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Der Sozialstaatsgedanke befindet sich in der Krise. Die Folgen des massiven
Sozialabbaus und eines zunehmenden Sicherheitsdenkens bekommen Strafgefangene
auf besonders drastische Weise zu spüren, wie die aktuellen Entwicklungstendenzen
im Strafvollzug und in der im Folgenden näher zu schildernden Sozialtherapie
auf schmerzhafte Weise deutlich werden lassen.
Die Geschichte der Soziatherapie in Deutschland
Die heutigen sozialtherapeutischen Anstalten gehen im Wesentlichen auf
die Strafrechtsreform Ende der 1960er Jahre zurück. Besonders die AutorInnen
des Alternativentwurfs (AE) für den Allgemeinen Teil eines Strafgesetzbuches
hatten sich vehement für ihre Einführung als Maßregel der Besserung und
Sicherung eingesetzt. Diese als "Kernstück der Strafrechts- und Strafvollzugsreform"1
vorgesehene Maßregel sollte für diejenigen Personen wirksame Hilfe bieten,
die zwar persönlichkeitsgestört, jedoch nicht krank im psychiatrischen
Sinne sind.2 Die AutorInnen des AE versprachen sich durch ihren Einsatz
insbesondere ein weiteres Zurückdrängen der bis heute umstrittenen Maßregel
der Sicherungsverwahrung.
Erste Untersuchungen bescheinigten der - nicht zuletzt auf Grund der Kritik
an der Behandlungsideologie - durchaus nicht unumstrittenen Maßregel moderate
bis gute therapeutische Ergebnisse.3 Nach mehreren Verschiebungen der
Einführung entschied sich der Gesetzgeber mit dem Gesetz zur Änderung
des Strafvollzugsgesetzes (StVollzG) vom 20.12.19844 im Wesentlichen aus
finanziellen Gründen für die Beseitigung der Maßregel der sozialtherapeutischen
Anstalt.5 Die Sozialtherapie fand jedoch mit diesem Gesetz nicht ihr völliges
Ende: Mit dem Strafvollzugsgesetz von 1977 hatte der Gesetzgeber in §
9 StVollzG die Möglichkeit geschaffen, Strafgefangene in die sozialtherapeutische
Anstalt zu überstellen. Diese reduzierte Vollzugslösung blieb jedoch weit
hinter den Hoffnungen der Wissenschaft zurück.
Neue Perspektiven für die Sozialtherapie
In der jüngeren Vergangenheit erhielt die Idee der Verhaltenstherapie
in sozialtherapeutischen Anstalten neuen Aufschwung. Das umstrittene Gesetz
zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten
vom 26.1.1998 sah neben der Ausweitung der Sicherungsverwahrung und der
Verschärfung der Voraussetzungen, unter denen der Vollzug einer freiheitsentziehenden
Maßregel zur Bewährung ausgesetzt werden darf, eine Verbesserung der therapeutischen
Maßnahmen für Sexualstraftäter vor.6 Seitdem schreibt § 9 Abs.1 S.1 StVollzG
für Straftäter, die wegen einer Straftat nach den §§ 174 bis 180 oder
§ 182 StGB zu einer Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren verurteilt
worden sind, obligatorisch die Verlegung in eine sozialtherapeutische
Anstalt vor, wenn die Behandlung angezeigt ist.
Der Bundesgesetzgeber hatte sich mit der Neuregelung ein ehrgeiziges Ziel
zur Stärkung der Sozialtherapie im Justizvollzug gesetzt. StrafvollzugswissenschaftlerInnen
sahen die Notwendigkeit, die Zahl der Plätze von bundesweit ca. 850 auf
bis zu 4.000 Plätze zu steigern.7 Nicht wenige befürchteten, dass auch
diese Gesetzesänderung nicht halten wird, was sie versprach.8 Laut einer
neueren Studie der Kriminologischen Zentralestelle e.V. aus dem Jahr 2004
konnte die Zahl der Plätze in sozialtherapeutischen Anstalten immerhin
auf 1.741 Plätze gesteigert werden.9 Weiterhin besteht jedoch dringender
Handlungsbedarf.
