|  | Ein großes Problem für kritische JuristInnen in Deutschland ist, dass 
        kritische Rechtstheorie - wie so ziemlich jede Form des Über-den-Tellerrand-Blickens 
        - in der täglichen Ausbildung der Freischuss-JuristInnen an den Universitäten 
        kaum eine Rolle spielt - Einrichtungen wie etwa der Lehrstuhl von Prof. 
        Susanne Baer, die an der Humboldt-Universität Öffentliches Recht und Geschlechterstudien 
        unterrichtet,1 sind in Deutschland eher Ausnahmeerscheinungen.Interessanterweise ist dies in den Vereinigten Staaten, wo die Jura-Ausbildung 
        noch kürzer und konkurrenzträchtiger ist - das Studium an der law school 
        dauert drei Jahre, die Jagd nach den ersten Stellen beginnt meist schon 
        im zweiten Jahr - anders: Zwar kann mensch das Jura-Studium absolvieren, 
        ohne sich je mit den Critical Approaches to the Law beschäftigt zu haben, 
        jedenfalls aber gehören Veranstaltungen, die das Recht kritisch hinterfragen 
        und im Zusammenhang mit Klassen-, Gender- und Race2-Fragen beleuchten, 
        ganz selbstverständlich zum Kurrikulum an fast allen amerikanischen Universitäten, 
        und in amerikanischen Fachzeitschriften sind regelmäßig kritische Aufsätze 
        zu diesen und ähnlichen Themen zu lesen.
 Im Folgenden werde ich einen kursorischen Überblick über die Entwicklung 
        der Critical Approaches und die verschiedenen "Schulen" geben und einige 
        Spekulationen anstellen, wieso die kritische Beschäftigung mit dem Recht 
        in den Vereinigten Staaten so viel verbreiteter zu sein scheint als in 
        Deutschland. Ich hoffe, dass der Blick in die USA für kritische JuristInnen 
        hierzulande auch bei der Beschäftigung mit dem deutschen Recht hilfreich 
        sein und der Artikel insoweit als Schatzkarte für diejenigen dienen kann, 
        die an der einen oder anderen Stelle tiefer graben wollen.
  Theoretische Grundlagen - American Legal Realism Die Grundlage, auf der alle heutigen Critical Approaches - nach Meinung 
        einiger sogar alle modernen Rechtstheorien in den USA3 - aufbauen, ist 
        der Amerikanische Rechtsrealismus, der seine Hochphase in den Zwanziger- 
        bis Vierzigerjahren des letzten Jahrhunderts hatte. Da Hauptrechtsquelle 
        im anglo-amerikanischen Common Law nicht Parlamentsgesetze, sondern Gerichtsentscheidungen 
        sind, war die Rechtstheorie in den USA schon immer stark auf die Gerichte 
        fixiert, mit den Worten des "Urahnen" des Rechtsrealismus, Oliver Wendell 
        Holmes: "The prophecies of what the courts will do in fact, and nothing 
        more pretentious, are what I mean by the law."4Diese Grundannahme nahmen die RechtsrealistInnen auf und widmeten sich 
        der Frage, auf welcher Grundlage die Gerichte Fälle entscheiden. Ihre 
        als Indeterminacy Thesis bekannt gewordene Grundthese lautet: Da es zu 
        nahezu jedem anerkanntem juristischen Argument ein ebenso anerkanntes 
        Gegenargument gibt, nahezu jeder Fall also auf juristisch "korrekte" Weise 
        zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen gebracht werden kann, müssen die 
        Entscheidungen der Gerichte - bei aller Prägung durch juristischen Stil 
        etc. - in bedeutendem Umfang von nichtjuristischen Erwägungen abhängen.5 
        Eine Feststellung, die so simpel wie bedeutend ist, die sich aber, soweit 
        mir bekannt, in der deutschen Jurisprudenz keiner großen Verbreitung erfreut, 
        und das obwohl jedeR JurastudentIn schon einmal während einer Klausurbesprechung 
        den Satz "Hier sind mit entsprechender Argumentation alle Ergebnisse vertretbar" 
        gehört haben dürfte.
