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Wanzen in der BRD - jetzt ade ?   Heft 3/2004
Dataismus -
eine Gesellschaft überwacht sich selbst

Seite 88-91
 
 

Mit seinem Urteil vom 3. März 2004 hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die "akustische Wohnraumüberwachung", besser als "Großer Lauschangriff" bekannt, für teilweise verfassungswidrig erklärt.1 Durch die Entscheidung des BVerfG wurde der Anwendungsbereich des großen Lauschangriffs beträchtlich eingeschränkt. Das Abhören von Privatwohnungen zu Strafverfolgungszwecken bleibt jedoch weiterhin möglich.

Sieg für die Bürgerrechte ?

Kaum eine Entscheidung des BVerfG hat derart konträre Reaktionen und Interpretationen ausgelöst wie die jüngste Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit des großen Lauschangriffs. Während einige BürgerrechtlerInnen die Entscheidung als großen Sieg feierten, freute sich Bundesjustizministerin Zypries darüber, dass der große Lauschangriff weiterhin verfassungsgemäß bleibt.2 Schon an diesen unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten wird deutlich, dass von einem großen Sieg der Bürgerrechte nicht die Rede sein kann.3

Einführung des Großen Lauschangriffs

Der große Lauschangriff wurde als Reaktion auf die angeblich gravierende Bedrohung des Rechtsstaates durch die sog. Organisierte Kriminalität (OK) durch das "Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung der Organisierte Kriminalität" vom 4.5.1998 in § 100c Abs.1 Nr.3 StPO eingeführt.4 Vorausgegangen war das "Gesetz zur Änderung des Art. 13 Grundgesetz (GG)".5
Die Unverletzlichkeit der Wohnung des Art. 13 Abs.1 GG wird seitdem durch einen neu eingefügten Art. 13 Abs.3 GG begrenzt. Danach dürfen die Strafverfolgungsbehörden beim Vorliegen eines durch bestimmte Tatsachen begründeten Verdachts, dass jemand eine besonders schwere Straftat begangen hat, zur Verfolgung der Tat aufgrund richterlicher Anordnung die Wohnung mit technischen Mitteln abhören, wenn die Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise unverhältnismäßig erschwert oder aussichtslos wäre.
BefürworterInnen des Lauschangriffs hielten dessen Einführung angesichts der angeblich massiven Bedrohung durch die OK für unabdingbar.6 Gut sechs Jahre später bleiben die Geeignetheit des Lauschangriffs, die "Bosse der Unterwelt" zu fangen und die tatsächliche Bedrohung der Gesellschaft durch die OK aber fraglich, wie auch das BVerfG einräumt, aber angesichts der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers dahingestellt lässt.7 Ein solches Vorgehen ist jedoch bedenklich, da in einem Rechtsstaat der Staat die Beweislast für die Notwendigkeit und das Funktionieren neuer Eingriffsinstrumente trägt.
Das BVerfG hatte sich im Rahmen seiner Entscheidung mit der Verfassungsmäßigkeit der grundgesetzlichen Ermächtigung sowie mit der einfachgesetzlichen Ausgestaltung des großen Lauschangriffs in der Strafprozessordnung (StPO) zu befassen. Dabei kommt es zu dem Ergebnis, dass die verfassungsrechtliche Ermächtigung des Lauschangriffs in Art. 13 Abs. 3 GG mit der Verfassung zu vereinbaren sei; die einfachgesetzlichen Ausgestaltungen in der StPO seien jedoch teilweise verfassungswidrig.