Therapeutische Ansätze
Therapeutische Ansätze Sozialtherapie soll dafür sorgen, dass die TeilnehmerInnen
nach ihrer Entlassung in die Freiheit, in Situationen, in denen äußerer
Zwang wegfällt, nicht mehr rückfällig werden. Als besonders erfolgsversprechend
gelten Programme integrativer Sozialtherapie.10 Damit ist gemeint, dass
unterschiedliche Ansätze miteinander verknüpft werden. Die Untergebrachten
leben in Wohngemeinschaften zusammen und sollen dort einen angemessenen
Umgang miteinander erlernen. Strategien der Selbstreflexion und Selbstkontrolle
sollen vermittelt werden. Die TeilnehmerInnen erlernen kognitive und soziale
Fertigkeiten. Impulsive Verhaltensweisen sollen positiv beeinflusst und
die Frustrationstoleranz erhöht werden.11 Es gilt, gemeinsam Konzepte
der Selbstkontrolle zu erarbeiten.12
Die sozialtherapeutische Arbeit ist heute darauf gerichtet, die Verhaltensdefizite
der Untergebrachten durch das "learning by doing" in der Einrichtung zu
beheben.13 Entsprechend ist die Angleichung der Vollzugsbedingungen an
die allgemeinen Lebensverhältnisse (§ 3 StVollzG) von besonderer Bedeutung.
Ein bedeutender Teil der Straftaten von Personen, die in der Sozialtherapie
untergebracht sind, ist auf Empathiedefizite zurückzuführen. Die sozialtherapeutische
Arbeit muss diese Probleme aufgreifen und den TeilnehmerInnen helfen,
sich in die Gefühls- und Gedankenwelt anderer hineinzuversetzen.14 Eigenverantwortlichkeit,
Selbständigkeit und das Verantwortungsgefühl für andere sind zu fördern.
Zu diesem Zweck werden die TeilnehmerInnen in die täglichen Entscheidungen
und Beratungen einbezogen.15 Die Therapie setzt sich in unterschiedlichen
gemeinsamen Freizeitaktivitäten wie Basteln und Sport, die sich als gutes
Übungsfeld erwiesen haben, fort. Daneben gibt es lerntheoretisch orientierte
soziale Trainingsprogramme wie Anti-Aggressionstraining, die als besonders
erfolgreich gelten.16 Zusätzlich werden Einzelgespräche angeboten. Zunehmend
sollen äußere Kontrollmechanismen durch Gewissensbildung in innere Kontrollmechanismen
umgewandelt werden.17
Voraussetzungen wirksamer Sozialtherapie
Gute Chancen auf eine erfolgreiche Therapie bestehen jedoch nur, wenn
in den Einrichtungen die strukturellen Voraussetzungen für therapeutisches
Arbeiten gewährleistet sind.
Wirksame Sozialtherapie kann nur gelingen, wenn ein therapeutisches Klima
geschaffen wird, welches das Leben in den Einrichtungen von den strukturell
antitherapeutischen Bedingungen im Freiheitsstrafenvollzug abhebt.18 Es
ist vorzugswürdig, sozialtherapeutische Einrichtungen entsprechend § 123
Abs. 1 StVollzG vom Regelvollzug räumlich-organisatorisch zu trennen.19
Dafür gibt es mehrere Gründe: Die Gruppe der Sexualstraftäter sieht sich
häufig gewalttätiger Übergriffe durch Mitgefangene ausgesetzt, wenn die
Verurteilten sich zu ihren Taten bekennen. Dies ist aber erforderlich,
damit Therapie Aussicht auf Erfolg haben kann.20 Es ist inzwischen empirisch
erwiesen, dass das Vollzugsklima - insbesondere die Angst vor Mithäftlingen
- in sozialtherapeutischen Anstalten wesentlich besser ist.21 Durch eine
örtliche Trennung zwischen dem Regelvollzug und sozialtherapeutischen
Einrichtungen kann das Problem des Neids der Gefangenen des Regelvollzugs,
an dem eine stärkere Verbesserung der Vollzugssituation der Sicherungsverwahrten
mitunter scheitert, verringert bzw. ausgeräumt werden. Sozialtherapeutische
Einrichtungen versuchen sich bereits durch die Art und Weise des "Wohnens"
vom Regelvollzug abzuheben. Sie sind als "vollzugsinterne Lebens- und
Erfahrungsfelder" zu gestalten.22 Hieraus ergeben sich Folgerungen für
die Größe der Einrichtungen. Diese sollte nicht weniger als 20 und nicht
mehr als 60 Haftplätze enthalten. Die Einrichtungen sind in Wohngruppen
mit acht bis zwölf Bewohnern zu untergliedern. Therapeutische Beziehungen
lassen sich wesentlich besser in kleineren Einrichtungen aufbauen.
