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Hartz IV - Fordern statt fördern   Heft 3/2005
Hartz fear

Seite 76-79
 
 

"Fördern und Fordern" - unter diesem Motto will die rot-grüne Bundesregierung insbesondere junge Menschen ohne Arbeit wieder in den Arbeitsmarkt bringen. Mit Hartz IV sollen deshalb in der Praxis insbesondere junge Arbeitslose gezwungen werden, "zumutbare Arbeitsangebote" anzunehmen. Neuere Untersuchungen lassen aber deutlich zutage treten, dass die Arbeitsmarktreform von Rot-Grün ein Irrweg mit gravierenden Folgen für die Betroffenen ist.

Umstrukturierung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe

Hartz IV ist mit erheblichen Veränderungen für die in Deutschland lebenden Menschen ohne Arbeit verbunden.1 Kernstück der Reform ist die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zum neuen Arbeitslosengeld II (ALG II). Die Arbeitslosen erhalten künftig neben einer für angemessen befundenen Miete eine soziale Grundsicherung von 345 € im Westen und 331 € im Osten.
Entsprechend der neuen Devise sollen Arbeitslose zukünftig stärker gezwungen werden, auch wenig attraktive Jobangebote anzunehmen. Bereits vor der Gesetzesänderung mussten Arbeitslose und SozialhilfeempfängerInnen zumutbare Arbeitsangebote annehmen. Durch Hartz IV wird der Bereich der zumutbaren Arbeitsangebote massiv ausgeweitet: Zumutbar ist nach § 10 Sozialgesetzbuch II (SGB II) grundsätzlich jede legale Arbeit.2
Immerhin erhalten die jugendlichen Erwerbslosen zwischen 15 und 25 Jahren mit Hartz IV einen Rechtsanspruch auf Vermittlung in eine Arbeit, Ausbildung und Weiterbildung.3 Die Erfolge beim Versuch, die bundesweit inzwischen über 516.000 Arbeitslosen unter 25 Jahren in Lohn und Brot zu bringen, hielten sich jedoch bisher in Grenzen.

Arbeitszwang

Der Grundidee von Hartz IV folgend soll durch finanziellen Druck die Bereitschaft zur Annahme von Arbeit erzwungen werden. Weil viele der angebotenen Arbeiten und sog. Fortbildungsmaßnahmen wenig attraktiv sind, sieht das Gesetz ein abgestuftes System von Kürzungen des ALG II vor, um die Arbeitslosen zur Mitarbeit zu "motivieren". Die Ablehnung des Jobangebotes hat zur Folge, dass das Arbeitsamt die Grundsicherung um 30 % kürzen darf. Weigert sich die oder der Betroffene weiterhin, wird die Grundsicherung abermals um 30 % gekürzt. Hilft auch dies nicht, werden statt der Geldauszahlung nur noch Sachleistungen zur Verfügung gestellt.
Kürzungen drohen auch, wenn die oder der Arbeitslose die sog. Eingliederungsvereinbarung gemäß § 15 SGB II nicht unterschreibt. Hierin wird u.a. festgelegt, welche Bemühungen die oder der Erwerbslose zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt unternehmen muss. Wird die "Vereinbarung" nicht unterschrieben, kann ein Verwaltungsakt desselben Inhalts erlassen werden. Besonders perfide ist die Sprache, mit der kaschiert werden soll, dass es sich bei den Neuregelungen um ein ausgeklügeltes System der Sozialdisziplinierung handelt, welches gegebenenfalls auch mit spürbarem Zwang gegen Menschen vorgeht, die sich gegen ihren sozialen Abstieg wehren.
Viele Jugendliche haben wenig Hoffnung, mittels der sog. Arbeits- und Fortbildungsangebote eine Perspektive auf dem Arbeitsmarkt zu erlangen. Sie verweigern die Mitarbeit. Im April 2005 war bereits 30.000 erwerbslosen Jugendlichen das Arbeitslosengeld gestrichen worden, weil diese nicht bei den Arbeitsagenturen erschienen sind.4 Im Folgenden wird gezeigt, auf welche weiteren Bereiche der sanktionsbewährte Zwang zur Arbeit Einfluss erhält.

