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Flüchtlinge müssen draußen bleiben   Heft 4/2004
unmenschlich -
Migrationspolitik

Seite 114
Europäische Union beschneidet Asylrecht  
 

Als die "Cap Anamur" Mitte Juli 2004 im Hafen von Porto Empedocle festmachte, stand für die italienischen Behörden bereits fest: Kein einziger der an Bord befindlichen 37 afrikanischen Flüchtlinge stammte aus der Krisenregion Darfur. Was die Männer anderweitig bewogen haben mochte, das Mittelmeer per Schlauchboot zu überqueren, war offenbar gleichgültig: Nach kurzer Internierung hinter stacheldrahtbewehrten Lagermauern schob man sie in verschiedene afrikanische Staaten ab. Auch der Kapitän des Schiffes sowie der damalige "Cap Anamur"-Leiter Elias Bierdel wanderten hinter Gitter - Vorwurf: "Begünstigung illegaler Einreise".
Die öffentliche Debatte konzentrierte sich in den nachfolgenden Tagen bemerkenswert schnell und nahezu ausschließlich auf die Frage, ob und inwieweit die "Anamur"-Crew den Vorfall inszeniert habe. Bei aller berechtigten Skepsis gegenüber einer - auch wohlmeinenden - Instrumentalisierung von Flüchtlingsschicksalen: Weit bedenklicher ist die Härte, mit der die italienischen Behörden die Herausforderung annahmen, um klarzumachen, wohin ihrer Ansicht nach die Flüchtlinge gehörten. Nämlich ans südliche Ufer des Mittelmeers. Der Fall Cap Anamur und die nachfolgende europaweite politische Diskussion drohen damit zu einem Menetekel für die künftige Haltung der erweiterten Union gegenüber denen zu werden, die vor Hunger, Armut und politischer Verfolgung Schutz suchen.

Vergemeinschaftung der Asylpolitik

Erinnern wir uns: Im Jahre 1999 hatten die damals 15 EU-Staaten vereinbart, in den EG-Vertrag einen neuen Titel zu Visa, Asyl und Einwanderung aufzunehmen. Binnen fünf Jahren sollten auf Grundlage des neu geschaffenen Art. 63 EG-Vertrag Rechtsakte zur Vereinheitlichung des Flüchtlingsschutzes in der Gemeinschaft erlassen werden. Die Räte von Tampere und Nizza konkretisierten den Zeit- und Aufgabenplan.1
Erste Vorschläge für Richtlinien und Verordnungen, die die Kommission daraufhin vorlegte, weckten bei Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen vorsichtigen Optimismus:2 Schien es doch, als sei Europa ernsthaft bereit, seine Verantwortung aus der Genfer Flüchtlingskonvention (GK) und der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte (EMRK) wahrzunehmen.
Umso ernüchternder das Ergebnis der nachfolgenden Verhandlungen im Rat: V.a. der deutsche Innenminister setzte sich mit Nachdruck dafür ein, eine Lockerung der restriktiven nationalen Asylregelungen durch die europäische "Hintertür" zu vermeiden.3 Und das mit traurigem Erfolg.
Ende April 2004 nahm der Rat von Luxemburg die Anerkennungsrichtlinie4 (AnerkRL) an, die regelt, nach welchen Kriterien Flüchtlinge als schutzwürdig eingestuft werden sollen. Zugleich wurde eine politische Einigung über die Asylverfahrensrichtlinie5 (AsylVfRL) erzielt, die Mindestanforderungen an ein faires Verfahren festlegen soll. Beide zusammen bilden das Herzstück der künftigen europäischen Asylpolitik und sollen daher im folgenden in einem Überblick dargestellt werden. Dieser kann nur vorläufig sein, da die Asylverfahrensrichtlinie im Laufe der Verhandlungen so stark überarbeitet wurde, dass sie dem Parlament zur erneuten Stellungnahme vorgelegt werden soll. Eine endgültige Verabschiedung ist für Ende 2004 angestrebt. Nach Inkrafttreten hätten die EU-Staaten voraussichtlich zwei Jahre Zeit, die Regelungen in nationales Recht umzusetzen.
Die Richtlinien werden ergänzt durch die Verordnungen über den zuständigen Asylstaat6 und über die europäische Fingerabdruckdatei "Eurodac"7 - beide sollen verhindern, dass Flüchtlinge Asylanträge in mehreren EU-Staaten stellen - sowie die Richtlinien zu Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern8 und zur Gewährung vorübergehenden Schutzes9.