 Bei der Frage, welche außerjuristischen Erwägungen es denn sind, die die 
        Gerichte ihren Erwägungen zu Grunde legen, lassen sich vor allem zwei 
        "Schulen" ausmachen: Während etwa Jerome Frank einen an der Person des 
        einzelnen Richters / der einzelnen Richterin orientierten, psychoanalytisch 
        beeinflussten Ansatz vertrat, versuchten die meisten seiner KollegInnen, 
        Muster in den Entscheidungen der Gerichte anhand gesellschaftlicher Einflüssen, 
        etwa der gesellschaftlichen Herkunft und der Ausbildung der späteren RichterInnen, 
        zu erklären.6
 Die Schlussfolgerungen, die die RechtsrealistInnen aus dieser These zogen, 
        waren im Einzelnen unterschiedlich, viele vertraten schlichtweg, dass 
        Gerichte die sozial- und gesellschaftspolitischen Erwägungen, die ihren 
        Urteilen ohnehin zu Grunde lägen, explizit nennen sollten - so lässt sich 
        wohl auch erklären, dass viele RechtsrealistInnen VertreterInnen der sozialdemokratischen 
        Politik des new deal waren bzw. wurden.7 Ihre NachfolgerInnen sollten 
        an dieser Stelle erheblich kritischere Positionen einnehmen.
 Eine weitere Errungenschaft der Rechtsrealisten, die ebenfalls eine Grundlage 
        für moderne kritische Theorien darstellt, liegt in der Widerlegung der 
        sog. public-private-distinction: In den USA hatte sich seit etwa 1860 
        auf der Grundlage einer strengen Trennung der öffentlichen Sphäre (des 
        Staates) und der privaten Sphäre (unter anderem des Marktes) die Auffassung 
        durchgesetzt, dass der Staat sich Eingriffen in den - als selbstregulierend 
        und unabhängig vom Staat dargestellten - Markt möglichst enthalten solle. 
        Solche Eingriffe - etwa der Schutz unterlegener Parteien im Vertragsrecht 
        - wurden daher als grundsätzlich rechtfertigungsbedürftig angesehen; Aufgabe 
        des Staates war eigentlich nur der Schutz der Parteien vor der Ausübung 
        von Zwang.8
 Die RechtsrealistInnen griffen die Grundlage dieser Argumentation an, 
        indem sie zeigten, dass der Staat notwendigerweise an jeder Transaktion 
        auf dem Markt beteiligt ist - und sei es nur durch die Möglichkeit der 
        gerichtlichen Durchsetzung von Verträgen - und dass auch ansonsten die 
        Idee des sich frei von staatlichen Eingriffen selbst regulierenden Marktes 
        nicht tragfähig war,9 vielmehr der Markt notwendigerweise von rechtlichen 
        Regelungen nicht nur gelenkt, sondern sogar geformt wurde - so ist etwa 
        die Struktur des Marktes eindeutig von rechtlicher Regelung und Schutz 
        des Eigentumsrechts abhängig. Deutlich formuliert findet sich dieser Gedanke 
        bei Morris Cohen: Indem staatliche Behörden in Ausübung ihrer staatlichen 
        Souveränität die Eigentumsrechte Privater und damit deren verbesserte 
        Verhandlungsposition gegenüber anderen Privaten schützten, stelle letztendlich 
        der Staat dem Privaten souveräne Gewalt zur Durchsetzung privater Zwecke 
        zur Verfügung.10 Weiter griffen die RealistInnen auch die Unterscheidung 
        zwischen auf Zwang beruhenden und "frei" geschlossenen Verträgen an.11
 Auf der Grundlage solcher Argumente ließ sich etwa die Frage, wie und 
        in welchem Umfang der Staat in den Markt eingreifen soll oder darf, nicht 
        mehr mit dem simplen Verweis auf dessen selbstregulierende Natur abbügeln, 
        sondern war anderen, etwa sozialpolitischen, Argumenten zugänglich.
  Moderne Anfänge - Critical Legal Studies  Die von den RechtsrealistInnen gelegten Grundsteine nahm die Critical 
        Legal Studies-Bewegung auf und verlieh ihnen zusätzlichen kritischen Biss. 
        Der Startschuss für die moderne kritische Rechtstheorie fiel im Jahre 
        1977 mit dem ersten Treffen der Conference on Critical Legal Studies, 
        einem Kreis engagierter ProfessorInnen, viele aus der BürgerInnenrechtsbewegung 
        der 1960er kommend, die versuchten, ihre politischen Überzeugungen und 
        ihre Tätigkeit an den Universitäten unter einen Hut zu bringen. Auf der 
        Basis der Erkenntnisse der RechtsrealistInnen griffen sie vor allem grundlegende 
        Annahmen der vorherrschenden Ideologie des so genannten liberalism an. 
