beteiligt sind. Der Ausdruck "Vertreter der Wirtschaft" zeigt, wie allgemein die Identifikation einer Gruppe wirtschaftlicher AkteurInnen mit der Wirtschaft als Ganzes ist, kaum eine oder einer würde auf die Idee kommen, hierunter beispielsweise GewerkschaftsvertreterInnen zu verstehen, sondern es ist klar, dass hiermit VertreterInnen von Unternehmen, als ExpertInnen für die Wirtschaft als solche, zu verstehen sind. Obwohl ihr ExpertInnenwissen die Perspektive der Unternehmen reflektiert oder eben des Kapitals.

Allerdings muss ein hohes Einkommen nicht notwendig mit einer - zu Recht oder zu Unrecht - als besonders bedeutsam anerkannten Rolle in der Gesellschaft zusammen fallen. Von Hayeks Begründung der Einkommensungleichheit schlägt auch eine vollständig anderen Argumentationsweg ein: Anhand des Begriffspaares Verdienst und Entlohnung trennt er Gerechtigkeitsvorstellungen von Marktprozessen. Während der Verdienst eine Kategorie der sozialen und individuellen Wertschätzung ist, die ausdrückt, was als wünschenswert oder als zu respektierender Einsatz eines Individuums zu betrachten ist, handelt es sich bei der Entlohnung um ein zu akzeptierendes Marktresultat. In diesem Sinne verdient der/die gute SamariterIn unsere Achtung, wird aber möglicherweise erst im Himmel entlohnt. Da der Verdienst im Gegensatz zur marktkonformen Entlohnung keine objektivierbare Größe ist, sei lediglich die Entlohnung mit einer freien Gesellschaft zu vereinbaren. Denn sollte das Einkommen an den Verdienst gekoppelt werden, setzt das eine Bewertung von außen voraus, die im Sinne der Freiheit der Wahl nicht erfolgen dürfe.
Diese Argumentation harmoniert mit der Bedeutung, die in der liberalen Theorie dem (unregulierten) Preissystem zukommt. Eine marktförmige Preisfindung soll den Individuen anzeigen, in welche Richtung es sich lohnt, die eigenen Anstrengungen zu richten.12 Auch wenn ein solches Marktergebnis "nur zu leicht von der Hauswirtschaft und Stammesgesellschaft geprägte Gefühle und Überzeugungen"13 verletzt, sei diesem daher der Vorzug vor einem staatlichen Eingriff in das Preisgefüge mit dem Ziel einer Umverteilung zu geben. So wird die Forderung nach sozialem Ausgleich zu einem vormodernen Reflex oder - wie im Folgenden gezeigt wird - zu bloßem Neid.

Zur ökonomischen Funktion sozialer Ungleichheit

Das Phänomen soziale Ungleichheit bekommt seine ökonomische Funktion, wenn es gelingt, die Reaktion auf dieses Phänomen in eine marktkonforme Richtung zu lenken. Eine solche Lenkung erfolgt am Begriff des Neids, der in einer marktkonformen und einer nicht-marktkonformen Weise wirksam werden kann.

Die ökonomisch liberale oder marktkonforme Sichtweise, die im Wesentlichen an von Hayek dargelegt werden soll, betont zwar, dass ein "ausgedehnte[s] System der Sozialfürsorge"14 mit der liberalen Theorie vereinbar sei, wobei dieses jedoch nicht den Wettbewerb weit gehend einschränken dürfe. Allerdings drohten die "[d]ie modernen Vertreter der Forderung nach einer weitreichenden, materiellen Gleichheit"15 unwillentlich den Preismechanismus freier Märkten zu zerstören, der die Grundlage einer freien Gesellschaft sei. So sorge der "Atavismus der sozialen Gerechtigkeit" für den Verfall einer freien Handelnsordnung16, wenn deren Ergebnisse nicht als rechtmäßig akzeptiert werden, sondern unzulässiger Weise nach überkommenen Gerechtigkeitsvorstellungen überprüft würden.17 Es geht hier um die Verteidigung einer Ordnung, die sich nach von Hayek evolutionär heraus gebildet hat, aber von organisierten Interessen beispielsweise seitens der Gewerkschaften bedroht sei18 - wobei nicht einsichtig ist, warum Interessensverbände nicht ebenso als ein evolutionär entstandener Teil der Gesellschaft betrachtet werden, die ebenfalls zu ihrer Effizienz beitragen.
Motiviert seien die Bemühungen um größere soziale Gerechtigkeit "in der Unzufriedenheit [...], die der Erfolg einiger oft in den weniger Erfolgreichen hervorruft, oder, um es frei herauszusagen, im Neid."19 Damit ist von Hayek nicht der einzige liberale Ökonom, der dem Neid eine bedeutende Stellung für das Verständnis gesellschaftlicher Prozesse beimisst. Schon für Adam Smith stand fest, dass die Verletzung von Eigentumsrechten durch Arme sowohl durch die Not getrieben als auch durch Neid gereizt werden kann. Nur im Schutz von Rechtsinstitutionen könnten die Reichen überhaupt, "auch nur eine einzige Nacht in Sicherheit schlafen" 20, womit er aus Not und Neid rechtstheoretische Überlegungen ableitet.
Es ist aber nicht nur das Rechtswesen, das die Reichen ruhig schlafen lässt, sondern auch ein Wechsel des Objektes des Neids. Anlässlich der Diskussion um die Vermögenssteuer stellt Busch eine Neidperversion fest, die zwar Millionengehälter bei verschiedenen Berufsgruppen akzeptiert, "während Arbeitslose, SozialhilfeempfängerInnen und AsylbewerberInnen beneidet und sozial angefeindet werden".21 Dies ist ein erfolgreicher Wechsel des Objekts des Neides, sah Smith die Reichen noch von "unbekannten Feinden umgeben, die sie nie besänftigten können, obgleich sie selbst sie nie gereizt haben"22, ist nun der oder die von staatlichen Transferleistungen Abhängige Gegenstand des Neids.