Darüber hinaus setzt wirksame Sozialtherapie voraus, dass ein Leben der
Untergebrachten in Freiheit stufenweise erprobt wird. Dazu sind Vollzugslockerungen
unverzichtbar.23 Durch sie soll gewährleistet werden, dass inhaftierte
StraftäterInnen nicht nach der Entlassung überfordert und deshalb rückfällig
werden. Viele Untergebrachte müssen erst wieder an die Freiheit gewöhnt
werden. Nach der Entlassung müssen deshalb Nachsorgeeinrichtungen u. U.
eintretende Lebenskrisen und Rückfälle in alte Verhaltensmuster auffangen
helfen.24
Neben ihrer therapeutischen Indikation sind Vollzugslockerungen auch unter
dem Blickwinkel des Schutzes der Allgemeinheit unerlässlich. Nur durch
sie ist feststellbar, ob eine mehrfach rückfällige Person zu einem Leben
ohne Beaufsichtigung in der Freiheit in der Lage ist.
Die Folgen des neues Sicherheitsdenkens
Die Bedingungen in der Sozialtherapie werden jedoch maßgeblich durch
das herrschende kriminalpolitische Klima geprägt. Während in den 70er
Jahren eine Aufbruchstimmung herrschte und der Wunsch, StraftäterInnen
nach der Haft wieder in die Gesellschaft zu integrieren, den gesellschaftlichen
Diskurs dominierte, wird das heutige Denken vor allem von einer zunehmenden
Sicherheitsorientierung geprägt. Neuere Untersuchungen zur Strafeinstellung
von Jura-StudentInnen belegen eine Mentalitätsverschiebung. Inzwischen
avancieren Abschreckung und Sicherung im Rahmen der Strafzweck-Präferenzen
auf den vorderen Plätzen.25 Besonders deutlich wird das neue Sicherheitsdenken
beim exzessiven Ausbau der Sicherungsverwahrung.
Diese Einstellungsverschiebungen machen sich auch in den Ausrichtungen
und den Bedingungen im Strafvollzug bemerkbar. Hessen startete im Jahr
2002 eine Bundesratsinitiative, durch die erreicht werden sollte, dass
als Vollzugsziel neben der Resozialisierung die Sicherung einen gleichen
Rang einnimmt.26 Einher gehen diese Vorstellungen mit der Forderung nach
der Rücknahme therapeutisch notwendiger Vollzugslockerungen. Neuere empirische
Untersuchungen belegen einen bundesweiten Trend, Vollzugslockerungen immer
restriktiver zu handhaben. Diese Entwicklung dürfte u. a. auf die Schaffung
neuerer Verwaltungsvorschriften zum Strafvollzugsgesetz zurückzuführen
sein, in denen die Landesregierungen Leitlinien für eine restriktivere
Lockerungspraxis bei "gefährlichen Straftätern" vorgeben.27 Die Population
der Strafgefangenen und Sicherungsverwahrten schnellt zunehmend in die
Höhe.
Sozialer Kahlschlag und Sozialtherapie
Die Bereitschaft, für gefährliche Rückfalltäter in der Sozialtherapie
mehr Geld zur Verfügung zu stellen, ist bundesweit nicht zu beobachten.
