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Europa ist eine Andere   Heft 2/2006
Zwischen Wir und Ich:
Europäische Idee und nationale Interessen
Seite 44-46
Die europäische Idee zwischen Identitätspolitik und Humanismus der Anerkennung des Anderen  
 

Die europäische Integration befindet sich zurzeit in einem merkwürdigen Schwebezustand: Die politischen Eliten haben das wahrscheinliche Scheitern der Verfassung noch nicht recht akzeptiert. Gleichwohl scheint das "Raumschiff Brüssel", die Eurokratie, auch nach der Erweiterung erstaunlich reibungslos zu funktionieren. Manch eine/r vermisst nun aber zu Recht die das Verfassungsprojekt befeuernden Diskussionen darüber, ob es noch mehr als das Schmiermittel Geld gebe, das die Union gleichsam "philosophisch" zusammenhalte. Auch Europa lebt schließlich nicht vom Brot allein.
Aufschlussreich für die Frage, ob so etwas wie eine Idee Europas existiere, ist eine Grundaussage des Maastricht-Urteils des deutschen Bundesverfassungsgerichts (BVerfG).1 Im Kern ist das Gericht der Ansicht, ein europäisches Volk (Demos) sei nicht zu erkennen, weshalb es notwendig auch keine Demo-kratie auf europäischer Ebene geben könne. Zwar definiert der Senat den Begriff "europäisches Volk" nicht ethnisch, also blutsmäßig, wie es in der deutschen Geschichte zu oft vorgekommen ist. Er verlangt jedoch für das Vorliegen eines Demos das Gefühl sozialer Kohäsion, ein gemeinsames Schicksal und eine kollektive Identität, die für ein unentbehrliches Mindestmaß an Loyalität zum Gemeinwesen erforderlich seien. Aus der Tatsache, dass diese Kriterien nicht erfüllt sind, wird geschlussfolgert, dass das Europäische Parlament, weniger der Ministerrat das eigentlich despotische Organ des Brüsseler Systems ist, und das nicht allein wegen der fehlenden Wahlrechtsgleichheit, sondern weil eine Legitimationskette hin zu einem europäischen Souverän mangels eines solchen nicht konstruiert werden kann.
Im Folgenden soll jedoch gezeigt werden, dass die vom BVerfG entwickelte so genannte Kein-Demos-These nicht mit dem Kerngehalt einer humanistisch konzipierten europäischen Idee vereinbar ist.