Dieser Wechsel des Neidobjekts ist Voraussetzung dafür, dass der Neid zwar als Ansporn erhalten und das Ergebnis einer marktförmigen Entlohnung akzeptiert bleiben, während nicht-marktförmige Einkommen aus einer staatlichen Umverteilung diskreditiert werden. Der Neid, der aus sozialer Ungleichheit resultiert, wirkt dann als eine Motivation, auf den eigenen sozialen Aufstieg hinzuarbeiten, statt mit vorgehaltener Pistole eine Umverteilung zu erzwingen. Daraus resultiert die Dichotomie des Neids in zwei Formen: Eine, in der Marktergebnisse akzeptiert werden und in der "Neid und Nivellierungssucht" "gegen das reichere Privateigenthum"23 nur entsprechend der Handelnsordnung wirksam werden. Diese marktkonforme Form des Neids erhält eine ökonomische Funktion, da sie dem Individuum ein Antrieb ist und damit der Reproduktion der wirtschaftlichen Struktur dient. Und eine andere nicht-marktkonforme Form des Neids, die - da sie die Unantastbarkeit von Marktergebnissen anzweifelt - als vormoderner Reflex diffamiert wird, der nicht mit einer modernen Gesellschaft zu vereinbaren sei.
Zwar kann nicht behauptet werden, der Neid mache "das Wesen der Concurrenz aus"24, da dann die ökonomisch zu fundierende Funktionsweise der Wirtschaft mit ihrer Erscheinung verwechselt wird. Der Neid als Wesen dieses Phänomens entspräche nicht einer monetär vermittelten Gesellschaft, in der bereits der Zwang, für überlassenes Kapital einen Zins zu erwirtschaften, eine Konkurrenz der SchuldnerInnen schafft. Dies findet seine makroökonomische Entsprechung in der Tatsache, dass der Forderungsbestand einer Zentralbank niemals mit dem umlaufenden Bestand an Zentralbankgeld abgebaut werden kann. Durch die Zinsforderungen, gegen die das Zentralbankgeld ausgegeben wird, ist sein zirkulierender Bestand immer geringer als die Forderungen der Zentralbank.25