        Eine dieser Grundannahmen war, die Rolle des Rechts in der Lösung gesellschaftlicher 
        Konflikte beschränke sich weit gehend auf den Schutz individueller Rechte 
        gegen Verletzung durch andere sowie auf die Ermöglichung des Zusammenwirkens 
        mehrerer konsentierender RechtsträgerInnen - die Rolle der Gerichte sei 
        also vor allem in der neutralen und tendenziell formalistischen Anwendung 
        rechtlicher Regelungen zur Abgrenzung der jeweiligen Rechte verschiedener 
        Individuen zu sehen. Hiergegen brachten die Critical Legal Scholars (crits) 
        die von den RealistInnen bekannten Argumente zur fehlenden Determiniertheit 
        von rechtlichen Entscheidungen zur Geltung und versuchten, die hinter 
        den vermeintlich neutralen Regelungen steckenden politischen Grundentscheidungen 
        und die zu ihrer Durchsetzung eingesetzten Ideologien herauszuarbeiten.12 
        Dabei waren sie stets bemüht, ihre theoretischen Ausführungen auch an 
        konkreten Rechtsfragen festzumachen, critical legal theory war meist angewandte 
        Theorie.13 Die schnelle Verbreitung kritischer Theorien an den amerikanischen Universitäten 
        führte ebenso schnell zu Abwehrreaktionen: Da viele crits sich vor allem 
        damit beschäftigten, die Widersprüche und Ungereimtheiten des liberalism 
        aufzuzeigen, wurde ihnen Beliebigkeit und "Nihilismus"14 vorgeworfen, 
        es kam zu Auseinandersetzungen in diversen Universitätsgremien, die darin 
        gipfelten, dass einigen kritischen JuristInnen wegen der Ausrichtung ihrer 
        Forschung die tenure, die gewöhnlich nach einigen Jahren als Assistant 
        Professor folgende Festanstellung an der Universität, verweigert wurde.
 War die Conference on Critical Legal Studies zunächst weit gehend von 
        weißen Männern bestimmt, stieg der Anteil von Frauen und Minderheiten 
        schon recht bald deutlich.15 In den folgenden Jahren differenzierte sich 
        die Bewegung in zweierlei Hinsicht aus. Zum einen wandten sich viele vermehrt 
        den bis dato eher vernachlässigten Themen Gender und Race zu, zum anderen 
        veränderte sich auch die theoretische Basis: So nahm ein bedeutender Teil 
        der crits in den Achtziger- und Neunziger-Jahren am linguistic turn teil 
        und griff Ansätze (post-)strukturalistischer Theorien und der Semiotik 
        für die Rechtstheorie auf. Andere wandten sich Theorien wie Roberto Ungers 
        Progressive Alternative zu, die eine grundlegend umstrukturierte, auf 
        Werten wie Partizipation, Solidarität und Mitgefühl aufbauende Rechts- 
        und Gesellschaftsordnung beschreibt.16
 Zwischen all diesen verschiedenen Themen und Ausrichtungen gibt es im 
        Übrigen vielfältige Überschneidungen und Verknüpfungen (postmodern feminism, 
        women of color feminism, etc.).
  Feminist Legal Theory Ein zentraler Ansatzpunkt feministischer Rechtswissenschaft ist es, nicht 
        nur einzelne Rechtsnormen als diskriminierend darzustellen, sondern darüber 
        hinaus Grundannahmen der Rechtstheorie, wie die der Neutralität und Objektivität 
        des Rechtes, als Schein zu entlarven und darzustellen, dass das Recht 
        in seinen Strukturen "männlich" und diskriminierend ist.17Feministische RechtstheoretikerInnen nahmen etwa die Argumente der RechtsrealistInnen 
        hinsichtlich der Unterscheidung von öffentlicher und privater Sphäre auf 
        und bezogen diese auf die Stellung der Familie.18 Auch das internationale 
        Recht wurde einer grundlegenden Kritik aus feministischer Sicht unterzogen19 
        Wichtige Themen waren zudem die Rechtsgebiete, in denen das Recht Zugriff 
        auf den weiblichen Körper nahm bzw. sich mit diesem beschäftigte:20 Abtreibung, 
        Vergewaltigung, Pornographie,21 Prostitution (siehe unten) waren und sind 
        zentrale Themen feministischer Rechtswissenschaft.