Regulärer Arbeitsmarkt

Die ArbeitnehmerInnen werden durch die neuen Zumutbarkeitsregelungen verpflichtet, erhebliche berufliche Verschlechterungen, die mit massiven finanziellen Einbußen verbunden sind, hinzunehmen. Zumutbar ist laut § 10 Abs. 1 SGB II grundsätzlich jede Arbeit, soweit diese nicht sittenwidrig ist. Sittenwidrigkeit kann etwa durch Lohndumping eintreten. Das Lohnniveau ist in Deutschland als Folge der hohen Arbeitslosenzahlen massiv gesunken. Nicht wenige ArbeitgeberInnen scheinen die prekäre Situation auf dem Arbeitsmarkt bewusst auszunutzen.
Die Gerichte haben dieser Entwicklung bisher nicht Einhalt geboten. So ist Lohndumping nach Auffassung des Sozialgerichts Berlin erst dann sittenwidrig, wenn die Bezahlung ein Drittel des ortsüblichen Tariflohns unterschreitet.5 Werden Arbeitslose in Zukunft verstärkt gezwungen, auch solche untertariflichen Arbeitsbedingungen hinzunehmen, stellt der Staat die Tarifautonomie in Frage. Das zunehmende Lohndumping auf dem Arbeitsmarkt erhält durch Hartz IV unter tatkräftiger Unterstützung der Rechtsprechung eine weitere tragende Säule.

"Ein-Euro-Jobs"

Neben den regulären Arbeitsangeboten sollen mit Hartz IV mehrere 100.000 sog. Ein-Euro-Jobs geschaffen werden. Die Betroffenen erhalten anstelle eines regulären Arbeitslohns neben dem ALG II nach § 16 Abs. 3 SGB II eine sog. Mehraufwandsentschädigung. Die Arbeitslosen dürfen dieses Geld als zusätzliche Einnahmequelle für sich behalten. Durch sie wird aber - wie sich aus § 16 Abs. 3 S. 2 2. Hs. SGB II ergibt - kein Arbeitsverhältnis begründet, was zur Folge hat, dass die JobberInnen keinen Anspruch auf Lohn im Krankheitsfalle, bezahlten Urlaub oder betriebliche Mitbestimmung haben.
Ein-Euro-Jobs sind unter folgenden Bedingungen erlaubt: Wie auch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) müssen diese zusätzlich sein und sollen keine regulären Beschäftigungsverhältnisse verdrängen. Sie müssen ferner gem. § 16 Abs. 3 S. 2 SGB II im öffentlichen Interesse liegen. Damit ist gemeint, dass die Arbeiten vor allem dem öffentlichen Wohl und nicht primär erwerbswirtschaftlichen Zwecken dienen sollen.6 Die Betroffenen werden in der Praxis zur Reinigung von Grünanlagen oder zu Arbeiten im sozialen Bereich gezwungen, für welche die ALG II-EmpfängerInnen regelmäßig gar nicht befähigt sind. Es ist deshalb zu befürchten, dass hilfsbedürftige Menschen in sozialen Einrichtungen zunehmend von unqualifizierten Pflegekräften mit geringer Arbeitsmotivation versorgt werden. Die Ein-Euro-Jobs sorgen für erheblichen sozialen Unfrieden, da zu Recht befürchtet wird, dass die ebenfalls unter Kostendruck leidenden sozialen Einrichtungen und Kommunen in die Versuchung gelangen, fest angestellte ArbeitnehmerInnen durch Ein-Euro-JobberInnen auszutauschen.7 So werden bereits in einigen Schulen die Wände von Ein-Euro-JobberInnen statt von ausgebildeten Malern gestrichen.

