Heft 1 / 1997:
(Un)sicherheitsfaktor Polizei
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Susanne Zühlke
DDR-Grenzregime kann bestraft werden
 

Der zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) hat mit einstimmigen Beschlüssen vom 26. Oktober 1996 die Verfassungsbeschwerden von drei ehemaligen Mitgliedern des Nationalen Verteidigungsrates der DDR und die eines sogenannten Mauerschützen zurückgewiesen.
Die Beschwerdeführer waren vom Landgericht Berlin bzw. vom Bundesgerichtshof wegen Totschlags nach bundesdeutschem Recht verurteilt worden. Dieses war anwendbar, weil die entsprechenden Normen des DDR-Strafgesetzbuches ein höheres Strafmaß vorsahen. Das ging freilich erst, nachdem den Betroffenen die Berufung auf den im DDR-Grenzgesetz vorgesehenen Rechtfertigungsgrund für den Schußwaffengebrauch versagt worden war.
Bereits im Vorfeld der strafgerichtlichen Verurteilungen war über die Begründung hierfür heftig philosophiert worden. Einige begründeten mit dem Rückgriff auf überpositives Recht (Radbruch'sche Formel), andere mit einem Verstoß gegen allgemeine und vertragliche Regeln des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes, die auch für die DDR Verbindlichkeit gehabt hätten.
Sowohl den fachgerichtlichen als auch den Entscheidungen des BVerfG liegt eine Mischung beider Argumentationen zugrunde. Die gesetzliche Rechtfertigung sei durch eine Befehlspraxis überlagert gewesen, die für eine am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierte Begrenzung des Schußwaffengebrauchs keinen Raum mehr gelassen habe. Die DDR habe für einen Bereich schwersten kriminellen Unrechts die Strafbarkeit ausgeschlossen, zu solchem Unrecht aufgefordert und so die in der Völkerrechtsgemeinschaft allgemein anerkannten Menschenrechte in schwerwiegender Weise mißachtet. Deshalb sei es den Beschwerdeführern heute verwehrt, unter Berufung auf das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 Grundgesetz diesen Rechtfertigungsgrund geltend zu machen.
Selbst wenn man dieser Argumentation folgen würde (was schon deshalb zweifelhaft ist, weil niemand genau weiß, was Inhalt dieser überpositiven Rechtsordnung ist und für die bemühten völkerrechtlichen Grundsätze bis heute ein fachgerechter Nachweis fehlt), bliebe jedenfalls für den betroffenen Mauerschützen die Frage offen, ob er im Zeitpunkt der Tat in der Lage war, das Unrecht seiner Tat zu erkennen, also schuldhaft gehandelt hat. Dies wird mit der Begründung bejaht, zumindest die Tötung eines unbewaffneten Flüchtlings durch Dauerfeuer sei - wie im geprüften Fall - ein derart schreckliches und jeder Rechtfertigung entzogenenes Tun gewesen, daß der Verstoß gegen Verhältnismäßigkeit und elementares Tötungsverbot auch für einen indoktrinierten Menschen ohne weiteres einsichtig und damit offensichtlich war.
Diese Feststellung läßt aber für anders geartete Fälle durchaus Raum zur Differenzierung auf der Schuldebene.

Susanne Zühlke, Potsdam.

Quellen und Literatur:

(zum Urteil) vgl. Pressemitteilung des BVerfG Nr. 69/96 v. 12.11.1996, Neue Juristische Wochenschrift 1996, Heft Nr. 49, S. XIV.
(zum Hintergrund) Eser, Albin, Festschrift für Walter Odersky, 1996, 337 ff.; Weber, Forum Recht 1992, 98 ff.