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Tasten nach der Würde   Heft 1/2005
Genethik -
Welches Wissen verträgt der Mensch?

Seite 11
Die Staatsrechts-Community in der bioethischen Debatte  
 

Schon seit geraumer Zeit wird Bioethik aus verfassungsrechtlicher Sicht diskutiert. Öffentlichkeitswirksam wurde die Debatte im Herbst 2003 durch einen Essay des ehemaligen Bundesverfassungsrichters Ernst-Wolfgang Böckenförde in der FAZ,1 den er mit "Die Würde des Menschen war unantastbar" überschrieb. Seitdem wird in deutschen Feuilletons heftig über die Relativierung der Menschenwürde diskutiert, seitdem ist die Gentechnik-Debatte um ihre verfassungsrechtliche Dimension reicher. Böckenfördes Mahnung traf damals auf fruchtbaren Boden, wurden doch gerade Stammzellenforschung, therapeutisches Klonen und Präimplantationsdiagnostik (PID) thematisiert - das Stammzellengesetz war im Vorjahr verabschiedet worden -, und von vielen als bedrohliche Beispiele einer Relativierung der Menschenwürde wahrgenommen.
Böckenfördes Thema ist die von Matthias Herdegen vorgenommene Neukommentierung des Grundsatzes der Unantastbarkeit der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz [GG]) im Kommentar von Maunz/Dürig, die er als "Epochenwechsel" bezeichnet. Ihm zufolge ist in der verfassungsrechtlichen Literatur ein "Wechsel im Verständnis der Würde-Garantie" zu beobachten "vom tragenden Fundament der neu errichteten staatlichen Ordnung, das deren Identität ausweist, zu einer Verfassungsnorm auf gleicher Ebene neben anderen, die rein staatsrechtlich, das heißt aus sich heraus positiv-rechtlich zu interpretieren ist."
Die für die "Verfassungsväter" so evidente, aus der Erfahrung des Nationalsozialismus geborene "Notwendigkeit eines bleibenden, unabdingbaren Halte- und Orientierungspunktes für die Ordnung des Zusammenlebens der Menschen" habe für die neue Generation von Staatsrechtlern, für die das "Dritte Reich" nur noch Geschichte sei, offensichtlich keine Bedeutung mehr. Für die Zukunft biete letztlich auch die Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG keinen Schutz gegen eine schleichende Neuinterpretation der Verfassung. Mit dieser Neukommentierung, so endet Böckenförde, sei ein Kernstück herausgebrochen aus dem ursprünglichen "Maunz-Dürig", so dass dessen verstorbener Mitbegründer Günter Dürig darum bitten würde, "seinen Namen hinfort aus dem Titel des Gesamt-Kommentars herauszunehmen."

Menschenwürde als abstrakte Seinsgegebenheit

Die Unterschiede zwischen der Kommentierung Dürigs von 1958 und derjenigen Herdegens von 2003 sind in der Tat erheblich. Dürig versteht die Menschenwürde als naturrechtlichen Begriff, der im GG positiviert werde. Die Würdegarantie ist für ihn "oberstes Konstitutionsprinzip allen objektiven Rechts", das die Basis für ein ganzes, in den folgenden Grundrechten zugunsten des Einzelnen konkretisiertes, "Wert- und Anspruchssystem"2 bildet, aber eben kein selbständiges Grundrecht ist. Die Menschenwürde sei - entsprechend der so genannten "Mitgifttheorie" - eine dem Menschen "Kraft seines Geistes, der ihn abhebt von der unpersönlichen Natur" abstrakt zukommende Seinsgegebenheit, auf deren Konkretisierung beim konkreten Menschen es nicht ankomme.3 Selbstverständlich sei deshalb - ebenso wie der "Geisteskranke" - auch der "nasciturus" vom Schutz der Menschenwürde (in ihrer objektiven Dimension) umfasst.
Für Dürig folgt aus der Unantastbarkeit der Menschenwürde unter anderem das absolute Verbot von Praktiken wie Folter oder "Menschenzucht". Eine (damals hypothetische) Legalisierung der Abtreibung wäre ihm zufolge "bereits nach Art. 1 Abs. 1 Verfassungsunrecht",4 auch Angriffe Privater auf das "ungeborene Leben" müsse der Staat abwehren. Das Vorverständnis Dürigs wird bei seiner Begründung der Würdewidrigkeit der heterologen Insemination besonders sichtbar: Naturwidrigkeit werde mit ihr zum System, überhaupt könne "der Samenproduzent, dem es gleichgültig ist, wem das Sperma zur Verfügung gestellt wird [...] nur schaudernd gedacht werden"5. Dürigs Position ist dogmatisch scharf und basiert klar erkennbar auf einer christlich motivierten Reaktion auf die deutschen Verbrechen aus der NS-Zeit.