"Trainingsprogramme"

Arbeitslose haben ferner die Verpflichtung, an sog. Trainingsprogrammen teilzunehmen. Viele der Langzeitarbeitslosen haben keine abgeschlossene Ausbildung. In den letzten Jahren bilden immer weniger Betriebe aus. Das aber ist eine fatale Entwicklung, denn Erwerbslose mit abgeschlossenen Ausbildungen finden wesentlich schneller einen neuen Arbeitsplatz.
Aus diesem Grund haben die Arbeitsämter in der Vergangenheit mit z. T. großem Erfolg mehrjährige Umschulungen bezahlt. Das der Bundesanstalt für Arbeit unterstehende Institut für Arbeitsmarkt-und Berufsforschung fand heraus, dass die Chance von UmschulerInnen, einen Job zu finden und diesen auch auf lange Sicht zu behalten, besonders groß ist.8
Daneben gab es aber auch vor der Hartz-Reform bereits zahlreiche ABM-Maßnahmen, die treffend als "Verschiebebahnhöfe" bezeichnet wurden, da von ihnen praktisch keine berufsqualifizierenden Wirkungen ausgehen. Viele Betroffene haben wohl nicht zu Unrecht den Eindruck, dass solche ABM-Maßnahmen in erster Linie der Schönung der Arbeitslosenstatistik dienen.
Mit Hartz IV wurde das Umschulungskonzept zum Auslaufmodell: Die Zahl der beruflichen Weiterbildungen sank zwischen Dezember 2003 und Dezember 2004 von rund 235.000 TeilnehmerInnen auf 149.000.9 Einher geht diese Entwicklung mit einem Abbau von Arbeitsplätzen in der Weiterbildungsbranche: Schätzungen der Gewerkschaften zur Folge haben mindestens 25.000 MitarbeiterInnen in diesem Bereich ihren Arbeitsplatz verloren. Dieser Trend setzt sich fort, seitdem die ArbeitsvermittlerInnen der Bundesanstalt für Arbeit immer weniger Bildungsgutscheine vergeben.10

Aussteuerungsbetrag

Hintergrund dieser Entwicklung sind die Finanzierungsfragen, die sich aus der Trennung von ALG I und ALG II ergeben. Wenn ALG I-BezieherInnen nach einem Jahr in die Gruppe der ALG II-BezieherInnen wechseln, muss die Arbeitsagentur nach § 46 Abs. 2 SGB II einen sog. Aussteuerungsbetrag in Höhe des zwölffachen monatlichen Zahlbetrages, das sind ca. 10.000 € an den Bundeshaushalt erbringen. Für 2005 ist ein Gesamtbetrag von 6, 7 Milliarden € geschätzt. Dieser Betrag liegt deutlich über den vier Milliarden, die der Bundeshaushalt an die Bundesagentur abführt. Der Aussteuerungsbetrag hat Sanktionscharakter. Die Arbeitsvermittler sind gehalten, sich vorrangig mit der Vermittlung der kurzzeitig erwerbslosen ALG I-Empfänger zu beschäftigen, um die "Strafzahlung" zu vermeiden.11 Die MitarbeiterInnen der Agenturen sollen deshalb Kosten für Weiterbildungen nur dann übernehmen, wenn noch vor einem Wechsel in die ALG II-Gruppe eine Beschäftigung als wahrscheinlich gilt.12 Hartz IV hält nicht, was es verspricht. Das Motto lässt sich daher wohl treffender mit dem Stichwort: "Fordern statt Fördern" zusammenfassen.

