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Der zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) hat mit einstimmigen
Beschlüssen vom 26. Oktober 1996 die Verfassungsbeschwerden von drei ehemaligen
Mitgliedern des Nationalen Verteidigungsrates der DDR und die eines sogenannten
Mauerschützen zurückgewiesen.
Die Beschwerdeführer waren vom Landgericht Berlin bzw. vom Bundesgerichtshof
wegen Totschlags nach bundesdeutschem Recht verurteilt worden. Dieses
war anwendbar, weil die entsprechenden Normen des DDR-Strafgesetzbuches
ein höheres Strafmaß vorsahen. Das ging freilich erst, nachdem den Betroffenen
die Berufung auf den im DDR-Grenzgesetz vorgesehenen Rechtfertigungsgrund
für den Schußwaffengebrauch versagt worden war.
Bereits im Vorfeld der strafgerichtlichen Verurteilungen war über die
Begründung hierfür heftig philosophiert worden. Einige begründeten mit
dem Rückgriff auf überpositives Recht (Radbruch'sche Formel), andere mit
einem Verstoß gegen allgemeine und vertragliche Regeln des völkerrechtlichen
Menschenrechtsschutzes, die auch für die DDR Verbindlichkeit gehabt hätten.
Sowohl den fachgerichtlichen als auch den Entscheidungen des BVerfG liegt
eine Mischung beider Argumentationen zugrunde. Die gesetzliche Rechtfertigung
sei durch eine Befehlspraxis überlagert gewesen, die für eine am Grundsatz
der Verhältnismäßigkeit orientierte Begrenzung des Schußwaffengebrauchs
keinen Raum mehr gelassen habe. Die DDR habe für einen Bereich schwersten
kriminellen Unrechts die Strafbarkeit ausgeschlossen, zu solchem Unrecht
aufgefordert und so die in der Völkerrechtsgemeinschaft allgemein anerkannten
Menschenrechte in schwerwiegender Weise mißachtet. Deshalb sei es den
Beschwerdeführern heute verwehrt, unter Berufung auf das Rückwirkungsverbot
des Art. 103 Abs. 2 Grundgesetz diesen Rechtfertigungsgrund geltend zu
machen.
Selbst wenn man dieser Argumentation folgen würde (was schon deshalb zweifelhaft
ist, weil niemand genau weiß, was Inhalt dieser überpositiven Rechtsordnung
ist und für die bemühten völkerrechtlichen Grundsätze bis heute ein fachgerechter
Nachweis fehlt), bliebe jedenfalls für den betroffenen Mauerschützen die
Frage offen, ob er im Zeitpunkt der Tat in der Lage war, das Unrecht seiner
Tat zu erkennen, also schuldhaft gehandelt hat. Dies wird mit der Begründung
bejaht, zumindest die Tötung eines unbewaffneten Flüchtlings durch Dauerfeuer
sei - wie im geprüften Fall - ein derart schreckliches und jeder Rechtfertigung
entzogenenes Tun gewesen, daß der Verstoß gegen Verhältnismäßigkeit und
elementares Tötungsverbot auch für einen indoktrinierten Menschen ohne
weiteres einsichtig und damit offensichtlich war.
Diese Feststellung läßt aber für anders geartete Fälle durchaus Raum zur
Differenzierung auf der Schuldebene.
Susanne Zühlke, Potsdam.
Quellen und Literatur:
(zum Urteil) vgl. Pressemitteilung des BVerfG Nr. 69/96 v. 12.11.1996,
Neue Juristische Wochenschrift 1996, Heft Nr. 49, S. XIV.
(zum Hintergrund) Eser, Albin, Festschrift für Walter Odersky, 1996, 337
ff.; Weber, Forum Recht 1992, 98 ff.
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