Dies hat erhebliche Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen in den sozialtherapeutischen
Einrichtungen. Die Bedingungen in vielen Einrichtungen entsprechen oft
nicht den beschriebenen Mindestanforderungen an wirksame Sozialtherapie,
wie sie auch vom Arbeitskreis Sozialtherapeutischer Anstalten postuliert
werden.28 Die in Folge der Gesetzesänderung von 1998 geschaffenen neuen
Haftplätze befinden sich im Regelfall nicht in räumlich-organisatorisch
getrennten sozialtherapeutischen Anstalten, sondern in sozialtherapeutischen
Abteilungen der Justizvollzugsanstalten. Dies hat neben den beschriebenen
Schwierigkeiten zur Folge, dass das Fachpersonal der Einrichtungen nicht
selten mit zusätzlichen Aufgaben im Regelvollzug betraut wird, was sich
nachteilig auf die Betreuungsstruktur in der Sozialtherapie auswirkt.29
Sämtliche Einrichtungen, und besonderes die ambulanten Nachsorgen, klagen
über Finanzierungsschwierigkeiten und zu wenig Personal.30
Besonders krass zeichnen sich die Auswirkungen des konservativen Rollbacks
in Hamburg ab.31 Dort werden nicht nur qualitativ unzureichende neue Kapazitäten
in der Sozialtherapie aufgebaut, sondern eigenständige sozialtherapeutische
Einrichtungen beseitigt. Die Stadt Hamburg hat unter Federführung ihres
Justizsenators Roger Kusch (CDU) die sozialtherapeutische Anstalten Bergedorf
und Altengamme sowie die Übergangseinrichtung Moritz-Liebmann-Haus trotz
heftiger Proteste geschlossen und die dort untergebrachten Strafgefangenen
in den geschlossenen Justizvollzug in der Justizvollzugsanstalt (JVA)
Vierlande verlegt. Die JVA wird von Kusch zur neuen Sozialtherapeutischen
Anstalt Vierlande etikettiert. Die vorher in der Anstalt untergebrachten
Straftäter werden in die umliegenden JVAs verlegt.32 Dabei genossen die
sozialtherapeutischen Anstalten Bergedorf und Altengamme und das Moritz-Liebmann-Haus
auf Grund ihrer Erfolge in der therapeutischen Arbeit mit Straftätern
deutschlandweit hohes Ansehen.33 Therapeutische Gründe für diesen Schritt
gibt es nicht: Das Motiv des Hamburger Justizsenators besteht in erster
Linie darin, die Kosten für den Hamburger Strafvollzug auf diese Weise
massiv zu senken.
"Etikettenschwindel"
Den Voraussetzungen wirksamer Soziatherapie stehen die Änderungen im
Hamburger Strafvollzug diametral entgegen. Seit seinem Amtsantritt hat
Kusch die im Hamburger Strafvollzug bestehenden 631 Haftplätze im offenen
Vollzug auf 188 Plätze gesenkt.34 Die Beseitigung der erfolgreichen sozialtherapeutischen
Einrichtungen ist ein weiterer schwerwiegender Verlust für erfolgversprechende
sozialtherapeutische Arbeit. KennerInnen der Hamburger Vollzugsbedingungen
bestreiten nämlich die Tauglichkeit der dringend renovierungsbedürftigen
JVA Vierlande für eine zeitgemäße Sozialtherapie. Der Umstand, dass der
Hamburger Justizsenator die Zahl der Plätze auf 200 steigern will, aber
gleichzeitig 0,7 Millionen Euro einsparen will, lässt befürchten, dass
wirksame Sozialtherapie nur sehr bedingt angestrebt wird. Zu Recht hält
der Begründer und ehemalige Leiter der Hamburger Sozialtherapie Rehn die
zu erwartende "Sozialtherapie" in der JVA Vierlande für "Etikettenschwindel,"
eine Einschätzung die sich nicht zuletzt durch Äußerungen des Justizsenators
untermauert wird, der die Verlagerung als einen "weiteren Schritt zu konsequentem
und sicherem Strafvollzug in klaren Strukturen" bezeichnet.35 Wie ein
Leben in Freiheit in einer geschlossenen Einrichtung erprobt werden soll,
bleibt wohl das Geheimnis des Hamburger Justizsenators.