Wandel des Sozialstaatsprinzips

Hartz IV geht mit einem grundlegenden Wandel des Sozialstaatsprinzips einher. Während vor 1949 kein rechtlicher Anspruch auf Fürsorge bestand, da nach altem preußischem Recht die Fürsorge dem Bedürftigen lediglich aus Gründen der öffentlichen Ordnung, nicht aber um seiner selbst willen zu gewähren war, änderte sich dieser Zustand mit Inkrafttreten des Grundgesetzes. Aus der Gnade wurde ein Rechtsanspruch. Das Sozialstaatsprinzip in Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz (GG) beinhaltet den Anspruch auf ein Existenzminimum, und zwar nicht nur auf das physische, das den Menschen vor dem Verhungern und Verdursten schützt, sondern auf das sogenannte soziokulturelle, das eine Teilnahme am gesellschaftlich-kulturellen Leben ermöglicht.
Das Bundesverfassungsgericht hat 1990 in einem Aufsehen erregenden Urteil entschieden, dass das Einkommen insoweit steuerfrei belassen sein muss, als es zur Schaffung der Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein benötigt wird.13 Den bedürftigen Bürgerinnen und Bürgern soll durch die Zuwendung ermöglicht werden, in der Umgebung von nicht bedürftigen Bürgerinnen und Bürgern ähnlich wie diese zu leben. Sie soll also Ausgrenzung verhindern. Nur dann wird es der Hilfeempfängerin oder dem Hilfeempfänger ermöglicht, ein Leben zu führen, das der menschlichen Würde gemäß Art. 1 GG entspricht.14
Vor Hartz IV bestand die Sozialhilfe aus einem Regelsatz in Höhe von knapp 300 € , der Miete und einer Fülle von Einzelleistungen, die vom Hilfeempfänger in bestimmten Situationen benötigt und nicht vom Regelsatz bezahlt werden mussten. Der Regelsatz differierte je nach Kommune; die dortigen Lebenshaltungskosten wurden berücksichtigt. Nunmehr wird lediglich zwischen West (345 €) und Ost (331 €) unterschieden. Das jetzige ALG II erfasst Einzelleistungen nur noch im Ausnahmefall. Bisher wurde beispielsweise eine Waschmaschine als einmalige Sozialhilfeleistung nach § 21 I a Nr.6 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) gewährt.
Heute würde die Waschmaschine gemäß § 23 III Nr. 1 SGB II nur noch im Rahmen der Erstausstattung einer Wohnung gestellt. Sollte das Gerät irgendwann defekt sein, wird kein weiteres gewährt. Es müsste von der Pauschale bezahlt werden, was realistischerweise bei diesen Beträgen kaum möglich erscheint. Da der Politik dies auch bewusst ist, bietet sie statt der Gewährung der Hilfe nunmehr "großzügig" ein Darlehen an (§ 23 I 1 SGB II).
Grundsätzlich ist die Umgestaltung der Sozialhilfe in Form des leicht erhöhten Regelsatzes ohne zusätzliche Einzelleistungen verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Die konkrete Ausgestaltung der Sozialhilfe ist Sache des Gesetzgebers.15 Er muss jedoch gewährleisten, dass durch die Sozialhilfe nach wie vor das soziokulturelle Existenzminimum gedeckt ist.

Ausgestaltung des neuen Regelsatzes

Ob dies der Fall ist, ist jedoch höchst fraglich.16 Nach § 28 SGB XII berücksichtigt die Regelsatzbemessung Stand und Entwicklung von Nettoeinkommen, Verbraucherverhalten und Lebenshaltungskosten. Grundlage sind die tatsächlichen, statistisch ermittelten Verbrauchsausgaben von Haushalten in unteren Einkommensgruppen.
Dieses komplizierte Rechenexempel ist nur für einen kleinen Kreis von ExpertInnen überhaupt nachvollziehbar. So erklärt es sich, dass nur wenige versucht haben, die Berechnungen nachzuvollziehen. Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat die Berechnungen analysiert und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass die Festlegungen der Regelsätze nicht nachvollziehbar, in vielen Punkten willkürlich und deutlich zu niedrig seien.17 So hält der Verband einen Regelsatz von mindestens 412 € für unverzichtbar, um das soziokulturelle Existenzminimum zu sichern.
Der Regelsatz setzt sich aus verschiedenen Produktgruppen zusammen, z. B. Nahrungsmittel, Bekleidung, Gesundheitspflege, Verkehr etc. Die getroffenen Festsetzungen sind im einzelnen sehr aufschlussreich. So sind im Rahmen des Regelsatzes für Westdeutschland in Höhe von 345 € für Freizeitveranstaltungen wie Theater, Kino und Sportveranstaltungen lediglich 4,63 € pro Monat für ALG II-EmpfängerInnen veranschlagt, für Bücher weitere 5,98 €. Die Pauschalen für Ostdeutsche fallen entsprechend niedriger aus. Wie mit diesen Beträgen eine Teilnahme am gesellschaftlich-kulturellen Leben, wie dies auch § 20 I SGB II n. F. vorsieht, möglich sein soll, erscheint rätselhaft.
Die von der Regierung beauftragten ExpertInnen, die Hartz IV verteidigen, rechtfertigen das geringe Leistungsniveau vor allem damit, dass die öffentlichen Kassen leer seien und daher nicht mehr Geld vorhanden sei.18 Angesichts der am 1. Januar 2005 in Kraft getretenen Steuerreform, die vor allem Großverdienern massive Entlastung bringt, überzeugt diese Argumentation nicht.