Entwicklungsabhängiger Würdeschutz

Herdegen hingegen will die Menschenwürde vom positiven Recht her bestimmen und stuft sie verfassungsdogmatisch quasi exklusiv als subjektiv-rechtlichen Anspruch ein. Nicht einmal negativ, also von den Verletzungshandlungen her, lasse sich der Inhalt der Menschenwürde klar bestimmen. Insbesondere die auf Kant zurückgehende "Objektformel" (wonach der Mensch nie zum Objekt staatlichen Handelns werden dürfe), die das BVerfG verwendet, sei nicht immer operabel. Deswegen will Herdegen zwischen einem evidenten "Würdekern" und einem "peripheren abwägungsoffenen Schutzbereich" abschichten.6
Vordergründig hält er zwar an der "Abwägungsfestigkeit" des Würdeschutzes fest. Doch bei der im Einzelfall vorzunehmenden Konkretisierung des Würdeanspruchs könne sehr wohl mit den Rechtsgütern Dritter abgewogen werden. Denn: "Trotz des kategorischen Würdeanspruchs aller Menschen sind Art und Maß des Würdeschutzes für Differenzierungen durchaus offen, die den konkreten Umständen Rechnung tragen."7 In vitro erzeugte Embryonen besäßen i.E. mangels Entwicklungsperspektive keine Menschenwürde - eine Pflicht zur Implantation könne es nicht geben. Keimbahntherapie und positive Eugenik beträfen dem entsprechend ebenso niemanden in seiner Würde wie die verbrauchende Stammzellenforschung, das reproduktive Klonen hingegen schon: Es beraube den "Geklonten" seiner genetischen Identität, die Bestandteil der Menschenwürde sei.8 Der Schwangerschaftsabbruch sei entgegen dem BVerfG9 regelmäßig nur ein Eingriff in das Recht auf Leben des Embryos aus Art. 2 Abs. 2 GG, wenn sie nämlich "allein mit der Ablehnung der Schwangerschaft als solcher" motiviert ist.10
Herdegens Position bietet also viel Flexibilität, die zu bedenklichen Ergebnissen führt - übrigens auch beim Thema Folter: Die Rechte und Interessen Dritter will er bei der Konkretisierung des Würdeanspruchs des/der Gefolterten berücksichtigen, i.E. liegt dann nicht immer eine Würdeverletzung vor. In Sachen Gentechnik ermöglicht Herdegens Auffassung die Unterordnung unter Forschungs- und Verwertungsinteressen der Biotechnologie-Unternehmen. Liberale Eugenik rückt in Reichweite.11

Konservativer Rollback?

Der Vorwurf an Herdegen, er relativiere "die Unabdingbarkeit der Menschenwürde selbst, wiewohl der Anschein erweckt wird, diese bestünde fort" (Böckenförde), trifft also zu. De facto erhält Art. 1 Abs. 1 GG hier die Struktur eines einfachen Freiheitsgrundrechts, was verfassungsdogmatisch angreifbar ist.12 Inhaltlich aber steht Herdegen mit dem, was Böckenförde für den Anfang eines gefährlichen bioethischen Dammbruchs hält, längst nicht allein da: Die Menschenwürde-Trägerschaft des pränadativen Embryos lehnen viele Staatsrechtler ab.13 Und so nachvollziehbar die Melancholie eines Verfassungsrechtlers aus dieser Generation angesichts der neueren Entwicklungen auch sein mag: Unbedenklich ist sie aus zwei Gründen nicht. Wenn Böckenförde schreibt, mit der Menschenwürde werde dem GG seine "Grundfeste und metapositive Verankerung" entzogen, und der "Pfeiler im Strom des verfassungsrechtlichen Diskurses" fließe nun in diesem mit,14 dann ist die Nähe zu konservativen Klagen über den modernen Werte- und Sittenverfall schwer zu übersehen.
Die Moralvorstellungen des "Verfassungsvaters" Dürig, der seinen "Anker" im Christentum und dessen Menschenbild fand, sind in der Tat mit Vorsicht zu genießen, gerade in Anbetracht der am Rande der Gentechnikdebatte laut werdenden Rufe nach einem konservativen Rollback beim Thema Abtreibung. So hat sich z.B. der ehemalige Präsident des BVerfG Ernst Benda für eine strikte Unterordnung von PID, therapeutischem Klonen und Stammzellenforschung unter die Menschenwürde ausgesprochen. Dabei erwähnte er ausdrücklich den Einfluss und die Verantwortung der Bürger, die durch gesellschaftlichen Druck etwa auch das Thema Abtreibung wieder auf die Tagesordnung setzen könnten.15
Wenn man aus der Lektüre des Grundgesetzes von 1949 heraus konkrete Praktiken über 50 Jahre später absolut verbieten will, ist das aus demokratietheoretischer Sicht nicht unproblematisch: Sollen wirklich gesellschaftlich so umstrittene Themen dem Gesetzgeber und damit (zumindest theoretisch) der Entscheidung der BürgerInnen auf ewig entzogen bleiben? Der Gedanke liegt nahe, dass damit die Verfassung überfrachtet wird - auch, dass in der Konsequenz die Würdegarantie sogar eher aufgeweicht werden könnte.

