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Wohlfahrtsstaat? Wohlfahrtsstaat!   Heft 4/2005
It's the equality, stupid!
Mit Recht gegen Diskriminierung

Seite 136-137
Zum Buch "Krise und Zukunft des Sozialstaates" von Christoph Butterwegge  
 

Christoph Butterwegge Krise und Zukunft des Sozialstaates VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2005 318 S., geb., EUR 24,90 ISBN 3-8100-4138-6

"In der Bundesrepublik Deutschland bildet das Soziale einen konstitutiven Bestandteil der politischen Kultur wie der Staatsarchitektur. Gleichwohl bemühen sich die etablierten Parteien seit geraumer Zeit, den Wohlfahrtsstaat um- bzw. abzubauen" (S. 9). So beginnt Christoph Butterwegge die Vorbemerkungen zu seinem Buch "Krise und Zukunft des Sozialstaates". Um diese Tendenz zum Abbau bewährter Strukturen zu verstehen, ist die wissenschaftliche Aufarbeitung der Funktion und der Geschichte des Wohlfahrtsstaates unabdingbar. Die dazu notwendigen Informationen hat der Kölner Politikwissenschaftler sorgfältig recherchiert und wissenschaftlich aufbereitet, herausgekommen ist ein wichtiger und lesenswerter Beitrag zur Debatte um den Sozialstaat und seine Funktion.

Die Funktion und die Geschichte des Sozialstaates

Zunächst muss man sich über Sinn und Zweck sozialstaatlicher Politik klar werden. Dient sie dem Erwerb von Rechtsansprüchen und dem damit verbundenen Lebensstandardprinzip inklusive einer Statussicherung oder geht es "lediglich" um die Vermeidung absoluter Armut? Während im ersten Fall beitragsfinanzierte Versicherungssysteme den Rechtsanspruch auf die Absicherung biometrischer oder gesellschaftlicher Risiken (Krankheit, Invalidität, Pflegebedürftigkeit, Arbeitslosigkeit und Alter) begründen, wird reine Armutsvermeidung meist durch eine Finanzierung über die allgemeinen Steuereinnahmen realisiert.
Die kontroverse Debatte über das bessere System ist dabei relativ alt und letztlich nicht entschieden, weil sich historisch unterschiedliche Typen staatlicher Absicherung herauskristallisiert haben, die nicht einfach auf andere Staaten übertragbar sind. Auf die Bundesrepublik bezogen macht Butterwegge deutlich, dass es am historischen Kompromiss des Wohlfahrtstaates festzuhalten gilt und progressive Kritik nur aus einer Position der Stärke heraus zur Weiterentwicklung des Sozialstaates führen kann, da andernfalls ein weiterer Verlust historischer Errungenschaften droht. Zudem zeigt der Kölner Hochschullehrer, dass das Bismarck'sche einen Vorteil gegenüber konkurrierenden Modellen hat, der nicht zu unterschätzen ist, da "seine Leistungen keine bloßen Almosen oder Gratifikationen an Bedürftige und Benachteiligte darstellen, die je nach Kassenlage bzw. politischer Opportunität vergeben, gekürzt oder gestrichen werden können, sondern durch Beitragszahlungen erworbene und verfassungsrechtlich garantierte Ansprüche." (S. 35). Dies konnte jedoch nur durchgesetzt werden, weil die historische Kampfbereitschaft der ArbeitnehmerInnen und ihrer (damaligen) Partei, der SPD, hinreichend großen Druck auf das Kapital ausübte.
In seinem Buch beschreibt Butterwegge die Funktion des Sozialstaates als Dekommodifizierung (also Ent-Kommerzialisierung) der Arbeit und Institutionalisierung eines Klassenkompromisses: "Durch die Schaffung des Sozialstaates geschah dreierlei: Erstens wurde die Konkurrenz zwischen den einheimischen Unternehmen entschärft, zweitens die Solidarität zwischen den Lohnarbeitern fest institutionalisiert und drittens ein Klassenkompromiss zwischen Kapital und Proletariat durch eine ihnen beiden übergeordnete Macht, den Staatsapparat, rechtlich garantiert." (S. 45)