Konsequenzen für eine sozialpolitische Diskussion

Eine marktförmige Vergesellschaftung führt notwendig zu einer ökonomischen Ungleichheit, da sich auf den einzelnen Teilmärkten das Kalkül der VermögenseigentümerInnen durchsetzt. Wird wiederum ein am Markt erzieltes hohes Einkommen als monetärer Ausdruck für die gesellschaftliche Wertschätzung interpretiert, dann rechtfertigt die besondere Bedeutung im Prozess der ökonomischen Reproduktion die hohe soziale Stellung. Diese wurde, da ihr Wert am Markt über zahlungsbereite Nachfrage bestimmt wurde, über einen freien Wettbewerb ermittelt. So fallen soziale und ökonomische Effizienzkriterien in eins, wenn explizit gesellschaftlich wünschenswerten Leistungen, die nicht über den Markt vermittelt werden, zwar ein Verdienst, aber keine Entlohnung zugebilligt wird und diese somit aus der Betrachtung ausgeschlossen werden.
Werden ökonomische Effizienzkriterien zu sozialen, wirkt die Forderung nach einem sozialen Ausgleich - in welchem Umfang auch immer - als Atavismus, während aus der Empfindung des Neides eine genuin ökonomische Triebkraft wird, so lange die "Nivellierungssucht" marktkonform erfolgt und dazu führt, dass das Einkommen am Markt erhöht wird. Die andere Seite dieses marktkonformen Neids zeigt sich, wenn eine Umverteilung aus sozialen Gründen als Ausdruck eines nicht-marktkonformen Neids - hier mit einer eindeutig negativen Konnotation - abgelehnt wird. Ausdruck eines marktkonformen Neids, der nur den Markt als Einkommensquelle akzeptiert, ist eine "Neidperversion", die ihr Objekt in den EmpfängerInnen staatlicher Transferzahlungen findet. Ist es ideologisch allgemein geworden, dass sich die Gesellschaft nach den Erfordernissen eines Marktideals ausrichten solle, so ist eine Begründung des prinzipiellen Anspruchs auf Umverteilung nicht mehr möglich. Damit erscheint eine Einkommenshierarchie als etwas Unantastbares, da hohe Einkommen besondere Leistungen widerspiegelten.
Wenn es so gelingt, eine sozialpolitische Diskussion in einer marktkonformen Weise um den Begriff Neid zu zentrieren, ist eine solche Debatte weit gehend gegen außerökonomische Argumentationen immunisiert, da diese sich im Rahmen einer streng ökonomischen Perspektive nicht begründen lassen.

Ingo Techmeier ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kriminalwissenschaften der Universität Münster.

Anmerkungen:

1 Homann/Suchanek, 2000, 256.
2 Homann, 2003, 54 f.
3 Zitiert nach Schmidt, in: PROKLA 132, Vol. 33, Heft 3/2003, 493.
4 Spahn, 1986, 36 inkl. Fußnote 3.
5 Dies entspricht dem keynesianischen Begriff der Liquiditätsprämie.
6 Keynes, General Theory of Employment, Interest, and Money, 1964, 167 f.
7 Bibow, Geldpolitik als Inflationsursache?, in: Birger/Vilks (Hg.), Wirtschaftswissenschaft und Wirtschaftswirklichkeit, 1998.
8 Riese, 1987, 195.
9 Stadermann, 1995, 168.
10 Riese, 1987, 197.
11 Betz, Ein monetärkeynesianisches makroökonomisches Gleichgewicht, 1993, 92.
12 Von Hayek, 1983, 113 ff.
13 Streit, Wissen, Wettbewerb und Wirtschaftsordnung - Zum Gedenken an Friedrich August von Hayek in: ORDO - Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, 1992, 22.
14 Von Hayek, o.J.,60.
15 Von Hayek, o.J.,60.
16 Die Ordnung innerhalb der gewirtschaftet wird.
17 Streit, 1992, 21 f.
18 Streit, 1992, 19.
19 Von Hayek,1983, 113.
20 Smith, 1974, 601.
21 Busch, 2003, 13.
22 Smith, 1975, 601.
23 Marx, 1988 157.
24 Marx, 1988, 157; eine ökonomische Fundierung der Konkurrenz findet sich beispielsweise in Marx, MEW 25, 47.
25 Lüken genannt Klassen, Währungskonkurrenz und Protektion, 1993, 18.

Literatur

Busch, U., Vermögensbesteuerung und Neidperversion in: UTOPIE kreativ 2003, H. 147, 5-16.
Hayek, F. A. von, Der Weg zur Knechtschaft (zuerst 1944, The Road to Serfdom, London und Chicago).
Hayek, F. A. von, Die Verfassung der Freiheit, 1983 (zuerst 1960, The Constitution of Liberty, London und Chicago).
Homann, K., Grundlagen einer Ethik für Globalisierung in: von Heinrich von Pierer, et al., Zwischen Profit und Moral, 2003.
Homann, K. / Suchanek, A., Ökonomik. Eine Einführung, 2000.
Marx, K., Ökonomisch-philosophische Manuskripte von 1844, 1988.
Marx, K., Das Kapital, Band III, in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Band 25 (MEW 25), 1972.
Riese, H., Aspekte eines monetären Keynesianismus - Kritik und Gegenentwurf in: Postkeynesianismus. Ökonomische Theorie in der Tradition von Keynes, Kalecki und Sraffa, Marburg, 1987.
Smith, A., Der Wohlstand der Nationen, 1974.
Spahn, H.-P., Die Entwicklung von Arbeitsangebot und Beschäftigung in: Maier / Schmid, Der goldene Topf, 1986.
Stadermann, H.-J., Transformation mit im Vermögensmarkt generierten Gleichgewichten, in: Riese / Spahn (Hg.), Wirtschaftspolitik in einer Geldwirtschaft, 1995.