Sein und Sollen der EuropäerInnen

Zu diesem Zweck soll zunächst erörtert werden, ob es eine politische Philosophie Europas gibt. Politische Philosophie ist knapp und prägnant definiert als Anthropologie (Lehre von Wesen und Natur des Menschen) plus Ethik2. Wir müssen uns also fragen, ob es ein europäisches Menschenbild und europäische Werte gibt. Wenn beide Fragen bejaht werden können, haben wir eine politische Idee Europas entdeckt.
In der Geistesgeschichte Europas sind die klassisch-antike und die christlich-monotheistische Tradition die Säulen, die zusammen die Aufklärung stützen. Es erscheint nicht zu verwegen, jenen beiden Strängen zwei gegensätzliche Bilder vom Menschen zuzuordnen.
Auf der einen Seite steht der selbstbestimmte, starke, eigenverantwortliche Bürger; auf der anderen der fremdbestimmte, schwache, schutzbedürftige Untertan Gottes.
Um das Menschenbild streitet sich die Politik, streiten sich Rechte und Linke immer neu. Gemeinsam aber legen sie den "Menschen in der Idee" zugrunde, eine aufklärerisch motivierte Abstraktion vom Einzelnen, die unsere Rechtsidee überhaupt erst konstituiert, indem sie Rechtsgleichheit von tatsächlicher Identität trennt. In der Tat ist dieses europäische Erbe ein Universalismus, dem die Tendenz innewohnt, stets ein- und niemals auszuschließen, denn er hat es mit allen Menschen als Menschen zu tun. Grenzen sind seine Sache nicht. Sie sind vielmehr die Domäne der "Identität", sie müssen konstruiert werden. Dem Dilemma, dass die Rechtsgemeinschaft Europa sich notwendig mit einem Schleier des Nichtwissens verhüllen muss, um die Menschen nicht als Individuen, sondern als Gleiche, eben als Rechtspersonen, zu behandeln, andererseits aber, ganz "realpolitisch", auch nach Selbstdefinition, mithin Selbstbehauptung, strebt, versuchen europäische Politiker mit einem Identitätsdiskurs zu begegnen. Nach diesem Kalkül ist der vordergründig immer vor allem ausgrenzende Identitätsbegriff ein Erfolg versprechendes Mittel zur Bewältigung der eigenen Selbstzweifel.
Problematisch am Identitätsbegriff ist sein häufig versteckt normativer Gebrauch, der typischerweise die beiden verschiedenen Bedeutungsstränge des Wortes ungebührlich vermengt: Einerseits bezeichnet Identität Einheit oder Gleichheit ("idem"-derselbe), andererseits im Anschluss an Freud innere Einstellungen des Sich-Bekennens, gleichsam der inneren Einheit oder Authentizität. Kollektive Identität ist immer fingiert, niemals notwendig; ganz im Gegensatz zu ihrem Freudianischen Gegenpart, der freilich nicht minder auf die Auseinandersetzung mit dem Anderen bezogen ist, insofern er die Grundfragen des Lebens stellt: "Wer bin ich?" und "Wie soll ich handeln?".3 Identität kann nicht nur in Abgrenzung vom Anderen konstruiert werden. Die Bildung von Identität ist nicht definitive Selbstbeherrschung, sondern die Etablierung einer offenen Kommunikationsbeziehung zwischen der Person und "ihrer" Welt.4 Sie ist als eine Verschränkung von Dialog und Selbstbegrenzung zu verstehen.
Wenn wir uns dieses teilweise ausschließenden, repressiven Charakters der Identitätsbildung aber bewusst werden, bedeutet das zugleich eine Chance, das als ausgegrenzt Erkannte als das "Andere" gleichwohl zu tolerieren. Anders in diesem Sinne ist nicht nur der andere Mensch, die fremde Kultur, sondern ebenso das innere Ausland der Triebe und Impulse. Wenn wir zu reflektieren beginnen, dass im Entwurf des Eigenen immer schon eine Vorstellung vom Fremden verborgen liegt, birgt dieser Lernprozess ein großes Humanisierungspotential.
Kommunikation und der mit ihr einhergehende Versuch, das Eigene im Angesicht des Fremden zu läutern, kennt indes keine notwendigen Grenzen, ist also universalisierbar. Ist das ein Problem? Solange Europa nur "Europa" sein möchte, keine Keimzelle einer - wohl nur gegliedert denkbaren - Weltföderation, ist es ein Problem. Denn in der Tat vertritt Europa heute das Säkularisat einer ungemein attraktiven prophetischen Moral: Ihr BürgerInnen Polens, der Ukraine, der Türkei, eine Orientierung nach "Westen", zur EU verlangt euch einen "Rationalisierungsschock" (Übernahme des gesamten Rechtsbestandes der EU) ab, doch diese scheinbare Missachtung eurer Partikularität währt nicht zu lang; denn die Anerkennung der Differenz liegt doch gerade im Herzen des Integrationsgedankens! Die Menschenrechte und noch einiges mehr müsst ihr anerkennen, eure Folklore aber dürft ihr behalten.

Das "Volk" der EuropäerInnen

Was hält "uns" aber dann zusammen, jenseits eines universalistischen ethischen Diskurses, in dem wir wohl unsere gegenseitige Andersheit akzeptieren, den wir indes mit den AmerikanerInnen nicht anders führen als auf unserem Kontinent? Die überkommenen Nationen jedenfalls bleiben erhalten. Sie erfüllen die zutiefst menschlichen Bedürfnisse nach Zugehörigkeit und Originalität. Sie bieten Schutz gegen die Angst vor existentiellem Alleinsein. Diese Nationen kennen zwar weiter drei Grenzen, die jedoch signifikant weniger für Missbrauch anfällig sind: die äußere Staatsgrenze, Sinnbild der Gefahr äußerer Aggression, die Grenze zwischen Nation und Staat, verbunden mit der in Deutschland besonders traditionsreichen Verkennung des Staats als Selbstzweck, und eine sozialpsychologische innere Grenze, die der/die Einzelne gegen den/die Andere/n als Unterlegene/n errichtet. Europa ist in dieser Perspektive eine sanfte Dompteurin, die dem nationalen Tiger die Zähne zieht. Weiler als Verfechter dieser äußerst sympathischen Position zitiert in diesem Zusammenhang Hermann Cohen5: Erst im Fremden entdeckte der Mensch die Idee der Humanität. Man wird hinzufügen müssen: Das genügt zwar als Voraussetzung einer Rechtsgemeinschaft, deren Prinzip nicht mehr als das reziproke Anerkennen von Freiheitsansprüchen gleicher Rechtspersonen ist und sein kann. Aber ist die Entdeckung und Anerkennung des Fremden schon hinreichend für einen Humanismus, der seinen Namen verdient, der Basis einer zutiefst teilnehmenden - im Gegensatz zur indifferenten - Gemeinschaft sein kann? Eine politisch gerechte Zivilisation kennzeichnet eine vorgängige Akzeptanz der Andersheit, nicht des von mir Abweichenden, betrachtet von einem egozentrischen Standpunkt, sondern das Bewusstsein einer schlechthinnigen Asymmetrie: Dort ist ein Anderer, ich bin für ihn da. Diesem Humanismus geht es sehr wohl um Menschenrechte, die aber nicht als Freiheitsrechte, sondern als Reflex von Anteilnahme begriffen werden. Dies ist als überfälliger Schritt heraus aus der Falle des "Rechte-Diskurses", der Gefangenheit in der Stellung wechselseitiger Ansprüche, zu werten.
Der Gegensatz zwischen einer europäischen Identität und einem Humanismus der Akzeptanz des Anderen entpuppt sich nach allem als fiktiv.
Zwar konstruiert das BVerfG im Maastrichturteil einen solchen Gegensatz, indem es verlangt, Grundlage einer europäischen Demokratie sei ein europäisches Volk, das sich durch kollektive Identität und ein Gefühl sozialen Zusammenhalts auszeichne. Damit beschwört es jedoch eine exklusivistisch verstandene europäische Identität, die ihren Ursprung in einer partikularen Interessenlage, der gewollten Machtdemonstration nach außen und der Abschottung nach innen hat und damit nicht als Fundament eines aufgeklärten europäischen Demos taugt.