Neues Modell des "aktivierenden" Sozialstaates

Der Politik geht es in Wirklichkeit um die Etablierung eines neuen Sozialstaatsmodells. Während der bisherige Sozialstaat eine Absicherung der Hilfebedürftigen in allen Lebenslagen gewährleistete, soll das nach dem neuen Modell nicht mehr der Fall sein. Es liegt ein Bruch vor, was die Vorstellung von sozialen Bürgerrechten als unbedingten Ansprüchen angeht. Viviane Forrester stellt in ihrem Buch "Terror der Ökonomie" die Frage, ob man sich denn sein Recht zu leben erst verdienen müsse. Für das neue Sozialstaatsmodell ist dies nur eine rhetorische Frage. Die Antwort lautet selbstverständlich "ja".
Das weitgehende Entfallen der Einzelleistungen sowie der sehr niedrig bemessene Regelsatz sollen die Eigenverantwortung des Einzelnen stärken. Das neue Modell wird "aktivierender" Sozialstaat genannt. Ausgangspunkt ist die Annahme, Arbeitslose müssten aktiviert werden, um wieder in Jobs gebracht zu werden. Damit wird unterstellt, Arbeitslose seien passive faule Menschen, die wieder auf den rechten Weg gebracht werden sollen. Im Gesetz findet sich eine Vielzahl von Normen, die diese Vermutung nahe legen. So heißt es gleich am Anfang des Gesetzes in § 1 I 1 SGB II, dass die Grundsicherung für Arbeitssuchende die Eigenverantwortung von erwerbsfähigen Hilfebedürftigen stärken und dazu beitragen soll, dass sie ihren Lebensunterhalt unabhängig von der Grundsicherung aus eigenen Mitteln und Kräften bestreiten können. § 2 SGB II etabliert den Grundsatz des Forderns, der u. a. besagt, dass Hilfebedürftige aktiv an allen Maßnahmen zu seiner Eingliederung in Arbeit mitwirken, insbesondere eine Eingliederungsvereinbarung gemäß § 15 SGB II abschließen müssen. Eines der Ziele bei der Einführung der Ein-Euro-Jobs besteht darin, Langzeitarbeitslose wieder an regelmäßige Arbeit zu gewöhnen.
Es wird der Eindruck erweckt, Arbeitslosigkeit sei durch persönliches Verhalten verschuldet. Dass es bei über 5 Millionen offiziell gemeldeten Arbeitslosen nur einige Hunderttausend offene Stellen gibt und so auch bei bestmöglicher Vermittlung immer noch Millionen ohne Arbeit wären, wird dabei bewusst verschwiegen.