Verfassungswidrige Zustände
Die Überstellung der in der Sozialtherapie untergebrachten Personen in
den geschlossen Strafvollzug steht im Widerspruch zur gesetzgeberischen
Entscheidung von 1998, Sexualstraftätern einen Anspruch auf therapeutischer
Hilfe einzuräumen.36
Mit diesem Anspruch meinte der Gesetzgeber die Ausweitung der Sicherungsverwahrung
kompensieren zu können. In seiner Entscheidung vom 5.2.2004 hat das Bundesverfassungsgericht
(BVerfG) Vorgaben für den verfassungsgemäßen Vollzug der Sicherungsverwahrung
aufgestellt. Das Gericht stellt zu Recht fest, dass der Vollzug der Sicherungsverwahrung
auf die Resozialisierung der Verwahrten zu richten ist. Vollzugslockerungen
müssen eingeräumt werden. Das vom Gericht im Rahmen seiner Entscheidung
zur lebenslangen Freiheitsstrafe entwickelte verfassungsrechtliche Hoffnungsprinzip
gilt auch für den Vollzug der Sicherungsverwahrung. Die Menschenwürde
des Art.1 Abs.1 GG gebietet, dass die Verwahrten die Möglichkeit haben
müssen, der Freiheit wieder teilhaftig zu werden.37
Diese verfassungsrechtlichen Grundsätze gelten auch für den Vollzug in
sozialtherapeutischen Anstalten. Neben den Sexualstraftäter leben in den
sozialtherapeutischen Einrichtungen auch zahlreiche völlig ungefährliche
Personen. Diesen soll in den Einrichtungen praktische Lebenshilfe gewährt
werden. Es gibt keinen akzeptablen Grund diesen Personenkreis pauschal
in den geschlossenen Vollzug zu überstellen.
Die Resozialisierungschancen der in den geschlossenen Einrichtungen untergebrachten
Personen werden sich massiv verschlechtern, was mit den vom BVerfG jüngst
aufgestellten verfassungsrechtlichen Grundsätzen nicht zu vereinbaren
ist.
Ende der Solidarität
Der massive Abbau des Sozialstaats hat die Bevölkerung verunsichert.
Das Bielefelder Institut für Gewalt- und Konfliktforschung beobachtet
damit einhergehend, die Zunahme autoritärer Haltungen weiter Teile der
Bevölkerung und ein Abnahme von Rücksicht gegenüber gesellschaftlichen
Minderheiten.38 In Zeiten gesellschaftlicher Verunsicherung nehmen punitive
Einstellungen gegenüber StraftäterInnen zu.39
Diese gesellschaftlichen Stimmungen werden von Teilen der Politik mit
populistischer Forderungen und Maßnahmen zur eigenen Profilierung missbraucht.
Bei Sozialkürzungen und "hartem Durchgreifen" gegenüber StraftäterInnen
muss die Politik nicht befürchten, sich unbeliebt zu machen.
Eine solche Politik ist unverantwortlich: Die Beseitigung von Vollzugslockerungen
hat - wie gezeigt wurde - zur Folge, dass die Probleme der untergebrachten
Personen nicht beseitigt werden können. Vergegenwärtigt man sich, dass
gegenüber den meisten in der Sozialtherapie untergebrachten Personen keine
zeitlich unbefristete Sicherungsverwahrung angeordnet ist, wird deutlich,
dass die Unterbringung therapiebedürftiger Personen ohne erfolgversprechende
sozialtherapeutische Hilfe auch eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt.40
Die geschlossene Unterbringung ist aber vor allem den Betroffenen gegenüber
völlig inakzeptabel. Viele der StraftäterInnen, die wiederholt rückfällig
werden, leiden erheblich unter ihrer Lebenssituation. Viele haben massive
Schuldgefühle, schaffen es aber nicht aus eigener Kraft, ein Leben ohne
Straftaten zu führen. Wird ihnen die gesellschaftliche Hilfe vorenthalten,
ist die Gesellschaft mitverantwortlich, wenn es zu neuen Rückfällen kommt.
