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Politische Justiz   Heft 3/2004
Dataismus -
eine Gesellschaft überwacht sich selbst

Seite 106
 
 

Zellenkonstruktion

--> Revolutionäre Zellen. Der Prozess gegen die mutmaßlichen Mitglieder der "Revolutionären Zellen" (RZ) vor dem Berliner Kammergericht wurde als einer der letzten großen Terroristenprozesse bezeichnet. Das Gericht machte diesem Titel alle Ehre. Besser hätte es das Instrumentarium des "Anti-Terror-Systems" um den Paragraphen 129a Strafgesetzbuch (StGB) nicht anwenden können, um die fünf Beschuldigten entgegen grundlegender Regeln eines fairen Strafverfahrens zu verurteilen.
Am 18. März - bezeichnender Weise am Tag der politischen Gefangenen - wurden die fünf Angeklagten nach 174 Verhandlungstagen wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung sowie der Beteiligung an einem Anschlag auf die Zentrale Sozialhilfestelle für Asylbewerber (ZSA) in Berlin 1987 und einem versuchten Anschlag auf die Berliner Siegessäule 1991 verurteilt. Rudolf Schindler und Sabine Eckle erhielten wegen so genannter Rädelsführerschaft jeweils drei Jahre und neun Monate Freiheitsstrafe, Matthias Borgmann gar vier Jahre und drei Monate, weil er über den gesamten Prozess hinweg die Aussage verweigert hatte. Harald Glöde und Axel Haug wurden zu zwei Jahren und neun bzw. zehn Monaten verurteilt.
Die Aktionen der RZ knüpften oft an den Kampagnen sozialer Bewegungen an, seit Mitte der 1980er Jahre richteten sie sich vor allem gegen die AusländerInnen- und Asylpolitik der Bundesrepublik. In der Regel verursachten sie materiellen Schaden, der zugleich aber auch praktischen Nutzen haben sollte. So wurde unter anderem der Rechner im Ausländerzentralregister zerstört, um Menschen vor der Abschiebung zu retten, oder Supermärkte der Handelsgruppe Adler in Brand gesetzt, um die Lohnkämpfe der ArbeiterInnen in den sweatshops Asiens zu unterstützen. Für viele Linke galt diese Form der Politik als attraktiv, weil sie mehr war als der symbolische gewaltfreie Protest, sich aber nicht zu gezielten Tötungen hinreißen ließ. Obgleich sich die Militanz der RZ überwiegend gegen Sachen richtete, kam es vereinzelt auch zu Attentaten auf FunktionsträgerInnen des Staates. 1986 wurde dem damaligen Leiter der Berliner Ausländerbehörde Harald Hollenberg ins Bein geschossen und 1987 dem Vorsitzenden Richter des Asylsenats am Bundesverwaltungsgericht Günter Korbmacher.
Obwohl die Taten verjährt waren, wurden nicht zuletzt diese Anschläge immer wieder Gegenstand der Verhandlungen vor Gericht und dürften nach Ansicht von ProzessbeobachterInnen auch eine wesentliche Motivation für das Urteil gewesen sein. Hierbei folgte das Gericht im wesentlichen den Anträgen der Bundesanwaltschaft (BAW).

Täterwissen

Diese stützte ihre Beweisführung vornehmlich auf die Aussagen ihres Kronzeugen Tarek Mousli, der 1999 durch einen zufälligen Sprengstofffund verhaftet und später zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt worden war. Das milde Urteil für den Karatelehrer, dem immerhin ebenfalls Rädelsführerschaft in den RZ vorgeworfen worden war, sei aber für das Gericht kein Beleg, dass Mousli "die Angeklagten [...] aus Eigennutz über Gebühr belastete". Die Vorsitzende Richterin Gisela Henning wies die Feststellung der Verteidigung zurück, dass Mousli mittels einer hohen Haftandrohung zu den Einlassungen gedrängt worden sei, mit den Worten zurück: "das ist keinesfalls Nötigung, [...], sondern ein zulässiges Mittel der Strafverfolgungsbehörden." Zudem beinhalteten die Aussagen des mittlerweile im Zeugenschutzprogramm des Bundeskriminalamtes (BKA) aufgenommenen Kronzeugen eine "Fülle von Täterwissen".
Tatsächlich aber beruhten die Anschuldigungen Mouslis vielfach auf Hörensagen und wiesen eine Reihe von Widersprüchen und offensichtlichen Falschbehauptungen auf. So stimmte etwa der von ihm beschriebene Aufbau des Sprengsatzes für die ZSA nicht mit den Untersuchungsergebnissen des BKA überein. Beispielhaft ist auch die Behauptung Mouslis, im alternativen Berliner Mehringhof befände sich ein Waffen- und Sprengstoffdepot der RZ, das die Polizei trotz wiederholter Durchsuchung nie finden konnte. Als polizeilich dokumentierte Lüge stellte sich schließlich auch die Beschuldigung heraus, dass der Angeklagte Glöde sich an dem Sprengstoffanschlag von 1987 beteiligt haben soll, während er tatsächlich im Polizeigewahrsam saß. Und schließlich bekannte sich eine Zeugin zu den Schüssen auf die Knie Hollenbergs, welche Mousli Schindler in die Schuhe schieben wollte.
All das blieb vom Gericht unbeachtet. Da nützten auch die Teilgeständnisse von vier Angeklagten nichts, mit denen sie den Kernaussagen des Kronzeugen widersprachen. Im Gegenteil: Die Angeklagten hatten sich nach Auffassung des Gerichts damit zur Mitgliedschaft in den RZ bekannt. Wesentliche Teile der Anklage und die Glaubwürdigkeit des Hauptzeugen seien somit "erhärtet worden". Ein Urteil, das sich nur mit Hilfe des Terrorismusparagraphen 129a StGB konstruieren lässt. Mit dem Kollektivstraftatbestand müssen konkrete Tatbeteiligungen nicht nachgewiesen werden, die unterstellte Zugehörigkeit zu einer inkriminierten Gruppe reicht aus, um die Betroffen für die strafbaren Handlungen der Gruppe haftbar zu machen.
Die Betroffenen können sich mit der von der Verteidigung angekündigten Revision neue Hoffnung machen. Die Linke, die das Verfahren gegen die RZ am Ende nur noch marginal begleitet hatte, hätte dann ebenfalls die Möglichkeit, ihr Verhältnis zu diesem offenkundig politisch motivierten Prozess zu revidieren. Denn die BAW verfolgte mit dem Prozess nicht nur eine endgültige Abrechnung mit den Revolutionären Zellen, sondern beanspruchte auch die Deutungshoheit über einen wichtigen Teil ihrer Geschichte - und damit auch über die Historie der radikalen Linken. (str)

(Infos: www.freilassung.de)

Letzte Chance

--> Nationalsozialismus. Die Mühlen der Justiz mahlen langsam. Da könnte man froh sein, dass sich der Prozess des Ablebens bei so manchem Nazi der Verfahrensdauer angepasst hat. Derzeit laufen nach Angaben des Simon-Wiesenthal-Zentrums in Deutschland noch 58 Strafverfahren gegen NS-KriegsverbrecherInnen. Das Zentrum stellte fest, dass einige Verfahren nur langsam voran getrieben würden und befürchtet, dass angesichts der noch verbleibenden Zeit zur Verfolgung der TäterInnen ein Scheitern der Ermittlungen droht. Mit der "Operation letzte Chance" will die in Jerusalem ansässige Organisation derweil die letzten noch lebenden NS-VerbrecherInnen in Europa aufspüren.