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Menschenrechte - Bürgerrechte   Heft 1/2003
Szenen einer Ehe
Zum Verhältnis von Recht und Macht

Seite 13-14
oder die Wiederaneignung enteigneter politischer Sprache  
 

Der Kampf um die politische Sprache ist für Emanzipationsbewegungen von existentieller Bedeutung.1 Denn es ist ein charakteristisches Instrument der Herrschenden, den Menschen, die sich ihrer Unterdrückung bewusst werden und sich emanzipieren wollen, die Mittel ihrer politischen Sprache zu enteignen. Welche Freiheits- und Selbstbestimmungsrechte in einem Gemeinwesen Geltung besitzen, ist auch durch die Intensität geprägt, mit welcher die propagandistischen Phrasen am kritischen Unterscheidungsvermögen möglichst vieler Menschen abprallen. Eine authentische politische Sprache wäre eine, die ihr gesamtes Verständnis aus der emanzipatorischen Bewegung der Bedürfnisse und Interessen der Menschen zieht. Diese politische Sprache ist nicht durch Einzelne, Gruppen oder Kollektive in Besitz genommen, die diese ständig anwenden könnten: sie bildet sich vielmehr in einer Welt des Streites und des Kampfes, der Enteignung und der Wiederaneignung. Ein elementarer Begriff in der politischen Sprache war und ist auch der Begriff der Menschenrechte. Daher beginnt der Kampf um Menschenrechte mit dem Kampf um den Begriff der Menschenrechte. Denn Menschenrechte sind Kampfrechte, die nicht einfach zeitlos erworben oder verliehen werden, sondern in einem historischen Prozess einer begrifflichen Veränderung unterliegen.

Enteignung

Kein Leitbegriff, keine Idee, die das Selbst- und Gesellschaftsbild vieler Menschen ausdrückte, ist im letzten Jahrhundert unbeschädigt geblieben. Trotz alledem findet eine eigenartige Umverteilung der politischen Sprache statt. Eine mächtige Aufwertung erfahren heutzutage Begriffe wie: Staat, Nation, Kapital, Religion und Geld, die dann auch sogleich mit Freiheit, Selbstbestimmung und Demokratie assoziiert werden. Dem Bedeutungsgewinn dieser Worte entspricht die Entleerung von Begriffen wie Gemeinwesen, Gemeinwirtschaft, vernünftige gesellschaftliche Organisation etc..

Dass den Siegern in diesem Besatzungsfeldzug nur ein marginaler Widerstand entgegengesetzt wird, hängt sicherlich vielfach damit zusammen, dass die Linke ihre Begriffe zu wenig als "Griffe, mit denen Dinge und Verhältnisse in Bewegung gesetzt werden" (B. Brecht) gebraucht hat, sie vielmehr als leblose Substanzformeln aufbewahrt. Die gesamte Linke ist heute dem Dilemma ausgesetzt, dass sie einerseits den Verschleiß der Begriffe weder bestreiten noch verkennen kann, anderseits diese aber nicht dem Meinungsmarkt zur beliebigen Verwertung zu überlassen bereit ist. Was Tun? Die Enteignung bzw. Besetzung der politischen Sprache mit Schweigen und Sprachlosigkeit, vielleicht ohnmächtigem Protest beantworten oder mit der Waffe der Kritik um den Begriff als einem Griff zur Veränderung der Verhältnisse und um dessen Wiederaneignung kämpfen?

Die Dreiteilung des Menschenrechts

Die Erfahrung des Faschismus und anderer totalitärer Regime ist ein elementarer Grund dafür, dass in den letzten Jahrzehnten eine Internationalisierung der Menschenrechte betrieben wurde. Das Fundament hierfür bildet die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1950. Deren einzelne Artikel liegen auf so unterschiedlichen Ebenen, Wertigkeiten etc. und haben einen so verschiedenen Härtegrad der Bindung und Tatbestandsfeststellung von Verletzungen, dass sie jeder Regierung einen weiten Spielraum für Manipulationen lassen. Somit findet auch eine Selektion von Menschenrechtsartikeln statt, die spektakuläre Aufmerksamkeit versprechen, um so durch eine Mobilisierung der Weltöffentlichkeit Sanktionsgewalt ausüben zu können oder direkt militärische Aktionen zu rechtfertigen. Kaum verwunderlich ist es dann, dass auf der Anklagebank jahrzehntelang die Länder der Dritten Welt und des Ostblocks saßen. Die verletzten Rechte betreffen zumeist die Artikel welche die körperliche Integrität schützen: Folter, Sklaverei, Völkermord etc..