Freiheitssicherung durch Recht und seine Grenzen
Der Sozialphilosoph Herbert Marcuse äußerte bereits Ende der 1960er Jahren
die Hoffnung, dass der ungeheure wirtschaftliche Fortschritt es zulasse,
von einem "Ende der Utopie" einer sozialen Gesellschaft zu sprechen.41
Seit diesen Äußerungen hat die gesellschaftliche Produktivität noch einmal
um ein Vielfaches zugenommen. Im starken Kontrast hierzu haben sich die
Lebensbedingungen der Sozialschwachen, zu denen auch die Gruppe der Strafgefangenen
gehört, in den letzten Jahren massiv verschlechtert. Ein reiches Land
wie die Bundesrepublik Deutschland kann sich die dauerhafte Ausgrenzung
von Strafgefangenen moralisch, aber auch - wie gezeigt wurde - rechtlich
nicht erlauben. Dies sehen glücklicherweise neben den StrafvollzugspraktikerInnen
auch weite Teile der Justiz genauso. Entschieden hat sich Reinhold Roth,
Vorsitzender einer Strafvollstreckungskammer am Landgericht Hamburg, gegen
die Änderungen geäußert: "Die Politik von Justizsenator Roger Kusch ist
rechtswidrig: Es ist beschämend, dass ein Justizsenator, der in besonderer
Weise verpflichtet ist, Recht und Gesetz durchzusetzen, sich diametral
dazu verhält."42
Die Betroffenen haben somit gute Chancen, vor den Gerichten die Verlegung
in Einrichtungen, in denen verhaltenstherapeutische Standards gewährleistet
sind, zu erstreiten.
Ob die Gerichte allerdings dem grundsätzlichen Trend des Sozialabbaus
im Strafvollzug ein Ende bereiten können, scheint mehr als fraglich zu
sein.
Tobias Mushoff ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der
Universität Bielefeld.
Anmerkungen:
1 Laubenthal, Klaus: Strafvollzug, 2003, 278.
2 Vgl. Schüler-Springorum, Horst: Die sozialtherapeutischen Anstalten
- ein kriminalpolitisches Lehrstück, Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann,
1986, 167.
3 Vgl. Hirsch, Hans-Joachim: Bilanz der Strafrechtsreform, Gedächtnisschrift
für Hilde Kaufmann (1986), 140.
4 Bundesgesetzblatt 1984 I, 1654.
5 Meier, Bernd-Dieter: Strafrechtliche Sanktionen, 2001, 225.
6 Krit. zum Gesetz etwa: Boetticher, Axel: Der neue Umgang mit Sexualstraftätern,
Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 1998, 354
ff.
7 Vgl. Calliess, Rolf-Peter / Müller-Dietz-Heinz, Strafvollzugsgesetz,
2005, § 9 Rn.1.
8 So etwa: Becker, Monika / Kinzig, Jörg: Therapie bei Sexualstraftätern
und die Kosten: Von den Vorstellungen des Gesetzgebers und den Realitäten
im Strafvollzug, Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe
(ZfStrVo) 1998, 259 (260).
9 Kröninger, Silke: Sozialtherapie im Strafvollzug 2004, 7.
10 Egg, Rudolf in: Die Grünen im Landtag NRW, Therapie und Vollzug, 2003,
8.
11 Pfaff, Cornelia / Pintzke-Thiem, Anne, Die sozialtherapeutische Anstalt
Erlangen, ZfStrVo 1998, 211 (218).
12 Wischka, Bernd, Was wirkt? Sozialtherapie für Sexualstraftäter, Kriminalpädagogische
Praxis (KrimPäd) 2001, 27 (33).
13 Weiß, Markus: Integrative Sozialtherapie im Jugendvollzug, in: Rehn
u.a., Behandlung gefährlicher Straftäter, 2001, 232.