Europäisches Weltbürgertum

Der "Humanismus der Anerkennung des Anderen" ist in der Form des Kosmopolitismus als politische Idee zu verstehen. Es ist dies eine als ursprünglich gedachte Hospitalität, die bedingungslos sein muss. Er bedeutet in erster Linie, gegenüber dem/der Anderen Offenheit zu zeigen, sich von ihm/ihr beeinflussen zu lassen. Im Gegenzug darf man eine entsprechende Bereitschaft auf der Seite des Gegenübers erwarten.
In der Betonung der grundsätzlichen äußeren Formbarkeit der personalen Identität weicht die hier vorgestellte Konzeption vom Prinzip der bloßen Toleranz gegenüber dem Fremden ab.
Allerdings ist damit kein Dissens im Grundsatz verbunden. Eher darf man das Verhältnis der beiden Konzepte als eines der Radikalisierung bezeichnen. Denn die Ablehnung des Imperativs "Komm, werde einer von uns!" als einfacherer Integrationsstrategie eint die beiden Ansätze. Es geht gerade nicht darum, die/den Fremde(n) ihrer/seiner Andersheit zu berauben, indem ich sie/ihn in mich selbst verwandele. Eher sollte man einen Schritt weitergehen, nicht die/den Fremde(n) bloß in seiner Andersheit annehmen, sondern, sich selbst beobachtend, feststellen, dass es mehr ist, was uns beide verbindet, denn was uns trennt. In Weilers Konzeption erscheint Europa zu sehr als ein Konglomerat voneinander unterschiedener und gerade in ihren Spezifika liebenswerter Regionen / Staaten und zu wenig als eine Föderation, in der Menschen einander als fremde Individuen achten und vor allem voneinander lernen. Gewiss ist das heutige Europa ohne seine Verfassung schon äußerst liebenswert, weil es auf einem engen Raum so vielfältig ist wie keine zweite Weltregion. Dieses kulturelle Spezifikum gilt es aber doch weniger zu konservieren als durch gegenseitige Begegnung - nein, nicht zu homogenisieren, denn jeder Staatsangehörige wird Unterschiedliches aufnehmen, Anderes vom Fremden annehmen und lernen wollen - sondern dynamisch fortzuentwickeln. So soll aus der EU in der Tat kein Staat wachsen. Aus der Außenperspektive Weilers betrachtet, wäre damit die große Chance der alternativen, humaneren und toleranteren Herrschaftsform einer supranationalen Föderation vergeben. Indessen sollte man auf der schlichten Tatsache insistieren, dass die überkommenen Binnengrenzen mehr und mehr an Bedeutung für die Selbstidentifikation der StaatsbürgerInnen verlieren. Dieser Prozess führt zwangsläufig dazu, dass sich die BürgerInnen Europas in mancher Hinsicht ähnlicher werden. Doch werden sie gerade in der Begegnung mit dem Fremden solche Aspekte ihrer Identität, die für sie wichtige Alleinstellungsmerkmale sind, hervorzuheben, zu schärfen suchen. Europa wird sonach durch den Bedeutungsverlust der alten nationalen Grenzen kulturell nicht ärmer, sondern reicher. Die Identitäten werden sich ausdifferenzieren, wie es gesellschaftliche Subsysteme schon länger tun, und das erfolgreich. Neue Grenzen werden sich bilden, die auf keiner Landkarte zu erfassen sind; Machtgefälle verlieren an Bedeutung, da sich Gruppenidentitäten spontaner bilden. Die Loyalität zur Nation wird nur eine unter vielen sein.
Die Akzeptanz der Vorstellung, dass Identität eine plastische Größe sei, steht auch im Zentrum der Kopenhagener Beitrittskriterien. Eine andere kulturelle Motivation als die Aussicht, selbst bereichert, verändert zu werden und andere bereichern zu können, vermag die zunächst erschreckende Einsicht, im größeren Verband stets und strukturell Minderheit zu sein, nicht zu kompensieren. Toleranz, als Ertragen des Anderen verstanden, genügt nicht als Kitt für Europa. Nicht Toleranz ist die europäische Idee, sondern das Paradoxon einer kosmopolitischen, weltbürgerlichen Heimat. Der Kosmopolitismus beginnt aber notwendig beim Individuum. Er bedeutet, kulturelle Differenzen als freie Entscheidungen Ernst zu nehmen, die ständig neu getroffen werden. Ständig werden Differenzen eingeebnet, aber auch neu erfunden. Nur ein Phänomen gehört für immer der Vergangenheit an: Homogenität. Stattdessen herrscht das Prinzip "Kontamination", Ansteckung: die Bürger Europas bilden Teile eines Netzwerks, das sich permanent neue Synapsen erschließt. Kosmopolitisch ist die Idee, dass menschliches Wissen immer vorläufig bleibt, dass wir uns sogar daran gewöhnen können, Dinge anders zu tun, weil andere es uns vormachen: Imitation und Revision, ohne den Glauben an die Wahrheit zu verlieren, dies sind Bauprinzipien Europas als kosmopolitischer Union.