Gattungsethik

Geht man auf der Suche nach einem "dritten Weg" von der Unantastbarkeit der Menschenwürde als "Bedingung für die Möglichkeit einer ausgezeichneten normativen Ordnung, nämlich einer solchen, der die Unterworfenen jederzeit sollen zustimmen können"16 aus, muss man an der objektiv-rechtlichen Dimension der Menschenwürde festhalten. Mehr als nur subjektives Recht ist sie oberstes Staatskonstitutionsprinzip. Gentechnische Praktiken sind danach unabhängig von der subjektiven Würdeträgerschaft von Embryonen dann menschenwürde- und somit verfassungswidrig, wenn sie gegen die objektive Dimension der Menschenwürde verstoßen.
Für die PID, bei der "lebenswertes" Leben selektiert und die Zufälligkeit der menschlichen Eigenschaften durch einer Art Zulassungskontrolle zur Gattung Mensch aufgehoben wird, bedeutet das: Sie stellt die gegenseitige Anerkennung aller Menschen als Freie und Gleiche, also die Basis von Menschenwürde, Menschenrechten und Demokratie,17 in Frage und ist als Verstoß (zumindest) gegen die objektive Dimension von Art. 1 Abs. 1 GG verfassungswidrig. Daran führt auch die vorgeschlagene Begrenzung auf Ausnahmefälle nicht vorbei - zumal zu bezweifeln ist, ob eine solche Begrenzung in der Realität lange Bestand hätte. Der Schwangerschaftsabbruch hingegen, der sich in einer Tötungshandlung erschöpft und kein Unwerturteil über den Embryo spricht, ist nur ein Eingriff in das (von der Menschenwürde zu trennende!) Recht auf Leben des Embryos und i.E. gerechtfertigt.18 Andere Praktiken, die wie die Stammzellenforschung nicht die Menschenwürde in Frage stellen, wären grundsätzlich für eine gesetzgeberische Regelung offen.
Man mag die Betonung der Notwendigkeit eines "naturrechtlichen Ankers" (Böckenförde) der Verfassung für konservativ halten. Bei genauerer Betrachtung, insb. der Gefahren eines totalen moralischen Relativismus, ist es aber dringende gesellschaftliche Aufgabe, sich über die vernünftigen ethischen Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens zu verständigen. Dabei bietet das GG nicht mehr, aber auch nicht weniger als den Rahmen, der in der politischen Auseinandersetzung ausgefüllt werden muss.

John Philipp Thurn studiert Jura in Freiburg.

Anmerkungen:

1 Böckenförde, Die Würde des Menschen war unantastbar. Abschied von den Verfassungsvätern, in: FAZ v. 3.9.2003, 33 u. 35.
2 Dürig, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar (bis 2003), Art. 1 Abs. 1, Rn. 4 f.
3 Ebd., Rn. 18.
4 Ebd., Rn. 24.
5 Ebd., Rn. 39.
6 Herdegen, in: Maunz/Dürig (ab 2003), Art. 1 Abs. 1, Rn. 43 f.
7 Ebd., Rn. 50.
8 Ebd., Rn. 98.
9 BVerfGE 39, 1.
10 Herdegen, a.a.O., Rn. 105.
11 Siehe Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, 2001.
12 So Petersen, Auf dem Weg zur zweckrationalen Relativität des Menschenwürdeschutzes, in: Kritische Justiz (KJ) 2004, 316 ff.
13 Z.B. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG-Kommentar, Art. 1 I Rn. 82 ff.; Podlech, in: Alternativkommentar zum GG, Art. 1 Abs. 1, Rn.57 f.
14 Böckenförde, a.a.O.
15 Bonner General-Anzeiger v. 25.05.2003.
16 Podlech, a.a.O., Rn. 15.
17 Sackofsky, U., PID und Grundgesetz, in: KJ 2003, 274 ff. mit Verweis auf Habermas, aaO.
18 So auch Sackofsky, aaO, 286.