14 Wischka, KrimPäd 2001, 27 (31).
15 Böhm, Alexander, Strafvollzug, 2003, 125.
16 Egg u.a., Evaluation von Straftäterbehandlungsprogrammen in Deutschland,
in: Rehn u.a. (Hrsg.), Behandlung "gefährlicher Straftäter", 325.
17 Weiß in: Rehn u.a. (Hrsg.), Behandlung "gefährlicher Straftäter", 238.
18 Kaiser, Günther, Sozialtherapie in Kriminalrecht und Strafvollzug,
Festschrift (FS) für Rolinski, 2002, 360.
19 Krüger, Michael: Probleme der Einbettung Sozialtherapeutischer Abteilungen
in Anstalten des Regelvollzugs, in: Rehn u.a. (Hrsg.), Freiheit und Unfreiheit,
2004, 234 ff.
20 Wischka, KrimPäd 2001, 27 (31).
21 Ortmann, Rüdiger, Sozialtherapie im Strafvollzug, 2002, 202.
22 Specht, Friedrich, Mindestanforderungen an Organisationsform, räumliche
Voraussetzungen und Personalausstattung sozialtherapeutischer Einrichtungen,
ZfStrVo 2001, 178.
23 Vgl. Pollähne, Hellmut, Vollzugslockerungen im Maßregelvollzug, 1994.
24 Streng, Franz: Überfordern Sexualstraftäter das Strafrechtssystem,
in FS für Günther Bemmann, 1997, 443 (459 ff).
25 Streng, Franz, Das Legitimations-Dilemma sichernden Freiheitsentzugs,
FS für Lampe, 2003, 611 (612 ff).
26 BR-Drucks. 910/ 02; zu Recht kritisch Dünkel, Frieder, Sicherheit als
Strafvollzugsziel?, Neue Kriminalpolitik 1/2003, 8.
27 Feest, Johannes, Lesting, Wolfgang, Der Angriff auf die Lockerungen,
ZfStrVo 2005, 76 ff.
28 Specht, Friedrich, ZfStrVo 2001, 178.
29 Vgl. Krüger, Michael: Probleme der Einbettung Sozialtherapeutischer
Abteilungen in Anstalten des Regelvollzugs, in: Rehn u.a. (Hrsg.), Freiheit
und Unfreiheit, 2004, 234 ff.
30 Pitzing in: Egg (Hrsg.) Ambulante Nachsorge nach Straf- und Maßregelvollzug,
2000, 80f.
31 Vgl. bereits: Dervishaj, Petra, Am Ende steht der Verwahrvollzug, Forum
Recht 2005, 84 ff.
32 FR 23.06.2004; Pressemittelteilung der Justizbehörde Hamburg v. 26.08.2004;
Die Tageszeitung (taz) v. 01.03. u. 01.04.2005.
33 Offener Brief der Hamburger StrafrechtswissenschaftlerInnen an Justizsenator
Kusch v. 28.06.2004.
34 taz Hamburg, v. 01.04. 2005.
35 Vgl. Recht & Psychiatrie 4/2004, Editorial.
36 So auch: Offener Brief der Hamburger StrafrechtswissenschaftlerInnen.
37 BVerfGE 109, 133 ff. Krit. zur Einschätzung der Vollzugswirklichkeit
durch das Gericht: Mushoff, Tobias, Sicherungsverwahrung und Rückwirkungsverbot,
KritV 2004, 137 ff.
38 Vgl. Kühnel, Steffen / Schmidt, Peter: Orientierungslosigkeit - Ungünstige
Effekte für schwache Gruppen, in: Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.), Deutsche
Zustände Folge 1, 2002, 83 ff.
39 Mansel, Jürgen: Wiederkehr autoritärer Aggression ?, in: Kriminologisches
Journal-Beiheft 8 "Punitivität", 2004, 104 ff; Wacquant, Loic, Elend
hinter Gittern, 2000.
40 Offener Brief der Hamburger StrafrechtswissenschaftlerInnen v. 28.06.2004.
41 Marcuse, Herbert, Das Ende der Utopie (1980).
42 taz v. 01.04. 2005.
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