Die Asylverfahrensrichtlinie: "Sichere" Drittstaaten?

Auf heftige Kritik bei Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen stieß v.a., dass in Art. 27 AsylVfRL Vorschriften zu "sicheren Drittstaaten" aufgenommen wurden. Danach sollen Asylanträge allenfalls einer eingeschränkten Prüfung unterzogen werden, wenn die Betroffenen nachweislich über ein solches Land eingereist sind. Dies weckt bittere Erinnerungen an die deutsche Asylrechtsreform von 1993: Die Einführung der Drittstaatenregelung in Art. 16a Grundgesetz bildete damals den zentralen Ansatzpunkt zur faktischen Aushöhlung des Grundrechts auf Asyl.
Dass fast ein ganzer Kontinent mit 25 Staaten - und einer der wohlhabendsten und politisch stabilsten dazu - geschlossen ähnliche Vorschriften übernimmt bzw. weiterführt und sich somit für das weltweite Flüchtlingselend nicht zuständig erklärt, stimmt bedenklich. Insbesondere gegenüber den zehn neuen EU-Staaten werden hier eindeutig falsche politische Anreize gesetzt: Statt ihnen zu helfen, ein tragfähiges Schutzsystem für politisch Verfolgte aufzubauen, liefert das "alte" Europa die Anleitung, wie man sich Flüchtlinge vom Hals hält.10 Allenfalls punktuell dürften bestehende Drittstaatenregelungen der osteuropäischen Beitrittsländer nach Inkrafttreten der Richtlinie anpassungsbedürftig sein.11
Allerdings weist die Drittstaatenregelung des Art. 27 AsylVfRL einige bemerkenswerte Unterschiede zur deutschen Rechtslage auf. In der BRD gilt das Prinzip der "normativen Vergewisserung",12 nach dem das Parlament entscheidet, welche Staaten als "sicher" anzusehen sind. Diese Festlegung ist in § 26a Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) i.V.m. dessen Anlage I getroffen; Behörden und Gerichte sind daran gebunden.
Die Anwendung des Konzepts des "sicheren Drittstaats" nach Art. 27 I AsylVfRL ist daran gebunden, dass der betreffende Staat Mindeststandards in bezug auf AsylbewerberInnen einhält. So darf es dort für Flüchtlinge keine Gefährdung von Leben und Freiheit aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Ansichten geben, der Grundsatz der Nicht-Zurückweisung nach der GK muss gewährleistet sein, die Rückführung bei drohender Folter und grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung wird ausgeschlossen, und Asylsuchende müssen die Möglichkeit haben, in dem Drittstaat Schutz gemäß der GK zu erlangen.
In diesem Katalog liegt gegenüber früheren Verhandlungsstadien ein Rückschritt: Der nunmehr gestrichene Art. 28 AsylVfRL sah noch vor, dass ein Drittstaat, um als "sicher" zu gelten, grundlegende völkerrechtlich verankerte Normen zum Schutz der Menschenrechte beachten sollte, neben der GK beispielsweise die EMRK sowie das Übereinkommen gegen Folter oder entsprechende Standards.13
