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Status quo bei der EU-Grundrechte-Charta?   Heft 1/2004
Europavisionen
Ode an die Freude?

Seite18-19
Grundrechtsschutz nach der gescheiterten EU-Verfassung  
 

Die Staats- und Regierungschefs der EU nahmen in Brüssel Ende 2003 den Entwurf des Verfassungskonvents nicht an. Der EU-/EG-Vertrag bleibt also in der Fassung von Nizza in Kraft. Auch in nächster Zukunft ist nicht mit einer Einigung über eine EU-Verfassung zu rechnen. Für den Fall einer Einigung bleibt der Verfassungsentwurf (VE) für den Grundrechtsschutz aktuell, denn die Verhandlungen scheiterten nicht an der EU-Grundrechte-Charta. Daher lohnt ein Blick auf die Änderungen, die der VE im Hinblick auf die Grundrechte-Charta enthält.
Als Zugeständnis an Gastgeber Deutschland gab der Europäische Rat 1999 in Köln die Erarbeitung einer Grundrechte-Charta in Auftrag. Diese sollte die in der EU geltenden Grundrechte zusammenfassen und transparenter machen. Ende 2000 konnte die Charta nur feierlich verkündet werden, denn wegen des britischen Widerstands wurde vorläufig von einer Aufnahme in die Europäischen Verträge abgesehen. Die Charta wäre sonst rechtsverbindlich geworden.
Für den VE wird das bezweifelt: die Formulierung, dass die EU die in der Charta enthaltenen Rechte und Pflichten anerkennt (Art. I-7 VE), sei unklar und so hätte der Europäische Gerichtshof (EuGH) über den rechtlichen Status zu entscheiden.1 Das ist nicht notwendig, denn durch den Verweis auf die im Vertrag enthaltene Charta (Art. I-7 Abs. 2 VE) wird diese rechtsverbindlich.2 So ging der Grundrechte-Konvent bei der Ausarbeitung der Charta von dieser Situation aus; auch die EU-Rechtsprechung bezog sich schon auf die Charta.3

Grundrechte sekundär

Dem Anspruch der Grundrechte als Fundament des Handelns der EU (Art. I-2 VE) kann eine Charta im zweiten Teil der Verfassung aber nicht genügen. Dies wiegt um so schlimmer, als die EU-BürgerInnen sich erst durch Hunderte von Artikeln kämpfen müssen, bevor sie die ihnen zustehenden Grundrechte erkennen können. Die Länge des VEs wird damit verteidigt, dass das deutsche Grundgesetz (GG) noch länger sei.4 Den Unterschied macht aber nicht die Länge, sondern ob sich die Grundrechte den BürgerInnen unmittelbar erschließen. Die Grundrechte sind im GG an erster Stelle genannt, womit ihre Bedeutung hervorgehoben und die Abkehr von der grundrechtslosen NS-Zeit verdeutlicht wird. Auch in den meisten anderen europäischen Verfassungen setzt der Grundrechtekatalog schon nach wenigen einleitenden Artikeln ein.5

Zwei Präambeln

An der Präambel des Entwurfs wird u.a. die Reihenfolge bei der Aufzählung der Werte kritisiert.6 Gravierender ist, dass der VE eine Präambel für die ganze Verfassung und auch die ursprüngliche Präambel der Charta enthält. Das ist keine elegante Lösung. Außerdem wird dadurch die Wirkung des gesamten Textes geschwächt: die Grundrechte-Charta wirkt wie ein Fremdkörper in der Verfassung. Präambeln sollen sich auch auf das Notwendige und Wichtige beschränken;7 die beiden Präambeln überlappen sich aber z.T. inhaltlich. Vielleicht wäre auch der bei der Charta beigelegte Streit um den Gottesbezug nicht wieder aufgeflammt, wenn die Charta-Präambel als Basis für eine einzige Verfassungspräambel gedient hätte.

"Remedies precede rights"

Positiv für den EU-Grundrechtsschutz ist am VE zunächst, dass die Charta rechtsverbindlich wird. Von Bedeutung ist aber v.a., inwieweit die Grundrechte geltend gemacht werden können. Großbritannien zögerte anfänglich, die Grundrechte-Charta rechtsverbindlich zu machen. Das könnte daran liegen, dass in der englischen Rechtstradition Rechtsmittel wichtiger sind als Rechte. So sind die historischen Freiheitsverbürgungen, Magna Charta und Habeas Corpus Act, eher mit Verfahrensrechten denn mit materiellen Rechten verbunden.8 Wichtiger erschien es, jemanden aus der Haft freizubekommen als diesem ein abstraktes Recht zu gewähren, das kaum durchzusetzen war. Ein Rechtssprichwort lautet: "remedies precede rights"9, oder genauer: "ubi remedium ibi jus: where there's a remedy there's a right"10. Ein Recht existiert praktisch nur, wenn es auch ein Rechtsmittel gibt, um es durchzusetzen.
Diese Erkenntnis lässt sich auf die Grundrechte-Charta übertragen: schön formulierte Rechte nutzen wenig, solange sie nicht einklagbar sind. Im VE werden jedoch die bestehenden Klagemechanismen nicht im Hinblick auf die Einbindung der Charta angepasst.

