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Sozialisation durch Prüfungsangst und Leistungsdruck   Heft 2/2006
Zwischen Wir und Ich:
Europäische Idee und nationale Interessen
Seite 60-64
Wirkung und Funktion des ersten juristischen Staatsexamens  
 

Die meisten Menschen absolvieren im Laufe ihres Lebens diverse Prüfungen. Die subjektive Belastung bei der Vorbereitung und Bewältigung unterscheidet sich dabei erheblich. Meine Abiturprüfung habe ich beispielsweise als anspruchsvoll aber machbar empfunden, die Führerscheinprüfung eher als schrecklich. Aber verglichen mit dem ersten juristischen Staatsexamen waren die bisherigen Prüfungen ein Kinderspiel. Prüfungsangst war für mich bis dahin nicht wirklich relevant. Im ersten juristischen Staatsexamen habe ich sie das erste Mal und in erheblichem Ausmaß erlebt. Hört man sich bei JuristInnen um, dann wird schnell deutlich, dass Prüfungsangst im ersten Staatsexamen häufig vorkommt. Gleichwohl wird das Thema Prüfungsangst kaum thematisiert - geschweige denn in Examensvorbereitungskursen Strategien vermittelt, wie ihr begegnet werden kann. Meist wird angenommen, dass Prüfungsangst vor allem von der individuellen Disposition des Prüflings abhängig ist. Weil es sich also um ein individuelles Problem handele, bestehe kein Anlass, strukturell am Prüfungswesen etwas zu verändern. Hinzu kommt, dass Prüfungsangst als normal und sogar für die Prüfung förderlich eingestuft wird, da ohne einen gewissen Angstpegel die Motivation nicht groß genug sei, Maximalleistungen zu bringen. Mit diesen Binsenweisheiten soll im Folgenden aufgeräumt und die wirklichen Gründe dafür ergründet werden, warum es bislang keine nennenswerten Reformansätze der JuristInnenausbildung mit dem Ziel gegeben hat, Prüfungsangst, Leistungsdruck und Konkurrenz abzubauen.
Relativ selten wird das erste juristische Staatsexamen als eine Quelle der Befriedigung, der Bestätigung und der Leistungsfreude gesehen. Vielmehr erleben die meisten PrüfungskandidatInnen während ihrer Vorbereitungsphase und während der Prüfungen unangenehme Gefühle und psychophysische Spannungszustände, die als belastend empfunden werden.1 Die harmloseren Symptome haben noch humoristische Züge wie beispielsweise magisch-esoterische Anwandlungen, dass ohne einen bestimmten Glücksbringer die Examensklausur nicht geschrieben werden kann oder der Glaube, dass Johanniskraut in rauen Mengen zum Erfolg führe. Bei Depressionen, Stresspickeln, Schlafstörungen, Übelkeit und Magenproblemen, Sehnenscheiden- und Blasenentzündungen hört der Spaß aber definitiv auf. Nun kann natürlich eingewendet werden, dass jede/r mal krank wird und nicht zwingend ein kausaler Zusammenhang zwischen Krankheit und Staatsexamen bestehen muss. Im Einzelfall wird es immer mehrere Ursachen für eine Erkrankung geben. Dennoch spricht die Häufung der Krankheiten während der Examensvorbereitung und der Prüfungen dafür, dass die Struktur des ersten juristischen Staatsexamens Prüfungsangst in erheblichem Maße erzeugt - mit fatalen Folgen für Gesundheit und Leistungsvermögen. Empirische Untersuchungen zu den Auswirkungen von Prüfungen und Prüfungsangst stützen dieses Ergebnis. Danach verursachen Prüfungen in harmloseren Fällen Unlustgefühle, Gereiztheit und allgemeine Nervosität. In vielen Fällen sind sie darüber hinaus mit psychischen und physiologischen Fehlreaktionen verbunden. In schweren Fällen können sie erhebliche Arbeitsstörungen oder Existenzkrisen verursachen, die gelegentlich sogar zu Selbstmordversuchen führen.2