Gemäß Art. 27 II AsylVfRL muss ferner im Einzelfall geprüft werden, ob der betreffende Drittstaat für die Betroffenen tatsächlich sicher ist. Flüchtlinge müssen die Möglichkeit haben, die Anwendung des Konzepts des sicheren Drittstaats anzufechten, sofern ihnen im fraglichen Staat gravierende Menschenrechtsverletzungen wie Folter oder grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung drohen würden. Zudem wird eine Verbindung zwischen dem Flüchtling und dem betreffenden Drittstaat verlangt, die es als sinnvoll erscheinen lässt, dass diese Person sich in diesen Staat begibt.
Die Bestimmung von "sicheren Drittstaaten" kann unter Einhaltung der genannten Voraussetzungen sowohl fallbasiert als auch - wie in der BRD - abstrakt erfolgen.
Art. 27 IV AsylVfRL schließlich schreibt den Mitgliedsstaaten vor, auch Asylsuchende aus "sicheren Drittstaaten" zum Verfahren zuzulassen, wenn der Drittstaat diesen die (Wieder-)Einreise verweigert.
Diese Prüfungsmaßstäbe gehen in Teilen über die derzeitige deutsche Rechtslage hinaus. Hier bestünde nach Inkrafttreten der Richtlinie Änderungsbedarf.14 Der konservative Konstanzer Ausländerrechtler Kay Hailbronner kritisiert die Vorschläge der Kommission in diesem Punkt als "wenig durchdacht" und spricht sich statt dessen dafür aus, auch den neuen EU-Mitgliedsstaaten die Einführung einer Drittstaatenregelung nach deutschem Vorbild, sprich ohne individuelle Prüfung, zu ermöglichen.15
Bei den Rechtsfolgen der Einreise über einen sicheren Drittstaat bleiben Gestaltungsspielräume. Gem. Art. 25 II c) AsylVfRL kann Unzulässigkeit angenommen werden; dann würde gem. Art. 25 I AsylVfRL eine Prüfung vollständig unterbleiben. Hier hat sich offenbar Berlin durchgesetzt, um die Rechtsfolge des § 26a AsylVfG - Ablehnung ohne inhaltliche Prüfung - beibehalten zu können. Möglich ist allerdings auch, den Antrag als unbegründet zu betrachten; dann findet nach Art. 23 IV c) AsylVfRL nur noch ein beschleunigtes Verfahren statt. Zu beachten ist dabei, dass die Einstufung eines Antrags als unbegründet nur nach Prüfung durch die Asylbehörde erfolgen kann (Art. 29 I AsylVfRL).
Es bleibt abzuwarten, ob sich aus diesen Bestimmungen in der künftigen Behörden- und Gerichtspraxis, feingesteuert durch den Europäischen Gerichtshof, ein besserer Flüchtlingsschutz ergeben wird. Nicht von der Hand zu weisen sind jedenfalls Befürchtungen von Flüchtlingsorganisationen, Drittstaatenregelungen auf europäischer Ebene könnten zu Kettenabschiebungen (refoulements) führen sowie dazu, dass Flüchtlinge in Ländern ohne zureichendes Asylverfahren ohne Entscheidung über ihr Schicksal hängen bleiben (in-orbit-situation).16
Dies umso mehr, als die Riege potentieller zukünftiger "sicherer" Drittstaaten an Europas Ostgrenze Böses ahnen lässt: Weißrussland und die Ukraine gelten nicht eben als Vorbild-Demokratien, in Russland etabliert sich von Jahr zu Jahr mehr ein autoritäres System, und auch aus dem EU-Kandidatenland Rumänien liegen Berichte über Menschenrechtsverletzungen vor.17

Geh hin, wo du herkommst: "Sichere Herkunftsstaaten"