Verbesserte Nichtigkeitsklage?

Einen Ansatz für die Rechtsdurchsetzung bietet die individuelle Nichtigkeitsklage nach Art. 230 Abs. 4 EG. Danach kann jede natürliche oder juristische Person gegen Rechtsakte der EG klagen, sofern sie den EG-Vertrag verletzen; dann wird der betreffende Rechtsakt vom EuGH für nichtig erklärt. Angreifbar sind Rechtsakte, die direkt gegen die KlägerInnen ergingen oder sie unmittelbar und individuell betreffen. Auch Verordnungen oder an andere Personen ergangene Entscheidungen sind also angreifbar. Nach der sog. "Plaumann"-Formel ist individuell betroffen, wen der angegriffene Rechtsakt wegen persönlicher Eigenschaften oder wegen besonderer Umstände berührt und dadurch so ähnlich individualisiert wie eine AdressatIn.11
Um die Anwendbarkeit der Nichtigkeitsklage gegen indirekte Rechtsakte zu erweitern, sollte der Wortlaut in "direkt oder individuell" statt "direkt und individuell" geändert werden.12 Doch fragt sich, ob dies ausreicht, um die Erfolgschancen einer Nichtigkeitsklage zu erhöhen. Denn in der Praxis wird v.a. das Merkmal "individuell" sehr restriktiv gehandhabt.13 So wurde der Versuch einer weiten Auslegung dieses Merkmals durch das Gericht erster Instanz (EuG)14 vom EuGH abgelehnt: individuelle Betroffenheit liege nicht vor, wenn die Rechte eines Klägers durch eine Verordnung beeinträchtigt werden, die dessen Rechte einschränkt oder ihm Pflichten auferlegt.15 Ein Problem besteht in Fällen, wo dem Klagenden weder nationale noch andere Klagen nach EG-Recht eröffnet sind. Eine zu enge Auslegung des Art. 230 Abs. 4 EG würde KlägerInnen keinen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz mehr gewähren. Der Hinweis des EuGH, dass die Mitgliedstaaten den effektiven Rechtsschutz garantieren sollen, ist dabei wenig hilfreich. Wenn der EuGH eine Klage nicht zulässt, weil auf nationaler Ebene effektiver Rechtsschutz gewährleistet ist, dann heißt das im Umkehrschluss, dass er eine Klage zulassen muss, wenn nationaler Rechtsschutz nicht garantiert ist.16 Denn sonst würde eine Situation der Rechtsverweigerung entstehen.

Zwar mag eine weite Auslegung des Merkmals "individuell" wie durch das EuG zu einem Anstieg der Klagen führen.17 Doch würde die Überlastung nicht den EuGH, sondern das EuG als für Individualklagen zuständiges Gericht treffen. Eine Interpretation der "individuellen Betroffenheit" wie im Urteil "Jégo-Quéré" wäre kohärenter und weniger komplex; zudem stünde sonst einem ausgewachsenen Grundrechtekatalog eine nur rudimentäre Klagemöglichkeit gegenüber. Dies wäre auch angesichts der jüngsten Entwicklungen beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EuGMR) bedenklich. Infolge seiner chronischen Überlastung liegen nämlich Reformvorschläge vor, die Zulässigkeitsbedingungen der Individualklage bei der Europäischen Menschenrechtskonvention zu verschärfen.18 Für den endgültigen Verfassungstext bleibt zu wünschen, dass dem indirekten Aufruf des EuGH19 gefolgt wird und die Vorschriften bezüglich der Klagebefugnis bei Nichtigkeitsklagen ergänzt werden.

(K)eine neue Klage ?