Zum Beispiel Paul Kirchhof

Ein exemplarischer Vertreter des neuen Sozialstaatsmodells ist der ehemalige Bundesverfassungsrichter Paul Kirchhof. Er vertritt die Ansicht, der Staat werde zum Gegner der Freiheit, indem die Bereitstellung von "ausufernden" (!) sozialen Leistungen den Freiheitswillen der Menschen zu ersticken drohe.19 Richtig ist jedoch das Gegenteil. Ohne eine gewisse finanzielle Basis ist persönliche Freiheit nicht denkbar. Solange die tatsächlichen Voraussetzungen für ihren Gebrauch nicht vorhanden sind, bleibt Freiheit substanzlos. Von ausufernden sozialen Leistungen kann in unserem Staat nicht die Rede sein. Dass diese - für das Existenzminimum unerlässlichen - Leistungen dem Leistungsempfänger obendrein schaden sollen, erscheint geradezu absurd und völlig lebensfern.

Das wahre Gesicht von Hartz IV

Die von der Politik verwendeten positiv besetzten Begriffe wie "Eigenverantwortung", "aktivierend" etc. sollen verschleiern, worum es in Wirklichkeit geht: um eine massive Senkung der Sozialausgaben zulasten der Arbeitslosen. Die hohe Arbeitslosigkeit verursacht naturgemäß erhebliche Kosten. Dies soll durch Hartz IV geändert werden. In einer Zeit, in der Arbeitslosigkeit ein Massenphänomen darstellt, das in den allermeisten Fällen nichts mit persönlichem Verschulden zu tun hat, stellt diese Maßnahme eine einseitige Bestrafung der Arbeitslosen dar. Nicht die Arbeitslosigkeit wird bekämpft, sondern die Arbeitslosen.
Während durch die Hartz-Gesetze bis Herbst 2005 eine Halbierung der Massenarbeitslosigkeit erreicht werden sollte, ist diese inzwischen auf über 5 Millionen angewachsen. Dadurch wird deutlich: Hartz IV ist in erster Linie ein großes Kostensenkungsprogramm, von dem keine neuen Arbeitsplätze zu erwarten sind. Abgesehen davon, dass das Gesetz zutiefst unsozial ist, ist es auch gesamtwirtschaftlich kontraproduktiv. Durch die Kürzung der Sozialeinkommen wird die Kaufkraft und damit die Binnenkonjunktur weiter geschwächt.20

Perspektiven einer neuen Politik des Sozialen

Angesichts der beschriebenen Situation ist eine gesamtgesellschaftliche Diskussion über Alternativen zur Politik des Sozialabbaus dringend nötig. Beispielsweise ist Arbeitszeitverkürzung ein gangbarer Weg, um die Arbeitslosenzahl zu senken. Durch die fortschreitende Technisierung ist die Produktivität so sehr gestiegen, dass mit immer weniger Menschen immer mehr Produkte hergestellt werden. Es spricht viel dafür, dass dauerhaft derart viele Arbeitskräfte eingespart werden, dass auch in wirtschaftlich florierenden Zeiten mit einem grundlegenden Sinken der Arbeitslosenzahlen nicht zu rechnen ist.21
Da immer weniger Arbeit vorhanden ist, sollte diese auf mehr Menschen verteilt werden. Stattdessen wird der gegenteilige Weg beschritten und die Arbeitszeiten werden schrittweise wieder erhöht. Arbeitszeitverlängerung dient Unternehmerinteressen, da sie faktisch die Löhne senkt. Verkauft wird sie jedoch von der Politik als Mittel zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.
Darüber hinaus sollte über den Ausbau des Sektors der öffentlichen Beschäftigung, insbesondere in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Kinderbetreuung, wo ein erheblicher Bedarf an Arbeitskräften herrscht, diskutiert werden. Die skandinavischen Länder, die weitaus geringere Arbeitslosenzahlen aufweisen, sind hier ein Vorbild. Der Ausbau des öffentlichen Sektors hätte neben einer besseren Versorgung der Bevölkerung die Schaffung von zahlreichen Arbeitsplätzen zur Folge. Die von unseren VolksvertreterInnen so gern vorgetragene These, die Politik könne keine Arbeitsplätze schaffen, ist so nicht richtig.
In Zeiten der Massenarbeitslosigkeit sollte es zudem eine gesamtgesellschaftliche Debatte über ein bedingungslos zu zahlendes Existenzgeld geben. Wenn Arbeitsplätze auf Dauer fehlen, werden andere Instrumente benötigt. Man muss von Arbeit leben können - und ohne Arbeit auch. Die immer wieder geäußerte Behauptung, für ein Existenzgeld seien nicht genügend Finanzmittel vorhanden, geht fehl. Zwar sind aufgrund einer verfehlten Steuerpolitik die öffentlichen Kassen weitgehend leer, in der Gesellschaft aber ist der Reichtum vorhanden. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass 0, 5 % der Bevölkerung 25, 7 % des Vermögens besitzt,22 ist die Frage nach der Finanzierbarkeit des Existenzgeldes eine rhetorische.
Doch zu einem solchen gesamtgesellschaftlichen Diskurs, wie mit den Problemen der Langzeitarbeitslosigkeit und der Armut umzugehen ist23, scheint die rot-grüne Bundesregierung nur sehr eingeschränkt bereit zu sein. Die Bundesregierung muss einräumen, dass die Zahl der Armen in Deutschland seit ihrem Amtsantritt von 12, 1 % auf 13, 5 % im Jahr 2003 angestiegen ist. Gleichzeitig wuchs das Nettovermögen um 17 % an.
Es wird deutlich, dass es politische Alternativen zum derzeitigen Sozialabbau gibt. Eine andere Sozialpolitik muss gegen das vorherrschende TINA-Dogma (There ist no Alternative) wieder offensiv eingefordert werden.