Ähnlichen Bedenken begegnet das in Art. 30, 30a AsylVfRL i.V.m. Anhang II festgelegte Konzept des sicheren Herkunftsstaats. Die entsprechenden Bestimmungen, im Laufe der Verhandlungen mehrfach überarbeitet, sehen nunmehr eine gemeinsame "Minimalliste" sicherer Herkunftsstaaten vor, zu denen auch die Kandidatenländer Bulgarien und - trotz der dortigen Probleme im Umgang insb. mit der Roma-Minderheit - Rumänien gehören sollen. Daneben eröffnet Art. 30a AsylVfRL den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, weiter gehende nationale Listen aufzustellen. Gebunden sind sie dabei nicht mehr - wie im Kommissionsentwurf vorgesehen - daran, dass das betreffende Land grundlegende Menschenrechtsnormen beachtet und die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie wahrt, was u.a. das Recht zur Gründung von Gewerkschaften beinhalten sollte.18 Als "sicher" soll ein Herkunftsstaat gemäß dem neuen Anhang II bereits gelten, wenn sich "nachweisen lässt, dass dort generell und durchgängig weder Verfolgung noch Folter oder unmenschliche Behandlung zu befürchten sind". Die Wahrung der Menschenrechte gemäß EMRK ist bei der Entscheidung zwar zu berücksichtigen, aber nicht mehr Hauptkriterium.
Zudem können ausdrücklich auch Teile des betreffenden Staates für sicher erklärt werden - die "inländische Fluchtalternative" der deutschen Verwaltungsrechtsprechung lässt grüßen. Auch bei "sicheren Herkunftsstaaten" soll zwar im Einzelfall geprüft werden, ob das Land in bezug auf den Flüchtling tatsächlich sicher ist. Die Beweislast hierfür weist die Richtlinie aber ausdrücklich den Asylsuchenden zu: Sie müssen "schwer wiegende Gründe" vortragen, warum ihr Herkunftsland ihnen unzureichenden Schutz bietet.
Der Antrag eines Flüchtlings aus einem "sicheren Herkunftsland" wird gem. Art. 30b II AsylVfRL als unbegründet angesehen und somit nur noch im beschleunigten Verfahren geprüft (Art. 23 IV c) AsylVfRL).

Rechtsschutz: Ablehnung im Schnellverfahren?

Gemäß Art. 38 AsylVfRL steht AsylbewerberInnen das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf vor einem Gericht zu - mit Betonung auf "einem", ein mehrinstanzliches Verfahren ist nicht vorgesehen. Rechtsmittel können gegen die Entscheidung über den Asylantrag eingelegt werden, aber auch gegen dessen Zurückweisung z. B. wegen Einreise über "sichere" Drittstaaten.
Skandalös ist, dass den Mitgliedsstaaten generell überlassen bleibt, zu regeln, ob Asylsuchende das Ende des Rechtsmittelverfahrens im Lande abwarten dürfen oder vorher abgeschoben werden können (Art. 38 III a) AsylVfRL). Dies widerspricht angesichts zahlreicher vor Gericht kassierter Entscheidungen der Asylbehörden der völkerrechtlichen Pflicht zu effektivem Flüchtlingsschutz. Der Kommissionsentwurf hatte noch ein grundsätzliches Bleiberecht - mit Ausnahmen beim beschleunigten Verfahren - vorgesehen.19
Die zahlreichen Möglichkeiten, einen Asylantrag in einem solchen beschleunigten Verfahren zu bearbeiten, wurden scharf kritisiert.20 Art. 23 IV AsylVfRL nennt gut 20 Fallkonstellationen, in denen den Mitgliedsstaaten Flüchtlingen ein reguläres Asylverfahren verweigern können. Die Voraussetzungen dafür sind teils extrem dehnbar und lassen einen exzessiven Gebrauch befürchten: So soll schon die verspätete Antragstellung "ohne ersichtlichen Grund" (Art. 23 IV i) AsylVfRL) oder die Weigerung, sich Fingerabdrücke abnehmen zu lassen (Art. 23 IV n) AsylVfRL), die Entscheidung im beschleunigten Verfahren erlauben. Aber auch die Einreise über einen "sicheren Drittstaat" oder ein "sicherer Herkunftsstaat" können ins beschleunigte Verfahren führen. Aussagen zur Ausgestaltung des beschleunigten Verfahrens finden sich in der Richtlinie keine mehr. Der ursprüngliche Entwurf hatte z.B. eine Verfahrenshöchstdauer von drei Monaten festgelegt - mit der interessanten Rechtsfolge, dass bei Überschreiten der Frist Anspruch auf ein reguläres Verfahren entstand.21
Es bleiben wenige positive Punkte: So schreibt der Richtlinienentwurf für Minderjährige ein Alter von unter 18 Jahren fest (Art. 2 lit. h AsylVfRL) - das deutsche Konstrukt der "Asylmündigkeit" mit 16, das es erlaubt, Jugendliche im Asylverfahren wie Erwachsene zu behandeln, wird daran hoffentlich scheitern. Zudem soll unbegleiteten Minderjährigen im Verfahren einE VertreterIn bestellt werden (Art. 15 AsylVfRL).
Nach Art. 13 Abs. 2 AsylVfRL steht dem Flüchtling bei einem ablehnenden Bescheid eine kostenlose Rechtsberatung zu. Außerdem soll der UNHCR in jedem Stadium des Verfahrens Zugang zu Betroffenen und Möglichkeit zur Stellungnahme haben (Art. 21 AsylVfRL). Diese Bestimmungen könnten die Stellung von Flüchtlingen im Verfahren erheblich verbessern - abzuwarten bleibt aber ihre konkrete Umsetzung in nationales Recht. Denn denkbar ist nach dem Wortlaut auch, dass der Rechtsrat statt von AnwältInnen oder unabhängigen Beratungsstellen von behördlichen Stellen erteilt wird. Und ob der UNHCR Zugang zum Flüchtling bekommt oder umgekehrt der Flüchtling einen Anspruch, vom UNHCR gehört zu werden, ist ein gravierender Unterschied.