Es dürfte aber jedem klar sein, dass jedes Land seine eigenen Menschenrechtsprobleme hat. Solange dies nicht ins öffentliche Bewusstsein eingedrungen ist, bleiben die Menschenrechtsdeklarationen in sich gespalten. Tatsächlich zeigen sie eine innere Dreiteilung. Eine erste Gruppe bilden die oben genannten Schutzrechte, welche die Integrität des Körpers wahren sollen. Nur in einem verzerrten Blickwinkel werden dann noch die zweite Gruppe der bürgerlichen Freiheitsrechte wie Versammlungs-, Vereinigungs- und Meinungsfreiheit wahrgenommen, da sie auf einer anderen Wertigkeitsebene liegen. Die dritte Gruppe, welche heutzutage im toten Winkel liegt, geht über den Schutz der Integrität und die Verteidigung der politischen Mitwirkung hinaus. Sie soll ihrem Zweck nach ein Umfeld geistiger und materieller Bedingungen schaffen, die schutzwürdige Interessen und Objekte erst ermöglicht - die subjektiven Befreiungsrechte.

So hält Art. 3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte fest: "Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person". "Jeder Mensch hat also das Recht auf einen Ausstattungstatbestand von Lebensbedingungen, von konstituiertem Gemeinwesen für politische Freiheitsfähigkeit und von individuellen Sicherheitsvorkehrungen, der der Kulturstufe und dem objektiven Reichtum seiner Gesellschaft angemessen ist, damit er das in Art. 1 geforderte, ihm als Gattungswesen eigentümliche Leben zu führen im Stande ist."2 Explizit wird das dann auch in Art. 22 genannt, in dem es heißt: "Jeder Mensch hat als Mitglied der Gesellschaft [...] Anspruch darauf, [...] in den Genuss der für seine Würde und die freie Entwicklung der Persönlichkeit unentbehrlichen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen".

Das Grundgesetz unterstellt hingegen in Art. 1 die Menschenwürde als wäre sie gegeben, während die Staatsmacht lediglich zu Achtung und Schutz verpflichtet ist. Schutz der Würde ohne Schutz der Bedingungen derselben bleibt eine leere Forderung. Oder ein anderes Beispiel. Das Grundgesetz kennt zwar ein Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung aber kein Recht auf Wohnung. Das Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung erfährt staatlichen Schutz, d.h. der/die glückliche ErstbesitzerIn derselben wird geschützt, während demjenigen, dem dieser lebensnotwendige Grundbestand fehlt, rechtlich nicht geholfen werden kann. In der Menschenrechtsdeklaration sind die objektiven Verhältnisse mitbenannt: die Sicherung von lebendigen Prozessen als Rechte zur Selbstverwirklichung und die notwendigen Bedingungen zur Herstellung dieser. Die Grundrechte im Grundgesetz, als Schutz- und Verteidigungsrechte ausgestaltet, sind für diese Bereiche aber unwirksam, weil sie ihrer Struktur nach einen abstrakt-generellen Normengehalt haben. Doch wie kann man diesen Widerspruch, diese Spannung lösen bzw. Perspektiven eröffnen?

Wiederaneignung

Um der deutlichen Vereinseitigung der Menschenrechte wirksam begegnen zu können, muss die Menschenrechtserklärung als das Menschenrecht, also als unteilbares Ganzes begriffen werden. Dazu ist es unumgänglich, die Menschenrechte aus ihrem international fixierten Anwendungsbereich herauszuheben und dann auch auf die Verhältnisse jener Länder anzuwenden, in welchen sie im Zuge der Bürgerlichen Revolution entstanden sind. Die Menschenrechte sind durch eine Ankoppelung an die Bürgerrechte zurückzugewinnen, die unsere Kulturbedeutung der Menschenrechte und die alltägliche Umgangsweise mit ihnen, durch die sie erst praktisch werden, für unsere Verhältnisse erkenntlich machen. Die Menschenrechte der dritten Kategorie müssen über den Charakter der abstrakten und generellen Normen hinaus, wie sie unserem Grundgesetz zu eigen sind, eine konkret-allgemeine Bedeutung gewinnen, wie sie in der Struktur der Menschenrechte von Gebot und Verbot zu Grunde liegen. Dabei sind die Gebote darauf gerichtet, die Verhältnisse umzugestalten, unter denen Menschen ein entwürdigendes Dasein fristen, während die Verbote den Prozess der Umgestaltung gegen Eingriffe und Behinderungen schützen. Dementsprechend ist der Begriff der Menschenrechte auch ein Kampfbegriff, ein konkret-allgemeiner, in dem sich kleine Alltagsschritte der Selbstverwirklichung mit Zukunftsperspektiven der Allgemeinheit verbinden. Nur so können die Menschenrechte auf den jeweiligen kulturellen und sozialen Entwicklungsstand reflektiert werden, um sie als Prozess der Selbstbestimmung für den einzelnen wieder sichtbar und erfahrbar zu machen.