Tobias Mushoff und Regina Viotto arbeiten als wissenschaftliche/r Mitarbeiter/in an der Universität Bielefeld und freuen sich über Anmerkungen und Kritik.

Anmerkungen:

1 Hierzu: Dammann, Lena: Neue Vorschläge zur Umverteilung von Unten nach Oben, Forum Recht 2003, 112 ff.
2 Vgl. Löschau, Martin / Marschner, Andreas, Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, 2004, Rn. 260 ff.
3 Frankfurter Rundschau (FR) v. 29.03.2005.
4 FR v.14.04.2005.
5 SG Berlin, Urteil v.18.1.2002, Arbeit und Recht 2003, 120.
6 Löschau / Marschner a.a.O. Rn. 528.
7 Löschau / Marschner a.a.O. Rn. 528.
8 FR v. 29.03.2005.
9 FR v. 29.03.2005.
10 vgl. Steinfeld, Friedrich: Nach dem Systemwechsel in der Arbeitsmarktpolitik, in: Sozialismus 3/2005,4 (7).
11 Taz v. 15.12.2004.
12 FR v. 29.03.2005.
13 BVerfGE 82,60 (85).
14 BVerwGE 97, 376 (378).
15 BVerfGE 82, 60 (81).
16 Z.B. Rothkegel, Ralf: "Bedarfsdeckung durch Sozialhilfe - ein Auslaufmodell?", ZFSH/SGB 11/2003.
17 Martens, Rudolf (2004): "Zum Leben zu wenig...", Expertise im Auftrag des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes-Gesamtverband e. V., download unter www.paritaet.org
18 Joachim Rock: Das Maß der Armut und das Wunder der Regelsatzbemessung, in: Sozialismus, 2/2005, 14 (17).
19 Kirchhoff, Der Staat als Garant und Gegner der Freiheit, 34 ff.
20 Bischoff, Joachim: "Der Masterplan von Hartz und sein Scheitern" in: Sozialismus 11/2004.
21 Grimm, Dieter: Verfassungsrechtliche Anmerkungen zum Thema Prävention, in: Kritische Vierteljahresschrift 1986, 38, 43 f.
22 Dieter Eißel, Einkommens- und Vermögensentwicklung in Deutschland, in: Intervention, Heft 1, 2004, 28.
23 Vgl. Komitee für Grundrechte und Demokratie (Hrsg,.), Eine Politik sozialer Menschenrechte in Zeiten von Verarmung und Repression (2004).