Christoph Butterwegge Krise und Zukunft des Sozialstaates VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2005 318 S., geb., EUR 24,90 ISBN 3-8100-4138-6 "In der Bundesrepublik Deutschland bildet das Soziale einen konstitutiven Bestandteil der politischen Kultur wie der Staatsarchitektur. Gleichwohl bemühen sich die etablierten Parteien seit geraumer Zeit, den Wohlfahrtsstaat um- bzw. abzubauen" (S. 9). So beginnt Christoph Butterwegge die Vorbemerkungen zu seinem Buch "Krise und Zukunft des Sozialstaates". Um diese Tendenz zum Abbau bewährter Strukturen zu verstehen, ist die wissenschaftliche Aufarbeitung der Funktion und der Geschichte des Wohlfahrtsstaates unabdingbar. Die dazu notwendigen Informationen hat der Kölner Politikwissenschaftler sorgfältig recherchiert und wissenschaftlich aufbereitet, herausgekommen ist ein wichtiger und lesenswerter Beitrag zur Debatte um den Sozialstaat und seine Funktion. Die Funktion und die Geschichte des Sozialstaates Zunächst muss man sich über Sinn und Zweck sozialstaatlicher Politik
klar werden. Dient sie dem Erwerb von Rechtsansprüchen und dem damit verbundenen
Lebensstandardprinzip inklusive einer Statussicherung oder geht es "lediglich"
um die Vermeidung absoluter Armut? Während im ersten Fall beitragsfinanzierte
Versicherungssysteme den Rechtsanspruch auf die Absicherung biometrischer
oder gesellschaftlicher Risiken (Krankheit, Invalidität, Pflegebedürftigkeit,
Arbeitslosigkeit und Alter) begründen, wird reine Armutsvermeidung meist
durch eine Finanzierung über die allgemeinen Steuereinnahmen realisiert. Das Dritte Reich und die Entstehung der Sozialen Marktwirtschaft Die Errungenschaften des Wohlfahrtsstaates waren freilich nicht von langer
Dauer, denn in der Weimarer Republik wurde eine von Sparzwängen diktierte
Finanzpolitik verfolgt, welcher der Sozialstaat partiell im Wege stand.
Liest man das Buch, so verwundern einen die zahlreichen Parallelen zwischen
der damaligen und der heutigen Politik. Die eher anekdotische Notiz, dass
ein Anführer der "parteiübergreifenden Bewegung zu Zerschlagung des Weimarer
Sozialsystems" Gustav Hartz hieß (S. 53), rundet die Feststellung der
Gemeinsamkeiten ab. Der Abbau des Sozialstaates ab Mitte der 70er Jahre Ab der ersten Ölpreiskrise um die Mitte der 70er Jahre war es mit dem
Ausbau des Sozialstaates vorbei. Es begann zunächst ein medialer Angriff
auf die "soziale Hängematte" und den überbordenden, nicht mehr finanzierbaren
Sozialstaat. Die "Reaganomics" und der "Thatcherismus" haben sich als
Begriffe für den Abbau des Sozialstaates eingeprägt, und plötzlich sollte
die kompensatorische Soziapolitik der Nachkriegszeit auch in Deutschland
wettbewerbshemmend sein und durch eine kompetitorische Wirtschafts-, Steuer-
und Finanzpolitik abgelöst werden. Der Wechsel im Bundeskanzleramt von
Brandt zu Schmidt kann als Anhaltspunkt für den Politikwechsel auch in
Deutschland genommen werden. Butterwegge zeichnet dabei die Änderung der
Wahrnehmung und der Funktion des Sozialstaates wie der EmpfängerInnen
staatlicher Transferleistungen ("Sozialschmarotzer") nach. War dieser
ursprünglich ein am Lebensstandard orientiertes Versicherungssystem zur
Absicherung biografischer Risiken (wie Krankheit, Arbeitslosigkeit oder
Alter), so wird heute oft nur die Vermeidung absoluter Armut als Ziel