 Insgesamt zeichnet sich die feministische Rechtstheorie durch eine Anzahl 
        grundverschiedener, zum Teil entgegengesetzter Ansätze (nicht nur in der 
        historischen Entwicklung22) und durch lebhafte interne Debatten aus. Neben 
        dem grundlegenden Dilemma zwischen Differenz und Gleichheit23 zeigt sich 
        dies auch in den einzelnen Rechtsgebieten. So lassen sich etwa im Umgang 
        mit Prostitution - vereinfacht gesagt - zwei grundverschiedene Positionen 
        ausmachen: Während eine tendenziell dem radikalen Feminismus zuzuordnende 
        Position unter den herrschenden gesellschaftlichen Bedingungen jede Form 
        der Prostitution letztlich als Ausdruck sexueller Sklaverei begreift und 
        dafür eintritt, die Sexindustrie durch Verbote und Strafnormen abzuschaffen, 
        betont die sex workers rights-Position, dass freiwillig (wie auch immer 
        dieser Begriff hier zu definieren wäre) gewählte Prostitution auch Ausdruck 
        der Selbstbestimmung und Subjektivität von Frauen sein kann, und kämpft 
        für die Verbesserung der Rechtsstellung von Sexarbeiterinnen.24
 Eine weitere Debatte drehte sich um den Vorwurf des Essentialismus: Den 
        Rechtsfeministinnen der ersten Stunde, zumeist weißen Frauen aus der Mittelklasse, 
        wird vorgeworfen, in ihrer Theorie die Erfahrungen aller Frauen zu sehr 
        als gleichartig zu beschreiben und dabei die Unterschiede aus dem Blick 
        zu verlieren, insbesondere die Erfahrungen derjenigen, die neben geschlechtsspezifischer 
        etwa auch klassen- und hautfarbenbezogener Ausgrenzung und Benachteiligung 
        ausgesetzt sind.25
  Critical Race Theory Die Grundannahmen der Critical Race Theory sind strukturell vor allem 
        denen der feministischen Rechtswissenschaft recht ähnlich: Es geht darum, 
        die vermeintliche "Farbenblindheit" und Neutralität des Rechts im Hinblick 
        auf die Hautfarbe zu entlarven und einen unbewussten Rassismus aufzuzeigen, 
        der weite Teile des Rechtssystems durchzieht.26 Dabei stellen Critical 
        Race Scholars auch die Frage, ob bzw. inwieweit die Bedürfnisse und Erfahrungen 
        von Minderheiten durch die Ansätze der Critical Legal Studies gefördert 
        werden.27Ein Grund dafür, dass gerade die Critical Race Theory in den Universitäten 
        auf deutliche Abwehrreaktionen stößt, dürfte auch in der selbst für kritische 
        JuristInnen eher unorthodoxen Arbeitsweise und in einigen ihrer Schlussfolgerungen 
        liegen: Davon ausgehend, dass die überkommenen Begriffe und Formulierungen 
        der Rechtssprache unter anderem auch zur Verdeckung von Machtverhältnissen 
        dienen und es etwa Minderheiten schwer machen, ihre subjektiven Erfahrungen 
        mitzuteilen,28 greifen insbesondere Critical Race Scholars oft zum Mittel 
        des storytelling, um ihre Erfahrungen und Erlebnisse mit dem Rechtssystem 
        zu vermitteln - auch dies eine Parallele zur feministischen Rechtswissenschaft, 
        wo einige Autorinnen ebenfalls zu dieser Methode griffen. Ein frühes und 
        berühmtes Beispiel für einen storytelling-Aufsatz sind die "Civil Rights 
        Chronicles" von Derrick A. Bell, in denen er anhand einer Reihe von Unterhaltungen 
        mit der fiktiven Bürgerrechtsanwältin Geneva Crenshaw zentrale Aussagen 
        der Critical Race Theory darstellt.29 Für einiges Aufsehen sorgte auch 
        die Aufforderung des Strafrechtsprofessors Paul Butler, zur Bekämpfung 
        des dem Strafrechtssystem inhärenten Rassismus sollten schwarze Jury-Mitglieder 
        in Prozessen mit schwarzen Angeklagten die Frage "schuldig oder nicht 
        schuldig" nicht anhand der gesetzlichen Normen, sondern anhand der Bedürfnisse 
        der schwarzen community entscheiden.30
  Interdisziplinäre und postmoderne Rechtstheorien Was die Methode kritischer Rechtswissenschaft angeht, seien noch kurz 
        einige Ansätze interdisziplinärer und (post-)strukturalistischer Rechtstheorien 