Das Dritte Reich und die Entstehung der Sozialen Marktwirtschaft

Die Errungenschaften des Wohlfahrtsstaates waren freilich nicht von langer Dauer, denn in der Weimarer Republik wurde eine von Sparzwängen diktierte Finanzpolitik verfolgt, welcher der Sozialstaat partiell im Wege stand. Liest man das Buch, so verwundern einen die zahlreichen Parallelen zwischen der damaligen und der heutigen Politik. Die eher anekdotische Notiz, dass ein Anführer der "parteiübergreifenden Bewegung zu Zerschlagung des Weimarer Sozialsystems" Gustav Hartz hieß (S. 53), rundet die Feststellung der Gemeinsamkeiten ab.
Anschließend kommt Butterwegge zum Niedergang des Sozialstaates (und der Demokratie) im Übergang zum sog. Dritten Reich. Hier änderte sich die Zielsetzung der Wohlfahrt massiv, sollte doch die "Volksgemeinschaft" die Klassenschranken überwinden und ein Sozialstaat als Kompromiss zwischen Arbeit und Kapital dadurch hinfällig sein. Zudem wurden den "unproduktiven" Gliedern der "Volksgemeinschaft" (etwa behinderten Menschen) die Transferleistungen entzogen, wenn man die Betreffenden nicht sogar physisch vernichtete.
Nach der militärischen Niederlage des Deutschen Reiches kam es zu einem erneuten Aufbau des Sozialstaates.1 Dabei wurde unter anderem das aus Bismarcks Zeiten stammende Kapitaldeckungsverfahren bei der Rentenversicherung in das heute (noch) existierende Umlageverfahren umgewandelt. Die Stimmung hinsichtlich dieser Sozialpolitik lässt sich vielleicht am Besten dadurch charakterisieren, dass die CDU/CSU im September 1957 die absolute Mehrheit der Sitze des deutschen Bundestages erringen konnte, was "sowohl unter Demoskopen als auch in Fachkreisen auf die Rentenpolitik des Kanzlers [Adenauer] zurückgeführt wurde" (S. 69). Dabei muss klar sein, dass der Wohlfahrtsstaat auch als "Waffe im Kampf der Systeme" eingesetzt wurde. Zur Abfederung der schlimmsten Härten des kapitalistischen Systems hatte er so auch die Funktion einer Verbesserung der Verwertungsbedingungen des Kapitals ("sozialer Frieden"), weshalb bis heute ein auch begrifflicher Unterschied zwischen Kapitalismus und Sozialer Marktwirtschaft besteht, obwohl letztere lediglich eine bestimmte Form des Ersteren ist. Butterwegge macht deutlich, dass das Ziel des in der Ära Brandt am weitesten entwickelten Systems auch die Dekommodifizierung der Arbeit war, das heißt eine Humanisierung der Lebensverhältnisse durch die Möglichkeit, sich dem Markt zu entziehen und mithin auch ohne Erwerbsarbeit ein menschenwürdiges Leben zu führen. Diese Errungenschaften konnten jedoch immer nur gegen die Interessen des Kapitals durchgesetzt werden, insbesondere auch durch das Bestehen einer Systemalternative war dies aber möglich.

Der Abbau des Sozialstaates ab Mitte der 70er Jahre

Ab der ersten Ölpreiskrise um die Mitte der 70er Jahre war es mit dem Ausbau des Sozialstaates vorbei. Es begann zunächst ein medialer Angriff auf die "soziale Hängematte" und den überbordenden, nicht mehr finanzierbaren Sozialstaat. Die "Reaganomics" und der "Thatcherismus" haben sich als Begriffe für den Abbau des Sozialstaates eingeprägt, und plötzlich sollte die kompensatorische Soziapolitik der Nachkriegszeit auch in Deutschland wettbewerbshemmend sein und durch eine kompetitorische Wirtschafts-, Steuer- und Finanzpolitik abgelöst werden. Der Wechsel im Bundeskanzleramt von Brandt zu Schmidt kann als Anhaltspunkt für den Politikwechsel auch in Deutschland genommen werden. Butterwegge zeichnet dabei die Änderung der Wahrnehmung und der Funktion des Sozialstaates wie der EmpfängerInnen staatlicher Transferleistungen ("Sozialschmarotzer") nach. War dieser ursprünglich ein am Lebensstandard orientiertes Versicherungssystem zur Absicherung biografischer Risiken (wie Krankheit, Arbeitslosigkeit oder Alter), so wird heute oft nur die Vermeidung absoluter Armut als Ziel gesehen. Damit verfehlt das System aber seinen grundlegenden Auftrag, den Menschen ein sicheres Leben auch dann zu gewährleisten, wenn sie selbst nicht mittels Erwerbsarbeit ein entsprechendes Einkommen erwerben. Christoph Butterwegge weist zudem nach, dass die Begründungen für den Sozialabbau nicht tragen und dass an dem Missbrauch der Begrifflichkeiten George Orwell seine wahre Freude hätte. Dass Sozialabbau als "Umbau" deklariert wird, ist dabei nur die offensichtlichste Form kreativer Begriffsprägungen.
Butterwegge stellt zunächst einmal klar, dass Deutschland nicht den "großzügigsten" Sozialstaat hinsichtlich der Leistungsgewährung hat sondern "unter den 15 alten EU-Ländern höchstens im Mittelfeld rangiert" (S. 96). Betrachtet man nun aber die Politik von Rot-Grün, erkennt man auch hier die Verlogenheit: Fälle wie "Florida-Rolf", von der Bild-Zeitung medial aufgebauscht, werden für Gesetzesänderungen missbraucht, was dokumentiert, dass man den Sozialstaat tatsächlich für ausufernd hält.