Zur Verfassungsmäßigkeit des Art. 13 Abs. 3 GG

Das BVerfG betont erneut die grundlegende Bedeutung des Schutzes der räumlichen Privatsphäre durch Art. 13 Abs. 1 GG. Dieses Grundrecht verbürge dem Einzelnen das Recht, in seiner Wohnung in Ruhe gelassen zu werden. Art.13 Abs. 1 GG enthält das grundsätzliche Verbot, gegen den Willen der WohnungsinhaberInnen in die Wohnung einzudringen, darin zu verweilen, sowie Abhörgeräte in der Wohnung zu installieren oder sie dort zu benutzen.8
Die durch Art. 13 Abs. 3 GG geschaffene Beschränkung des Schutzbereiches sei durch Art. 79 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG begrenzt. Der Schutz der Menschenwürde werde durch Art. 13 Abs. 1 GG konkretisiert. Die Privatwohnung sei als "letztes Refugium" ein Mittel zur Wahrung der Menschenwürde.9 Laut dem BVerfG verletzt der große Lauschangriff nicht generell den Menschenwürdegehalt von Art. 13 Abs. 1 GG und des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG.10 Zwar dürfe auch ein Straftäter nicht zum bloßen Objekt der Verbrechensbekämpfung gemacht werden, dies sei jedoch im Falle des heimlichen Abhörens der Wohnung zu Strafverfolgungszwecken nicht der Fall, wenn die Strafverfolgungsorgane den "unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung" wahrten.

Erfreulich deutlich stellt das BVerfG jedoch heraus, dass in den absolut geschützten Kernbereich nicht eingegriffen werde dürfe. "Selbst überwiegende Interessen der Allgemeinheit können einen Eingriff in diesen absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung nicht rechtfertigen." "Die akustische Wohnraumüberwachung zu Strafverfolgungszwecken verstößt dann gegen die Menschenwürde, wenn der Kernbereich privater Lebensgestaltung nicht respektiert wird."11 Um dies zu beurteilen, muss nach Auffassung des Gerichts im Einzelfall festgestellt werden, ob ein Sachverhalt höchstpersönlichen Charakter hat. Dies sei etwa bei Äußerungen innerster Gefühle oder bei Ausdrucksformen von Sexualität der Fall.12
Außerhalb des Kernbereichs sei das Lauschen grundsätzlich unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsprinzips zulässig. Diesen Anforderungen werde Art.13 Abs. 3 GG gerecht. Art.13 Abs. 3 GG sei dahingehend auszulegen, dass seine gesetzliche Ausgestaltung die Erhebung von Informationen durch die akustische Überwachung der Wohnung dort ausschließen müsse, wo die Ermittlungsmaßnahme in den durch Art. 13 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG geschützten unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung vordringen würde.13

Unzulässige akustische Überwachung

Aus diesen Grundsätzen ergeben sich laut dem BVerfG folgende Vorgaben für einen verfassungsgemäßen großen Lauschangriff: Die Überwachung habe in Situationen von vornherein zu unterbleiben, in denen Anhaltspunkte bestehen, dass die Menschenwürde durch die Maßnahme verletzt wird.14 Dies sei der Fall, wenn sich jemand allein oder ausschließlich mit Personen in der Wohnung aufhalte, zu denen er in einem besonderen, den Kernbereich betreffenden Vertrauensverhältnis stehe und es keine konkreten Anhaltspunkte gebe, dass die zu erwartenden Gespräche nach ihrem Inhalte einen unmittelbaren Bezug zu Straftaten aufweisen. Für die Einordnung eines Gesprächs sei dessen Inhalt maßgeblich. Freilich muss auch das BVerfG einräumen, dass zur Zuordnung eines Gesprächs zunächst eine Erhebung von Informationen erforderlich ist. Um nicht pauschal immer in den Kernbereich der Privatsphäre eindringen zu müssen, sollen die Strafverfolgungsbehörden vor Beginn der Maßnahme eine Prognose vornehmen, bei welcher Indikatoren (z.B. die Art der Räumlichkeit und die Frage, wer sich dort aufhält) für kernbereichsrelevante Handlungen in der zu überwachenden Wohnung zu beachten seien. Dies sei auch praktisch möglich.15
Führe die Überwachung unerwartet zur Erhebung absolut geschützter Informationen, müsse sie abgebrochen und die Aufzeichnungen gelöscht werden. Bemerkenswert ist die Betonung, dass jede Verwendung solcher im Rahmen der Strafverfolgung erhobener absolut geschützter Daten ausgeschlossen sei.16 Damit scheint das BVerfG sich auch gegen die mittelbare Verwertung verfassungswidrig gewonnener Informationen im Strafverfahren auszusprechen, somit also die aus dem amerikanischen Recht stammende sog. fruit of the poisonous tree doctrine zu vertreten.17