        genannt, die in den USA die jüngste Generation kritischer Rechtstheorie 
        bilden. Diese Ansätze verdanken ihre Existenz zumeist der Beschäftigung 
        mit "klassischen" Werken aus anderen Wissenschaftszweigen.Bei dem Versuch, Widersprüche und Ungereimtheiten klassischer Rechtstheorien 
        darzustellen, entdeckten viele crits zum Beispiel die ursprünglich aus 
        der Literaturwissenschaft stammenden dekonstruktivistischen Ansätze Jacques 
        Derridas31 und stellten fest, dass bestimmte dekonstruktivistische Argumentationsmuster 
        sehr gut geeignet waren, Argumentationsmuster klassischer Rechtstheorien 
        aufzubrechen.32 Ein anderer Wissenschaftszweig, deren Methoden sich kritische 
        JuristInnen zunutze machten, war die unter anderem auf den Arbeiten des 
        Linguisten Ferdinand de Saussure aufbauende Semiotik. VerteterInnen der 
        Rechtssemiotik33 beschäftigen sich unter anderem mit der Struktur juristischer 
        Argumente,34 was in gewisser Weise eine Rückkehr zu den Wurzeln der Rechtswissenschaft 
        als Teilgebiet der Rhetorik darstellt. Großer Beliebtheit erfreuen sich 
        schließlich auch die Arbeiten von Michel Foucault, insbesondere der Klassiker 
        "Überwachen und Strafen".35
 All diese Ansätze sind zwar recht verbreitet, aber auch unter kritischen 
        JuristInnen nicht unumstritten: So verteidigt etwa Catharine MacKinnon 
        klassische feministische Ansätze gegen postmodernistische Kritik und macht 
        deutlich, warum sie viele postmoderne Ansätze für theoretische Spielereien 
        hält, die von den eigentlichen Problemen ablenken.36 Und auch VertreterInnen 
        von Dekonstruktion und Rechtssemiotik betonen, dass beide Ansätze nicht 
        per se links oder kritisch sind, sondern vor allem Instrumente für die 
        Auseinandersetzung mit Argumenten klassischer Rechtstheorie darstellen, 
        die auch gegen kritische Argumente und damit auch von liberalen und rechten 
        AutorInnen genutzt werden können. 37
  Wie kommt's? Es stellt sich natürlich die Frage, wieso kritische Rechtsstudien in 
        den USA eine solche Verbreitung erlangt haben, während ihre Ausbildungsrelevanz 
        in Deutschland eher gering ist - an einem Mangel an kritischen bzw. linken 
        Studierenden wird es hoffentlich nicht liegen. Einige grobe Erklärungsansätze 
        sollen im folgenden vorgestellt werden.Ein Grund für die Popularität interdisziplinärer und kritischer Rechtstheorien 
        liegt wohl im amerikanischen Studiensystem: Der Besuch einer law school 
        setzt nämlich einen College-Abschluss voraus, was bedeutet, dass alle 
        zukünftigen JuristInnen bereits vier Jahre lang ein anderes Fach, sei 
        es nun Philosophie, englische Literatur oder Physik, studiert haben. Dies 
        fördert sicherlich die Bereitschaft zu interdisziplinären Studien, die 
        neben dem neoliberalen law & economics und dem politisch eher diffusen 
        law & literature eben auch kritische Verbindungen mit soziologischen, 
        semiotischen, feministischen und anderen Theorien hervorgebracht haben 
        - ein ähnlicher interdisziplinärer Ansatz findet sich in Deutschland wohl 
        nur in der Kriminologie.
 Auch die Ausbildung nach der so genannten Sokratischen Methode, bei der 
        der Stoff im Dialog zwischen Lehrenden und Lernenden unterrichtet wird, 
        wobei die ProfessorInnen zu immer wechselnden Fragestellungen und Argumentationsmustern 
        greifen, mag bei Studierenden zu der Erkenntnis führen, dass hinter der 
        Juristerei mehr steckt als bloß die Auslegung vorgegebener Rechtssätze 
        nach den bekannten Auslegungsmethoden Wortlaut, Systematik usw. Diese 
        Tendenz wird unterstützt durch die tägliche juristische Arbeit im Common 
        Law, wo nicht die Auslegung vorgegebener Gesetzestexte, sondern die Extraktion 
        abstrakter Regeln aus konkreten Fällen und die Argumentation "am Fall" 
        im Vordergrund stehen.