Die EU-Anerkennungsrichtlinie

Die EU-Anerkennungsrichtlinie unterscheidet zwei Schutzniveaus: Flüchtlingsstatus und subsidiären Schutz. Die Definition für Flüchtlinge in Art. 2 c) AnerkRL lehnt sich fast wortgleich an die in Art. 1 GK an: Flüchtling ist demnach, wer sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen bestimmter persönlicher Merkmale (Rasse, Religion, Nationalität, politische Überzeugung, Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe) außerhalb seines Heimatlands aufhält.
Subsidiären Schutz kann erlangen, auf wen die genannte Definition nicht zutrifft, wenn sie/er sich aus begründeter Furcht vor Todesstrafe, Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder individueller Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts auf der Flucht befindet (Art. 2 e) i.V.m. Art. 15 AnerkRL). Die im ursprünglichen Kommissions-Entwurf enthaltene Bedrohung durch systematische oder allgemeine Menschenrechtsverletzungen22 wird nicht mehr erwähnt.
Einschränkungen enthält die Richtlinie insoweit, als auch sie das Konzept der inländischen Fluchtalternative anerkennt (Art. 8 AnerkRL) und Nachfluchtgründe nur bedingt akzeptiert (Art. 5 i. V. m. Art. 4 III d) AnerkRL). Zudem muss der Flüchtling seine Fluchtgründe selbst beweisen - und dies "so schnell wie möglich", einschließlich Nachweis des Reisewegs (Art. 4 I AnerkRL). Auch eine Reihe von Ausschlussgründen sind in Anlehnung an Art. 1 F GK aufgenommen: Keinen Flüchtlingsschutz erhält, wer unter dem Schutz des UNHCR oder eines anderen Staates steht, wer sich selbst schwer wiegende Menschenrechtsverletzungen hat zuschulden kommen lassen oder wer schwere nichtpolitische Straftaten begangen hat; auch politisch motivierte Taten können als nichtpolitisch eingestuft werden, wenn sie durch "grausame Handlungen" begangen wurden (Art. 12 AnerkRL). Ähnliche Beschränkungen gelten für den subsidiären Schutz (Art. 17 AnerkRL).
An die verschiedenen Schutzniveaus knüpft die Richtlinie unterschiedliche Rechte. Flüchtlinge i. S. v. Art. 2 c) AnerkRL erhalten einen verlängerbaren Aufenthaltstitel von mindestens dreijähriger Dauer (Art. 24 I AnerkRL).23 Weitere Rechte orientieren sich an der GK und umfassen u.a. den uneingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt, zu sozialen, medizinischen und integrativen Leistungen (Art. 26 ff. AnerkRL).
Personen mit subsidiärem Schutzstatus sollen einen mindestens einjährigen Aufenthaltstitel erhalten (Art. 24 II AnerkRL); i.ü. genießen sie gleiche Rechte wie Flüchtlinge. Zugang zum Arbeitsmarkt wird ihnen jedoch nur nach einer Vorrangprüfung zugunsten von InländerInnen gewährt (Art. 26 III 2 AnerkRL). Der ursprünglich mit einjähriger Verzögerung vorgesehene Zugang zu Integrationsleistungen wird nunmehr nur noch eingeräumt, "wenn die Mitgliedstaaten es für sinnvoll erachten" (Art. 33 II AnerkRL).