Zur Verfassungsmäßigkeit der StPO

Die einfachgesetzlichen Vorschriften der StPO wurden vom BVerfG hingegen für z.T. verfassungswidrig erklärt. Die folgenden Ausführungen müssen sich auf die grundsätzliche Frage der Zulässigkeit des Eingriffs in die Unverletzlichkeit der Wohnung beschränken.18 Aus Art. 13 GG folge, dass die Eingriffsbefugnisse der StPO hinreichende Vorkehrungen dafür treffen müssten, dass Eingriffe in den absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung unterbleiben.19 Die gesetzlichen Vorschriften der StPO trügen dem jedoch nur unzureichend Rechnung. Nach geltendem Recht sei ein Überwachungsverbot die Ausnahme. Der Gesetzgeber habe ferner nicht hinreichend geregelt, dass eine Verwertung von Daten ausgeschlossen ist, wenn Erkenntnisse unter Verletzung des Kernbereichs privater Lebensgestaltung gewonnen wurden und dass diese Daten gelöscht werden müssen.20
Soweit der Lauschangriff nicht den absolut geschützten Kernbereich erfasse, müsse der Verhältnismäßigkeit Rechnung getragen werden, was bei den einfachgesetzlichen Regelungen der StPO nicht der Fall sei.21 Das BVerfG hat den Katalog der Straftaten in § 100c Abs. 1 Nr. 3 StPO, in welchen der Lauschangriff weiterhin zulässig sein soll, erheblich eingeschränkt. Dies überrascht nicht, da die strafprozessualen Vorschriften die verfassungsrechtlichen Anforderungen des Art. 13 Abs. 3 GG zum Lauschen deutlich unterschritten.22 Der geänderte Art. 13 Abs. 3 GG verlangt für die Zulässigkeit des großen Lauschangriffs nämlich den Verdacht "besonders schwerer Straftaten". Besonders schwere Straftaten im Sinne des Art. 13 Abs. 3 GG sind solche, die den Bereich der mittleren Kriminalität deutlich überschreiten.23 Diese Anforderungen des geänderten Art. 13 Abs. 3 GG hat der einfache Gesetzgeber mit dem weiten Straftatenkatalog des § 100c Abs. 1 Nr. 3 StPO - wie auch das BVerfG feststellte - weit überschritten. Durch die Entscheidung des BVerfG wird dieser offensichtliche Verfassungsverstoß jetzt gestoppt. Eine besonders schwere Straftat ist laut BVerfG nur anzunehmen, wenn der Gesetzgeber für den Straftatbestand eine Höchststrafe von mehr als fünf Jahren Freiheitsstrafe vorsieht.24 Der große Lauschangriff ist deshalb etwa im Bereich der Geldwäsche (§ 261 Strafgesetzbuch [StGB]), Bestechung (§ 334 StGB) oder Bestechlichkeit (§ 332 StGB) unzulässig. Bei anderen Eigentums- und Vermögensdelikten, z.B. beim Bandendiebstahl (§ 244 StGB) bleibt der Lauschangriff aber erlaubt.
Durch die Entscheidung des BVerfG wird deutlich, dass der Gesetzgeber im "Kampf" gegen die OK jegliches Augenmaß verlor. Bis zum 30. Juni 2005 müssen die Auflagen umgesetzt werden, mit denen das BVerfG das Abhören von Wohnungen eingeschränkt hat.