gesehen. Damit verfehlt das System aber seinen grundlegenden Auftrag,
den Menschen ein sicheres Leben auch dann zu gewährleisten, wenn sie selbst
nicht mittels Erwerbsarbeit ein entsprechendes Einkommen erwerben. Christoph
Butterwegge weist zudem nach, dass die Begründungen für den Sozialabbau
nicht tragen und dass an dem Missbrauch der Begrifflichkeiten George Orwell
seine wahre Freude hätte. Dass Sozialabbau als "Umbau" deklariert wird,
ist dabei nur die offensichtlichste Form kreativer Begriffsprägungen. Der "überbordende Sozialstaat" Wer die Politik jedoch an "Florida-Rolf" statt an wissenschaftlichen
Erkenntnissen ausrichtet, ist nicht mehr ernst zu nehmen. Hier ist das
wissenschaftlich fundierte Werk Butterwegges für aufgeschlossene LeserInnen
heilsam, widerlegt es doch viele Stereotype eindeutig. Mit Bezug auf Rot-Grün
und die Konservativen kommt der Autor zu dem Ergebnis, dass die Fixierung
auf die Lohnnebenkosten die Ziele sozialstaatlicher Sicherung abgelöst
hat und letztere fast nur noch als "Standortnachteil" gesehen wird. Daher
sei es nicht verwunderlich, dass insbesondere die Sozialdemokratie auf
pervertierte Eigenverantwortlichkeitsrhetorik setze und das Ziel der Verteilungsgerechtigkeit
durch eine Teilhabe- bzw. Chancengleichheit ersetzt habe. Dass materielle
Gleichheit der Schlüssel sämtlicher Teilhabegerechtigkeit sein muss und
das eine nicht ohne das andere zu haben ist, betont Butterwegge ebenso
wie die Notwendigkeit, das Sozialsystem nicht rein marktlichen Kriterien
zu unterwerfen und mithin einer Rekommodifizierung (also einer Rück-Kommerzialisierung)
preiszugeben. Das zentrale Problem der SPD ist laut Butterwegge eine Unterwerfung
unter neoklassische Dogmen, die im Sozialstaat zwangsläufig nur einen
Bremsklotz sehen. Daran ändern auch "Heuschrecken"-Reden des Parteivorsitzenden
nichts, denn "Grundwerte, die nur in Sonntagsreden, aber nicht in der
Alltagspraxis zur Geltung kommen, sind wertlos!" (S. 261) Aus seiner Kritik
an der Regierungspolitik, die sowohl von der CDU, als auch von Rot-Grün
betrieben wurde und wird, entwickelt Butterwegge, der die Abteilung für
Politikwissenschaft an der Universität zu Köln leitet, das Konzept einer
allgemeinen, einheitlichen und solidarischen Bürgerversicherung. Sie hätte
weder Versicherungspflicht- noch Beitragsbemessungsgrenzen und wäre ohne
private Konkurrenz bei Einbeziehung der bisherigen Kranken-, Pflege- und
Rentenversicherung als Basis für eine alternative Fortentwicklung des
bestehenden Sozialstaates auszugestalten. Dabei möchte man den handelnden
Akteuren ein Zitat von Butterwegge als Warnung und Handlungsanweisung
mit auf den Weg geben: "Eine systemkonforme Sozialpolitik, deren Hauptzweck
die Kompensation von biometrischen oder Lebensrisiken [...], aber nicht
die gesellschaftliche Emanzipation der Betroffenen bildet, verkümmert
zur abhängigen Variablen der Kapitalreproduktion [...]" (S. 14). Deshalb
muss Soziapolitik immer auch eine Politik für ein besseres Leben aller
Menschen sein. Klemens Himpele ist Diplom-Volkswirt und Mitglied des erweiterten Bundesvorstandes des Bundes demokratischer WissenschaftlerInnen (BdWi) Anmerkung: 1 Zur Durchsetzung des ordoliberalen Programms der "Freiburger Schule" siehe Ptak, Ralf: Vom Ordoliberalismus zur Sozialen Marktwirtschaft. Stationen des Neoliberalismus in Deutschland, Opladen 2004. |