Die "unchristliche" Türkei

Wenn die politische Gerechtigkeit, die die EU zum Maßstab ihrer Entwicklung macht, in ihrem Wesen Inklusion verkörpert, stellt sich die Frage, wohin sie sich entwickelt. Der Idee nach ist Europa grenzenlos: die Welt ist Europa.
Das bedeutet aber, dass sich die EU im Hinblick auf ihre Beitrittsaspiranten auf ein Argument nicht berufen darf: Wertediversität. Sie kann ökonomische Notwendigkeiten ins Feld führen, eine unbefriedigende Menschenrechtslage, die Gefahr einer strategischen Überdehnung und dergleichen mehr. Sie darf aber der Türkei nicht vorhalten, sie sei kein christliches Land oder gehöre traditionell nicht zu Europa. Geographische Grenzen sind ohnehin zufällig und entfalten keinerlei normative Kraft. Die EU ist in die Zukunft gerichtet, nicht in die Vergangenheit, etwa die letzte Belagerung Wiens durch die Türken 1683. Die spezifische Differenz der europäischen Idee von Emanzipation gegenüber einer universal konzipierten liegt in der Anerkenntnis der Rolle der Nationen. Indem diese indes schleichend an Bedeutung für die Identität des individualisierten Individuums einbüßen, wächst an der entstehenden Leerstelle nicht etwa die Identität als Europäer nach. Die Leerstelle bleibt vielmehr von irrationalistischen Mythen und unbegründeten Loyalitäten unbesetzt. Werte hat der/die Einzelne nicht als EuropäerIn, als Deutsche/r oder als BerlinerIn. Wenn es solche Werte gibt, die ein kulturelles Fundament für die Rechtsgemeinschaft Europa bilden - und es gibt sie zweifellos -, dann liegt das allein darin begründet, dass wir uns in einem schmerzhaften Lernprozess, nach dem Anblick allzu vieler Kriegsleichen an sie gewöhnt haben.
Es gibt keinen guten Grund, anzunehmen, Menschen, die wir als fremder wahrnehmen mögen als andere, wären zu diesen Geistesleistungen nicht imstande. Die Türkei kann europäisch werden. Werden die EuropäerInnen auch ein kleines bisschen türkisch?

Tim Wihl studiert Jura an der HU Berlin.

Anmerkungen:

1 BVerfGE 89, 155.
2 Höffe, Otfried, Politische Gerechtigkeit, 1987.
3 von Bogdandy, Armin, Kritische Justiz, 2005, 110 ff.
4 Joas, Hans, Die Entstehung der Werte, 1999.
5 Weiler, Joseph, Der Staat "über alles", Jahrbuch des öffentlichen Rechts 1996, 91 ff.

Literaturempfehlungen:

Weiler, Joseph, Ein christliches Europa, 2004
von Bogdandy, Armin, Europäisches Verfassungsrecht, 2003