Grundsätzliche Bedenken gegen den Lauschangriff

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das BVerfG das Abhören von Wohnungen erfreulich eingeschränkt hat. Gute Gründe hätten jedoch dafür gesprochen, den großen Lauschangriff überhaupt für verfassungswidrig zu erklären.25
Der große Lauschangriff ist der schwerste Informationserhebungseingriff der Strafverfolgungsbehörden in die Persönlichkeitssphäre der BürgerInnen.26 Während die BürgerInnen im Falle der Telefonüberwachung oder bei der Kontrolle des Briefverkehrs nicht absolut sicher sein können, dass auf der EmpfängerInnenseite eine weitere Person mithört bzw. -liest, vertrauen diese grundsätzlich darauf, dass das in der eigenen Wohnung oder anderen Räumen gesprochene Wort nicht nach außen dringt. Wer sicher sein will, dass intime Gefühlsregungen und -äußerungen nicht an Dritte gelangen, wird seine/ihre Mitteilungen nicht über diese Medien vornehmen, sondern sich privat in der Wohnung treffen. Im Falle der Überwachung der Wohnung durch den großen Lauschangriff wird den BürgerInnen diese letzte Rückzugsmöglichkeit genommen.27 Der große Lauschangriff bedeutet daher das "Ende der Privatsphäre".28

Durch den Lauschangriff wird der/die einzelne zur Waffe gegen sich selbst gemacht. Weil der Lauschangriff ohne den Willen der Betroffenen erfolgt, wird der rechtsstaatliche und nach der Rechtsprechung des BVerfG mit Verfassungsrang ausgestattete Grundsatz, sich im Strafprozess nicht selbst belasten zu müssen ("nemo tenetur se ipsum acusare") ausgehebelt.29
Der Lauschangriff droht darüber hinaus zu einer Störung der Kommunikation zwischen den BürgerInnen zu führen. Wer nicht einmal in den eigenen vier Wänden sicher sein kann, vom Staat belauscht zu werden, wird u.U. intime Probleme nicht mehr mit anderen besprechen, sondern schweigen.30 Diese einschüchternde Wirkung wird auch vom BVerfG eingeräumt.31
Die Bundesverfassungsrichterinnen Jaeger und Hohmann-Dennhardt halten Art. 13 Abs. 3 GG bereits für verfassungswidrig. In ihrem Sondervotum weisen sie zu Recht darauf hin, dass die von der Senatsmehrheit vertretene verfassungsgemäße Anwendung des großen Lauschangriffs mit praktisch unüberwindbaren Hindernissen verbunden ist. Wer nämlich außerhalb einer Privatwohnung feststellen will, ob das Abhören einer Situation zulässig ist oder den unantastbaren Kernbereich der räumlichen Privatsphäre verletzt, muss zwangsläufig in die Unverletzlichkeit der Wohnung eingreifen und kann dann u.U. auch den absoluten geschützten Kernbereich verletzen, der durch Art. 79 Abs. 3 GG unantastbar geschützt werden soll.32

Praktische Bedenken ergeben sich auch gegen Umsetzbarkeit der vom BVerfG postulierten Unverwertbarkeit mittelbar gewonnener Beweise. Im Nachhinein lässt sich nämlich in der Praxis oftmals schwer nachvollziehen, wo ein gewonnener Beweis herrührt. Es ist daher zu befürchten, dass die in der Theorie richtigen Einschränkungen der mittelbaren Beweisverwertung in der Rechtswirklichkeit nicht viel wert sind.
Auch die Auflage des BVerfG, das Abhören müsse sofort gestoppt werden, wenn sich ein/e Beschuldigte/r in der eigenen Wohnung mit seinen/ihren Familienangehörigen und Vertrauten unterhält, dürfte kaum umzusetzen sein und mutet eine wenig realitätsfern an, wie auch Holger Bernsee, stellvertretender Vorsitzender des Bundesverbandes der Kriminalbeamten kritisiert: "Wie das gehen soll, dazu fällt mir nichts mehr ein." Und fragt: "Sollen wir dann den Stecker rausziehen, wenn die Frau ins Zimmer kommt?"33
Wenn das BVerfG hervorhebt, ein Abhören der Wohnung habe sich auf Gesprächssituationen zu beschränken, die mit Wahrscheinlichkeit strafverfahrensrelavante Inhalte umfassen34, stellt sich die Frage, wie eine solche Beschränkung des Abhörens in der Praxis aussehen soll. Es ist beim Beginn des Lauschens nämlich nicht erkennbar, wann ein Gespräch beginnen wird, bei dem strafverfahrensrelavante Informationen bekannt werden. Will die Polizei solche Informationen gewinnen, muss sie doch vielmehr die ganze Zeit "online" sein, um dann die für ein Strafverfahren interessanten Gespräche mitschneiden zu können.
Es ist daher zu befürchten, dass die Entscheidung des BVerfG - wenn man von der Reduktion des Straftatenkatalogs einmal absieht - zu keiner gravierenden Änderung der Abhörpraxis führen wird. Darüber hinaus muss betont werden, dass das Abhören von Wohnungen zum Zwecke der Gefahrenabwehr auch bereits vor der Einführung des Lauschangriffs nach den Polizeigesetzen der Länder möglich war.35 Es ging bei der Entscheidung des BVerfG lediglich um die Zulässigkeit des Lauschens zur Strafverfolgung. Der Eingriff in die räumliche Privatsphäre ist jedoch ein zu hoher Preis für eine effektive Strafverfolgung.36