Eine eigenständige Grundrechtsbeschwerde20 würde die Bedeutung der Charta unterstreichen, doch der Konvent über die Zukunft Europas blieb auf halbem Wege stehen.21 Eine eigenständige Klage könnte nach dem "Freiburger Vorschlag" von Schwarze entsprechend der deutschen Verfassungsbeschwerde gestaltet sein.22
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) stellt allerdings hohe Anforderungen an den Erfolg von Verfassungsbeschwerden. Trotz ihrer Beliebtheit sind nur knapp 3 % dieser Klagen erfolgreich. Überträgt man diese Zahlen auf EU-Ebene, so müsste sich eine der deutschen Verfassungsbeschwerde vergleichbare Klage erst in der gemeinschaftsrechtlichen Praxis bewähren. Einen praktischen Einwand hat der Präsident des BVerfG, Papier: bei fast 500 Millionen BürgerInnen sei eine EU-Verfassungsbeschwerde technisch nicht zu bewältigen; denkbar sei die Übernahme der Aufgabe durch die nationalen Verfassungsgerichte.23
Das würde zwar ihrem Bedeutungsverfall entgegen wirken, ist aber bedenklich, da die nationalverfassungsrichterliche Kontrolle nicht nur nationale Behörden betrifft, soweit sie Unionsrecht anwenden, sondern auch Akte der EU-Organe. EU-Organe müssten sich also nationalgerichtlichen Entscheidungen unterwerfen, was mit dem Grundsatz vom Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts24 unvereinbar wäre. Zudem besteht die Gefahr divergierender Auslegungen der Charta durch die nationalen Verfassungsgerichte. Ein Vorlageverfahren könnte dennoch eine einheitliche Rechtsprechung gewährleisten. Ein solches wird auch bei der Reform des EuGMR diskutiert.25 Für die EU-Grundrechte-Charta könnte auf das Vorabentscheidungsverfahren gem. Art. 234 EG zurückgegriffen werden, wonach der EuGH über Auslegungsfragen des EG-Vertrags entscheidet. Nach dem VE wäre die Charta Bestandteil der Verfassung; der EuGH könnte sie also interpretieren. Die nationalen Verfassungsgerichte unterlägen als Gerichte in letzter Instanz der Vorlagepflicht.
Die Vorlageverfahren könnten von einer Grundrechtekammer durchgeführt werden. Nach Art. 225a EG können zur Entlastung von EuGH und EuG Kammern mit einer spezifischen Funktion gebildet werde. Der EuGH ist ein multifunktionales Gericht: Er ist zugleich Verfassungs-, Verwaltungs-, Zivil-, Dienst- und Disziplinargericht. Die Verfassungsgerichtsbarkeit des EuGH z.T. einer dem EuG beigeordneten Grundrechtekammer zu überantworten, wäre also denkbar. Allerdings ist ein Vorlageverfahren nur soweit durchführbar, wie das vorlegende Gericht eine Anwendung des EU-Rechts durch nationale Behörden überprüft.
Eine Grundrechtekammer hätte für die EU-BürgerInnen nur symbolische Wirkung, denn sie kann nicht darüber hinweg täuschen, dass den Grundrechtsschutz Suchenden der Zugang erschwert ist, solange es bei einer restriktiven Interpretation der Nichtigkeitsklage bleibt oder keine spezifische Grundrechtsbeschwerde vorgesehen ist.

Jean-Claude Alexandre Ho, Maître en Droit, LL.M. (Köln/Paris I) studiert Jura in Tübingen

Anmerkungen:

1 Chalmers, European Law Review (ELR) 2003, 449 (450).
2 Epping, JZ 2003, 823.
3 EuG, Urt. v. 30.01.2002 "Max Mobil".
4 Oppermann, DVBl 2003, 1168.
5 B: Art. 8; E: Art. 10; FIN: § 6; GR: Art. 4; I: Art. 2, 13; L: Art. 9; NL: Art. 1; P: Art. 12; S: § 16; TR: Art. 10.
6 Oppermann, (Fn.4), 1169.
7 Häberle, Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, FS Broermann, 1982, 211 (246).
8 Grewe/Ruiz-Fabri, Droits constitutionnels européens, 1995, 146.
9 David/Jauffret-Spinosi, Les grands systèmes de droit contemporains11, 2002, Rn. 224.
10 Lawson, Remedies of English Law, 1980, 1.
11 EuGHE 1963, 211 (238) "Plaumann".
12 Meyer, Editorial NJW 20/2003.
13 Cremer, Art. 230, Rn. 49, 58, in: Calliess/Ruffert, EU-Vertrag und EG-Vertrag, 1999.
14 Urt. v. 3. Mai 2002 "Jégo-Quéré" (T-177/01).
15 Urt. v. 25. Juli 2002 "Unión de Pequenos Agricultores" (C-50/00 P).
16 Hamer, JA 2003, 666 (671).
17 Hamer, (Fn. 15), 671; Ragolle, ELR 2003, 101.
18 Benoît-Rohmer, Dalloz 2003, 2584.
19 Kronenberger/Dejmek, European Legal Forum 2002, 265.
20 Renucci, Droit européen des Droits de l'Homme, 2002, Rn. 428; Mayer, Europäische Verfassungsgerichtsbarkeit, in: v. Bogdandy (Hrsg.), Europ. Verfassungsrecht, 2003, 278.
21 Epping, (Fn. 2), 827.
22 Meyer, (Fn. 12).
23 SPIEGEL-Gespräch, in: DER SPIEGEL 39/2003.
24 St.Rspr. seit EuGHE 1963, 1 ff "Van Gend & Loos".
25 Benoît-Rohmer,(Fn. 17), 2588ff.