 Die sich anschließende Frage, wie kritische Rechtstheorien trotz der genannten 
        Unterschiede auch in Deutschland wieder im universitären Alltag verankert 
        werden können, kann dieser Artikel leider nicht beantworten - aber hoffentlich 
        kann er immerhin als Ausgangspunkt für die Erforschung des reichen Schatzes 
        an kritischen Theorien in den Vereinigen Staaten dienen.
 Björn Elberling ist Mitglied im akj kiel und wiss. Mitarbeiter 
        am Walther-Schücking-Institut für Internationales Recht in Kiel. Anmerkungen 1 Siehe http://www.rewi.hu-berlin.de/jura/ls/bae/. Vgl. auch http://gender.uni-kiel.de/ 
        und http://www.genderstudies-hamburg.de/ 2 Dieser Begriff wird in den USA auch von kritischen AutorInnen und in 
        (Aner-)Kenntnis der sozialen Konstruktion von "Race" benutzt, ist also 
        nicht in derselben Weise konnotiert wie der Begriff "Rasse" im Deutschen.
 3 Vgl. Singer, California Law Review 1988, 467, 503 ff.
 4 "Die Vorhersage dessen, was die Gerichte tatsächlich tun werden, [...] 
        ist es, was ich als Recht bezeichne." Holmes, Harvard Law Review 1897, 
        461.
 5 Vgl. Leiter 2003, 3 ff., Singer, California Law Review 1988, 
        499 ff.
 6 Vgl. Leiter 2003, 13.
 7 Leiter 2003, 18-21.
 8 Darstellung bei Singer, California Law Review 1988, 477-482.
 9 Singer, California Law Review 1988, 482 ff.
 10 Cohen, Cornell Law Quarterly 1927, 12; vgl. Singer, California 
        Law Review 1988, 487 ff.
 11 Hale, Political Science Quarterly 1923.
 12 Zum Beispiel Schlag, Michigan Law Review 1997; Überblick bei 
        Freeman 2001, 1041 ff..
 13 Siehe etwa zum Strafrecht Kelman, Stanford Law Review 1981; 
        zum Vertragsrecht Olsen, Harvard Law Review 1985.
 14 Zu diesem Vorwurf Singer, Yale Law Journal 1984, insb. 47 ff.
 15 S. etwa Kennedy, Cardozo Law Review 1985, 1019 ff.
 16 Zum Beispiel Unger 1998; dazu Freeman 2001, 1053-1055.
 17 Bartlett, Harvard Law Review 1990, 836 ff; Lacey, Humboldt 
        Forum Recht 1996.
 18 Olsen, Harvard Law Review 1983.
 19 Charlesworth / Chinkin 2000.
 20 Frug, Harvard Law Review 1992, 1048 ff.
 21 Frug, Harvard Law Review 1992, 1067 ff.
 22 Vgl. etwa Hernandez-Truyol, German Yearbook of International Law 
        2001, 145 ff.
 23 Mühlke, Forum Recht 2001, 40 ff.
 24 S. hierzu ausführlich Simm, Australian Year Book of International 
        Law 2004, 138 ff.
 25 Siehe die Beiträge in Dowd / Jacobs 2003.
 26 Zum Beispiel Crenshaw, Harvard Law Review 1988; Johnson, Cornell 
        Law Review 1988.
 27 Delgado, Harvard Civil Rights - Civil Liberties Review 1987.
 28 Delgado, Michigan Law Review 1988.
 29 Bell, Harvard Law Review 1985.
 30 Butler, Yale Law Journal 1995.
 31 S. hierzu Balkin 1998 sowie die Beiträge in Hoffmann / Vismann, German 
        Law Journal 2004.
 32 Zum Beispiel Balkin, Michigan Law Review 1992; Frug, Harvard Law 
        Review 1992.
 33 Zu den Möglichkeiten dieser Theorie Balkin, University of Texas 
        Law Review 1991.
 34 Zum Beispiel Balkin, Rutgers Law Review 1986.
 35 Foucault 1974; zur Rezeption Kennedy, Legal Studies Forum 1991.
 36 MacKinnon, Chicago-Kent Law Review 2000.
 37 Balkin, University of Texas Law Review 1991, 3; Balkin 1998, 
        3 und 22.
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