Lauschangriff gegen Unschuldige

Der große Lauschangriff ist - dies soll hier noch einmal hervorgehoben werden - eine Eingriffsmaßnahme im strafprozessualen Ermittlungsverfahren. Im Ermittlungsverfahren soll geklärt werden, ob eine Person einer Straftat hinreichend verdächtig ist. Zu diesem Zeitpunkt weiß die Strafverfolgungsbehörde also noch nicht, ob die ins Visier genommene Person eine Straftat tatsächlich begangen hat.37 Der große Lauschangriff richtet somit, was von PolitikerInnen-Seite oftmals im Eifer des Gefechts vergessen bzw. verschwiegen wird, nicht gegen "Kriminelle", "Terroristen" usw., sondern gegen MitbürgerInnen, die nach dem "in dubio pro reo"-Grundsatz für unschuldig zu gelten haben.38
Der große Lauschangriff setzt lediglich einen Anfangsverdacht voraus.39 Daraus ergibt sich aber für die staatlichen Strafverfolgungsbehörden die Pflicht, mit Bedacht vorzugehen. Ein Eingriff in die Unverletzlichkeit der Wohnung durch den Großen Lauschangriff bei Personen, die einer Tatbegehung lediglich verdächtig sind, sollte deshalb unterbleiben.40

Die Strafprozessordnung eines rechtsstaatlichen Strafrechts unterscheidet zwischen den Eingriffsbefugnissen gegen Verdächtige und Dritte. Diese Grundunterscheidung ist auch in der StPO vorgesehen. Nur ausnahmsweise dürfen nicht verdächtige Personen einbezogen werden. Durch neue Ermittlungsmethoden wird zunehmend von Unbeteiligten verlangt, strafprozessuale Eingriffe zu dulden.41 Nach den Angaben der Bundesregierung beträgt der Anteil der Nichtbeschuldigten an den vom Lauschangriff Betroffenen fast 50 %. In diesen Angaben sind jedoch lediglich WohnungsinhaberInnen enthalten. Es ist daher mit einer vielfach höheren Zahl von zufällig sich in den Wohnungen aufhaltenden Personen - etwa FreundInnen und Bekannte - zu rechnen.42 Gegen einen Großteil der vom Lauschangriff Betroffenen besteht somit nicht einmal ein Anfangsverdacht - ein unhaltbarer, aber bei Beibehaltung des Lauschangriffs kaum änderbarer Umstand. Das BVerfG hält dies noch für vertretbar, wenn das Abhören sich auf Gespräche beschränkt, an denen der Beschuldigte beteiligt sei und aus denen wahrscheinlich verfahrensrelevante Informationen zu gewinnen seien.43
Zusammenfassend lässt sich damit festhalten, dass der Lauschangriff weder ein geeignetes noch ein normativ haltbares Mittel zur Strafverfolgung ist und deshalb abgeschafft werden sollte.