Anerkennung geschlechtsspezifischer und nichtstaatlicher Verfolgung

Hervorstechend im Vergleich zur (noch) geltenden deutschen Rechtslage ist, dass die AnerkRL grundsätzlich auch geschlechts- bzw. kinderspezifische sowie nichtstaatliche Verfolgung als Schutzgrund anerkennt. Diese Sicht entspricht dem Sinn der GK und der von vielen Staaten geübten Praxis; in Deutschland stellte sie bislang ein Politikum dar und bildete einen der Gründe für den verzögerten Erlas der Richtlinie: Offenbar wollte der Innenminister im innenpolitischen Poker mit der Opposition um das Zuwanderungsgesetz nicht auf Verhandlungsmasse verzichten.24
Die Anerkennung nichtstaatlicher Verfolgung ist explizit geregelt (Art. 6 c) AnerkRL) und setzt voraus, dass der Staat nicht willens oder in der Lage ist, Schutz vor der Verfolgung zu gewähren. Hingegen wird geschlechtsspezifische Verfolgung nicht als eigenständiger Fluchtgrund, sondern lediglich als Merkmal für die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe anerkannt (Art. 10 I d) AnerkRL). Da eine solche Gruppe sich grundsätzlich noch über weitere Merkmale definieren muss,25 bleibt offen, inwieweit die Regelung z.B. Opfern von Genitalverstümmelung Schutz bieten können wird. Der neue deutsche § 60 I AufenthG geht hier weiter und gewährt Abschiebeschutz allein wegen geschlechtsbezogener Verfolgung.

Europa: In Zukunft lieber ohne Flüchtlinge?

Eine Bewertung des derzeitigen Zwischenstandes der europäischen Rechtsharmonisierung in der Asylpolitik fällt gemischt aus: Die deutsche Drittstaatenregelung wird - so ist zu hoffen - in ihrer bisherigen rigiden Form keinen Bestand haben. Allerdings ist hier die endgültige Fassung der Verfahrensrichtlinie abzuwarten. Zudem wurde die Einigung von Luxemburg mit weit reichenden Bestandsgarantien für nationale Regelungen erkauft.26
Die ausdrückliche Anerkennung nichtstaatlicher und geschlechts- sowie kinderspezifischer Verfolgung als Asylgründe ist zu begrüßen und sollte in der BRD zumindest zu einer Angleichung an internationale Standards führen.
Ansonsten ist wenig Positives zu erkennen: Das europäische Asylrecht, wie es in den Entwürfen aufscheint, bietet zahlreiche Ansatzpunkte, um es zu einem Asylverhinderungsrecht zu machen. Hinzu kommt der erklärte Wille der Politik, Schutzsuchende vor Europas Toren zu stoppen, etwa durch den von Tony Blair entworfenen und von Otto Schily seit dem "Cap Anamur"-Vorfall beharrlich weiter verfolgten Vorschlag, Flüchtlinge in Lagern in Nordafrika zu internieren, um sie nach kurzer Prüfung ihrer Fluchtgründe in ihre Heimatregionen zurückzuführen.
Die Abschottung Europas geht weiter.