Es wäre aber unzulässig, die ersten beiden Kategorien der Menschenrechte ganz aus dem Bewusstsein der fortgeschrittenen kapitalistischen Welt herauszunehmen. Hunger, Elend, Rassendiskriminierung, gewalttätige Eingriffe in das Demonstrationsrecht etc. gehören auch in unserer Gesellschaftsordnung keineswegs der Vergangenheit an. Sie sind aber zivilisatorisch gebrochen, nur in der Form von Grenzfällen sichtbar, die weniger leicht erkennbar durch subtile Maßnahmen verdrängt, verschoben und kompensiert werden.

Der Kampfbegriff der Menschenrechte

Ein Beispiel, welches die zivilisatorische Durchbrechung der Grenzfälle näher verdeutlicht, ist die Folter. Die Folter steht in der europäischen Tradition unter dem Zeichen der Hexenprozesse und der Inquisitionsgerichtsbarkeit. Sie hatte den Zweck, durch gewalttätige Eingriffe in den Körper Geständnisse zu erzwingen. Auf diesen Zusammenhang von körperlichen Eingriffen, Zufügung von Schmerz und Erpressung von Geständnissen wird die Folter dann auch reduziert. Wenn das als Maßstab unterstellt wird, klingt der Begriff "Isolationsfolter" wie eine Verhöhnung der Leiden von Menschen in den Gefängnissen von Terrorregimen.

Doch die Menschen, die im Strafvollzugssystem der sog. "Isolationsfolter" unterliegen, gründen ihren Protest nicht auf die oben genannten Grausamkeiten. Trotzdem sind die Menschen mit ihren ausgebildeten gesellschaftlichen Sinnen in den Hochsicherheitstrakten von ihren natürlichen Objekten der Sinnbetätigung völlig abgeschnitten. Ihre entwickelten gesellschaftlichen Sinne finden keine Gesellschaft mehr, in der sie sich betätigen können. Dieser krasse Realitätsentzug kann bei einem hohen Vergesellschaftungsniveau der Menschen zu einer äquivalenten Schädigung im Sinne der anerkannten Folterdefinition führen, welche letztendlich auch den physischen Tod nicht ausschließt (Stammheim, Türkei). Nur durch eine Ausdehnung mit veränderten gesellschaftlichen Erfahrungen kann der politische Kampfbegriff der Menschenrechte bewahrt bleiben, gerade weil Rechte eine Dimension nach vorn haben, die sich nicht in der Vergangenheit erschöpft. Der wirtschaftliche und kulturelle Reichtum der jeweiligen Gesellschaft, zu dem auch das geschichtliche Bewusstsein für erfahrene Verletzungen gehört, bildet die übergreifende Leitnorm für die Interpretation sowohl der innerstaatlichen Grundrechte als auch der Menschenrechte. Das ist entscheidend für die Friedenssicherung im globalisierten Kapitalismus. Die Menschenrechte bleiben am Himmel der Deklaration hängen, solange sie nicht in den geschichtlichen Erfahrungsgehalten, die sich in scheinbar zeitlosen Normen verfestigt haben, für den Lebenszusammenhang einer bestimmten Gesellschaft konkretisiert werden.

André Jaschinski studiert Jura und lebt in Berlin.

Anmerkungen

1 Der Artikel ist geschrieben in Anlehnung an Negt, 2001, 377-403 und Negt / Kluge, 2001, 727-757.
2 Pulte, Peter (Hrsg.), Menschenrechte. Texte internationaler Abkommen, Pakte, Konventionen, Resolutionen und Empfehlungen, 1979, 79ff.

Literatur:

Negt, Oskar, Arbeit und menschliche Würde, 2001, 377-403.
Negt, Oskar / Kluge, Alexander, Gemeinsame Philosophie. Band 1. Der unterschätzte Mensch, 2001, 727-757.