Die Absurdität des Sicherheitsdiskurses

In den letzten Jahren wurde die strafprozessualen und polizeirechtlichen Eingriffsbefugnisse immer stärker ausgebaut: Rasterfahndung, "IMSI-Catcher", Telefon- und Videoüberwachung, Aufweichung des Trennungsgebotes von Polizei- und Gehmeindiensten - der große Lauschangriff ist lediglich einer kleiner Teil einer ganzen Palette von massiven Eingriffsbefugnissen in die Informationsfreiheit der BürgerInnen.44 Eines scheinen die BefürworterInnen der "Inneren Sicherheit" jedoch beim Schutz von Freiheit und Rechtsstaat zu übersehen: Dass sie auf dem besten Weg sind, unsere Freiheit "zu Tode zu schützen".45 "Es ist ein Widerspruch in sich selbst, wenn man zum Schutz der Verfassung unveräußerliche Grundsätze der Verfassung preisgibt."46 Kritische BeobachterInnen dieser Entwicklung sprechen bereits von der "vergessenen Freiheit"47 und warnen vor der "Zerbrechlichkeit des rechtsstaatlichen Strafrechts".48 Deutschland drohe in eine "totalitäre Gesellschaft" abzugleiten.49
Der Marburger Staatsrechtler Wolfgang Abendroth wies bereits Anfang der 1980er Jahre auf die Bedrohung der Verfassung durch den Ausbau des Sicherheitsstaates hin. Auf die sich selbst gestellte Frage: "Wer schützt die Verfassung ?" antwortete er: "Staatliche Institutionen können es nur in seltenen Fällen. Meist werden die Hilfsmittel der Staatsgewalt, die sich selbst für die Verfassungsschutzorgane halten, umgekehrt zu potentiellen Quellen der Gefährdung des Verfassungsrechts, besonders dann, wenn sie dieses Problem nicht erkennen und auch also nicht erwägen." Und folgert: "Sie bedürfen der ständigen demokratischen Kontrolle."50 Auch heute ist es weiterhin die vornehmste Aufgabe kritischer BürgerrechtlerInnen und JuristInnen, dem starken Staat auf die Finger zu schauen; für den großen Lauschangriff heißt dies konkret, die Abschaffung dieses freiheitsgefährdenden Rechtsinstitutes einzufordern.

Tobias Mushoff lebt in Bielefeld und freut sich über Diskussion und Anregungen.