Heiko Habbe ist Referendar in Schleswig-Holstein und in einem ehrenamtlichen Projekt in der Beratung von Flüchtlingen tätig.

Anmerkungen:

1 Zur Vorgeschichte: von Alemann, FoR 2001, 112, 112f.
2 Vgl. Pro Asyl, Europäische Asylpolitik, S. 2; von Alemann, a.a.O., 114.
3 Vgl. Pro Asyl, Der europäische Kontinent ohne Flüchtlinge?, 3 f.
4 Ratsdokument 8043/04, über www.europa.eu.int.
5 Ratsdokument 0771/04, über www.europa.eu.int.
6 VO (EG) Nr. 343/2003 v. 18.2.2003, ABl. EG Nr. L 50, 1 ff.
7 VO (EG) Nr. 2725/2000 v. 11.12.200, ABl. EG Nr. L 316, 1 ff.
8 RL 2003/9/EG v. 27.1.2003, ABl. EG Nr. L 31, 18 ff.
9 RL 2001/55/EG v. 20.7.2001, ABl. EG Nr. L 212, 12 ff.
10 Vgl. amnesty international, Gemeinsame Stellungnahme 2004, 5.
11 Übersicht bei Schröder, Osterweiterung der EU und sichere Drittländer in Osteuropa, in: Der Schlepper 28/04, über www.frsh.de.
12 Hailbronner, Auswirkungen der Europäisierung des Asyl- und Flüchtlingsrechts auf das dt. Recht, in: ZAR 2003, 299, 302.
13 Vgl.d. geänd. Kommissionsvorschlag, KOM(2002) 326/2 endg., ABl. EG Nr. C 291, 143 ff.
14 So auch Renner, ZAR 2003, 88, 90.
15 Hailbronner, a.a.O., 303.
16 European Council on Refugees and Exiles (ECRE) u.a.: Call for withdrawal of the Asylum Procedures Directive, 22.3.2004, 2 f, über www.ecre.org.
17 Vgl. amnesty international u. a. (Hg.): Gemeinsame Stellungnahme zum Entwurf der EU-Asylverfahrensrichtlinie (2004), 4, über www.europa-von-unten.org.
18 Anhang II zu KOM (2002) 326/2 endg. (Fn. 13).
19 Art. 40 RL-Entwurf (Fn. 13).
20 Pro Asyl, Der europäische Kontinent ohne Flüchtlinge?, 2.
21 Art. 24 III RL-Entwurf (Fn. 13).
22 Art. 15 c) RL-Entwurf - KOM 2001/510 endg., ABl. EG Nr. C 51 E, 325 ff.
23 Der RL-Vorschlag aus dem Jahr 2002 sah fünf Jahre vor.
24 Vgl. Pro Asyl, Europäische Asylpolitik, 3 f.
25 Lehnguth, ZAR 2003, 305, 306 f.
26 Migration und Bevölkerung, 4/2004, 1, hrsg. vom Netzwerk Migration in Europa, über www.network-migration.org.

Literatur:

von Alemann, Florian: Die Festung wird umgebaut, in: Forum Recht 2001, 112-115.
Lehnguth, Gerold: Erläuterungen zum Vorschlag einer EU-"Anerkennungsrichtlinie", in: Zeitschrift für Ausländerrecht und -politik (ZAR) 2003, 305-308.
Pro Asyl (Hg.): Europäische Asylpolitik - Minimale Standards, maximale Abschottung (2004), über www.proasyl.de.
Pro Asyl (Hg.): Der europäische Kontinent ohne Flüchtlinge? - Zum aktuellen Stand der Asylpolitik in der Europäischen Union (2003), über www.proasyl.de.
Renner, Günter: Europäische Mindestnormen für Asylverfahren, in: ZAR 2003, 88-96.