Der "überbordende Sozialstaat"

Wer die Politik jedoch an "Florida-Rolf" statt an wissenschaftlichen Erkenntnissen ausrichtet, ist nicht mehr ernst zu nehmen. Hier ist das wissenschaftlich fundierte Werk Butterwegges für aufgeschlossene LeserInnen heilsam, widerlegt es doch viele Stereotype eindeutig. Mit Bezug auf Rot-Grün und die Konservativen kommt der Autor zu dem Ergebnis, dass die Fixierung auf die Lohnnebenkosten die Ziele sozialstaatlicher Sicherung abgelöst hat und letztere fast nur noch als "Standortnachteil" gesehen wird. Daher sei es nicht verwunderlich, dass insbesondere die Sozialdemokratie auf pervertierte Eigenverantwortlichkeitsrhetorik setze und das Ziel der Verteilungsgerechtigkeit durch eine Teilhabe- bzw. Chancengleichheit ersetzt habe. Dass materielle Gleichheit der Schlüssel sämtlicher Teilhabegerechtigkeit sein muss und das eine nicht ohne das andere zu haben ist, betont Butterwegge ebenso wie die Notwendigkeit, das Sozialsystem nicht rein marktlichen Kriterien zu unterwerfen und mithin einer Rekommodifizierung (also einer Rück-Kommerzialisierung) preiszugeben. Das zentrale Problem der SPD ist laut Butterwegge eine Unterwerfung unter neoklassische Dogmen, die im Sozialstaat zwangsläufig nur einen Bremsklotz sehen. Daran ändern auch "Heuschrecken"-Reden des Parteivorsitzenden nichts, denn "Grundwerte, die nur in Sonntagsreden, aber nicht in der Alltagspraxis zur Geltung kommen, sind wertlos!" (S. 261) Aus seiner Kritik an der Regierungspolitik, die sowohl von der CDU, als auch von Rot-Grün betrieben wurde und wird, entwickelt Butterwegge, der die Abteilung für Politikwissenschaft an der Universität zu Köln leitet, das Konzept einer allgemeinen, einheitlichen und solidarischen Bürgerversicherung. Sie hätte weder Versicherungspflicht- noch Beitragsbemessungsgrenzen und wäre ohne private Konkurrenz bei Einbeziehung der bisherigen Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung als Basis für eine alternative Fortentwicklung des bestehenden Sozialstaates auszugestalten. Dabei möchte man den handelnden Akteuren ein Zitat von Butterwegge als Warnung und Handlungsanweisung mit auf den Weg geben: "Eine systemkonforme Sozialpolitik, deren Hauptzweck die Kompensation von biometrischen oder Lebensrisiken [...], aber nicht die gesellschaftliche Emanzipation der Betroffenen bildet, verkümmert zur abhängigen Variablen der Kapitalreproduktion [...]" (S. 14). Deshalb muss Soziapolitik immer auch eine Politik für ein besseres Leben aller Menschen sein.
Fazit: Butterwegges Buch ist ein wissenschaftlich fundiertes, aber auch politisch engagiertes Plädoyer für den Erhalt und die Weiterentwicklung des Sozialstaates. Aufgrund der informativen Darstellung von Entstehung und Entwicklung der Sozialsysteme, aber auch des Nachzeichnens der aktuellen Diskussionslinien ist das Buch ein wichtiger, sehr zu empfehlender Beitrag in der Debatte um die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme. Butterwegge leistet mit seinem Buch wissenschaftliche und politische Argumentationshilfe für den Erhalt des Wohlfahrtsstaates.

Klemens Himpele ist Diplom-Volkswirt und Mitglied des erweiterten Bundesvorstandes des Bundes demokratischer WissenschaftlerInnen (BdWi)

Anmerkung:

1 Zur Durchsetzung des ordoliberalen Programms der "Freiburger Schule" siehe Ptak, Ralf: Vom Ordoliberalismus zur Sozialen Marktwirtschaft. Stationen des Neoliberalismus in Deutschland, Opladen 2004.