Anmerkungen

1 Zitiert nach: http://www.BVerfG.de. Hierzu bereits: Lieber, Tobias, Forum Recht (FoR) 2004, 68.
2 Pressmitteilung des Bundesjustizministeriums v. 3.3.2004.
3 So auch Tolmein, Oliver: Hört uns jemand ?, Jungle World 10.3.04.
4 Bundesgesetzblatt (BGBl.) 1998 I, 845.
5 BGBl. 1998 I, 610.
6 Krit. zum Phänomen OK: Albrecht, Peter-Alexis: Kriminologie (2002), 377 ff; Luczak, Anna: Mafiakraken, FoR 2002, 44 ff.
7 BVerfG, a.a.O., Absatz Nr. (Abs.Nr.) 212 f und 209 ff.
8 BVerfG, a.a.O., Abs.Nr. 104.
9 BVerfG, a.a.O., Abs.Nr. 120.
10 BVerfG, a.a.O., Abs.Nr. 114.
11 BVerfG, a.a.O., Abs.Nr. 118, 122.
12 BVerfG, a.a.O., Abs.Nr. 123.
13 BVerfG, a.a.O., Abs.Nr. 134.
14 BVerfG, a.a.O., Abs.Nr. 135.
15 BVerfG, a.a.O., Abs.Nr. 139 f.
16 BVerfG, a.a.O., Abs.Nr. 135.
17 Vgl. Beulke, Werner: Strafprozessrecht (2001), Rn. 482.
18 Zu sonstigen Fragen: Stellungnahme des Unabhängigen Landeszentrum für Datenschutz Schleswig-Holstein, http://www.datenschutzzentrum.de.
19 BVerfG, a.a.O., Abs.Nr. 169.
20 BVerfG, a.a.O., Abs.Nr. 180.
21 BVerfG, a.a.O., Abs.Nr. 197.
22 Vgl. Hirsch, a.a.O.; Karlsruher Kommentar zur StPO/Nack, Armin (2003), § 100c Rn.42.
23 Dittrich, Joachim: Der "Große Lauschangriff" - diesseits und jenseits der Verfassung, Neue Zeitschrift für Strafrecht (NStZ) 1998, 336 (337); so jetzt auch BVerfG, a.a.O., Abs.Nr. 229.
24 BVerfG, a.a.O., Abs.Nr. 238, 241.
25 Grundsätzlich gegen den Lauschangriff: Bäumler, Helmut, "tagesschau" vom 3.3.2004; Hirsch, Burkhard: Über Wanzen - Bemerkungen zum "großen Lauschangriff", in: Humanistische Union (Hrsg.), Innere Sicherheit als Gefahr (2003), 195 ff; Leutheusser-Schnarrenberger, a.a.O., 87 ff; Mozek, Martin: Der "große Lauschangriff (2001), 197; Roggan, Fredrik: Auf legalem Weg in einen Polizeistaat, 103 f.; Roxin, Claus, Hat das Strafrecht eine Zukunft ?, GS für Zipf (1999), 135 (139).
26 Hirsch, a.a.O., 196; Leutheusser-Schnarrenberger, a.a.O., 88; Roggan, a.a.O., 100.
27 Leutheusser-Schnarrenberger, a.a.O., 88; Mozek, a.a.O., 203.
28 So: Bechthold, Ilse, Der Große Lauschangriff: Ende der Privatsphäre, in: Müller-Heidelberg u.a. (Hrsg.): Grundrechtereport 1998, 153.
29 Gössner, Rolf: Big Brother & Co (2000), 61; Mozek, a.a.O., 127 ff (131).
30 Leutheusser-Schnarrenberger a.a.O., 91.
31 BVerfG, a.a.O., Abs.Nr. 258.
32 BVerfG Sondervotum, a.a.O., Abs.Nr. 358.
33 Frankfurter Rundschau (FR) v. 5.3.04.
34 BVerfG, a.a.O., Abs-Nr. 149.
35 Zu den Landesgesetzen: Mozek, a.a.O., 10 ff.
36 Roxin, a.a.O., 139.
37 Hierzu Murmann, Uwe, Über den Zweck des Strafprozesses, Goldtammer´s Archiv 2004, 65 (73 ff.).
38 Leutheusser-Schnarrenberger, a.a.O., 91.
39 Unbedenklich laut: BVerfG, a.a.O. Abs.Nr. 245; kritisch: Hirsch a.a.O., 199; Mozek a.a.O., 205.
40 So auch: Frankfurter Arbeitskreis Strafrecht, Der Strafverteidiger (StV)1994, 693 (694).
41 Frankfurter Arbeitskreis, StV 1994, 693 (694).
42 BVerfG, a.a.O., Abs.Nr. 256.
43 BVerfG, a.a.O., Abs.Nr. 261, 265.
44 Hierzu Gössner, ebd.; Prantl, Heribert: Verdächtig (2002).
45 Albrecht, Peter-Alexis, Freiheit - zu Tode geschützt, in: Humanistische Union a.a.O., 48 ff.
46 BVerfGE 30, 33 (46) Minderheitsvotum.
47 Albrecht, Peter-Alexis, Die vergessene Freiheit (2003). 48 Naucke, Wolfgang, Die Zerbrechlichkeit des rechtsstaatlichen Strafrechts, Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 1990, 244 ff.
49 Simitis, Spiros, FR v. 26.3.04.
50 Abendroth, Wolfgang: Wer schützt die Verfassung ?, in: Kutscha, Martin/Paech, Norman (Hrsg.): Im Staat der "Inneren Sicherheit" (1981), 167 (172).