Ursachen von Prüfungsangst

Das Ausmaß, in dem Prüfungsangst entsteht und die zuvor genannten Symptome auftauchen, ist keineswegs ausschließlich abhängig von der persönlichen Disposition. Zwar sind Persönlichkeitsstruktur und Sozialisationsgeschichte wichtige Determinanten der Prüfungsangst. Daneben spielen jedoch Faktoren, die sich auf die Art und Ausgestaltung der Prüfung sowie das Prüfungsumfeld beziehen, eine wesentliche Rolle. Das Ausmaß der Prüfungsangst hängt beispielsweise ab von der Komplexität, Schwierigkeit und Lösbarkeit der Aufgabe, von der Bedeutung der jeweiligen Prüfung, ihrer Form und Art, der Wiederholbarkeit, von der Öffentlichkeit und Transparenz, von der Häufigkeit der Prüfung, von vorherigen Instruktionen durch den Aufgabensteller, von der Benutzbarkeit etwaiger Hilfsmittel, vom Prüferverhalten, von der Konkurrenzsituation der Prüflinge, von den Erwartungen Außenstehender.3 Vergegenwärtigt man sich jetzt die Umstände, unter denen das erste juristische Staatsexamen abgelegt wird, dann ist es nicht verwunderlich, dass Prüfungsangst so häufig und in so starker Ausprägung vorkommt.
Die eigentliche Prüfung unterscheidet sich zwar nicht so sehr von anderen Hochschulprüfungen. Auch in anderen Fachrichtungen müssen Klausuren geschrieben und mündliche Prüfungen absolviert werden. Ein erheblicher Unterschied tritt jedoch zu Tage, wenn man das erste juristische Staatsexamen als Gesamtkomplex aus Vorbereitungsphase und den Prüfungen in den Blick nimmt. In der Regel lernen ExamenskandidatInnen ein Jahr für das Examen, in vielen Fällen sogar länger. Hinzu kommt die zermürbende Wartezeit zwischen schriftlicher und mündlicher Prüfung. Häufig dauert es zwei Jahre vom Beginn der Examensvorbereitung bis zum Ende der letzten Prüfung. Das ist ein langer Zeitraum, der sich hervorragend dazu eignet, sich Sorgen zu machen.

Hohe Durchfallquote und negatives Feedback

Die Angst entsteht zunächst durch die konkrete Gefahr, beim Examen durchzufallen. Im Jahr 2004 lag die Quote nicht bestandener Prüfungen für das erste juristische Staatsexamen - im Schnitt der in den Bundesländern ermittelten Zahlen - bei 25,6 %.4 Ein Viertel aller ExamenskandidatInnen besteht die Prüfung demnach nicht. Bei einer Lerngruppe von vier Personen ist statistisch betrachtet eineR dabei, der/die nicht durchkommt.
Die Tatsache, dass es eine große Abschlussprüfung am Ende des Studiums gibt und nicht mehrere studienbegleitende Prüfungen, ist ein weiterer Angst erzeugender Faktor. Zum einen bedeutet diese Prüfungsstruktur, dass die während des Studiums in den Pflichtfächern erbrachten Leistungsnachweise nicht auf das Examensergebnis angerechnet werden. Das erfolgreiche Bestehen ist lediglich die Zulassungsvoraussetzung. Man fängt bei Null an und die Examensnote hängt ausschließlich von den wenigen Examensprüfungen ab, die im Prüfungszeitraum zu absolvieren sind. Zum anderen führt diese Struktur dazu, dass alle wesentlichen Inhalte des bisherigen Studiums für die Examensklausuren gelernt werden müssen. Einschränkungen der Prüfungsinhalte sind kaum vorhanden. Zwar steht in den Ausbildungsordnungen in Bezug auf die eine oder andere Materie, dass sie lediglich im Überblick abgeprüft wird. Aber das ist ein dehnbarer Begriff. Und um die Grundzüge einer Materie zu begreifen, muss auch Zeit investiert werden. Ein weiterer Angstfaktor sind die Übungsklausuren. Sie sind eigentlich die einzige Möglichkeit, ein Feedback über die eigenen Lernfortschritte zu bekommen. Angesichts oberflächlicher Korrekturen, nicht offen gelegter Bewertungskriterien und häufig vernichtender Bewertungen haben die Klausuren eine stark demoralisierende Wirkung. Die Motivation, nach einem Scheitern am nächsten Tag weiter zu lernen, tendiert gegen Null. Die Hoffnung, das Examen erfolgreich zu bestehen, schwindet mit jeder durchgefallenen Klausur.

Methodisch fragwürdig

Dabei spricht insbesondere die Art der Prüfung dem Hohn, was sie nachweisen soll. Prüfungen sollen Lernabschnitte beenden und feststellen, wieweit die KandidatInnen den jeweiligen Lernstoff beherrschen und ob sie eine hinreichende Kompetenz für bestimmte Aufgabengebiete besitzen. Methodisch gesehen ist die Prüfung der Versuch, aus einem Fundus an Kenntnissen eine mehr oder minder große Stichprobe zu ziehen und aus den Befunden über diese Stichprobe Rückschlüsse auf den gesamten Fundus anzustellen. Die Aussagekraft des Versuchs erste juristische Staatsprüfung ist mehr als dürftig zu bewerten. Denn der zu prüfende Wissensfundus auf Seiten der ExamenskandidatInnen ist sehr groß, er umfasst die wesentlichen Studieninhalte. Andererseits wird aber nur eine winzige Stichprobe des gelernten Wissens genommen, in Hamburg (bis 2006) beispielsweise lediglich eine Klausur pro Rechtsgebiet (plus Examenshausarbeit und mündliche Prüfung). Der Rückschluss von dem in der Prüfung erbrachten Wissen auf die tatsächlich vorhandene Qualifikation ist damit höchst problematisch. Wie kann aus der Bearbeitung lediglich einer Klausur im Zivilrecht auch nur annähernd eine treffende Bewertung des Wissensstandes des Prüflings erfolgen, der meist mehr als ein Jahr Zivilrecht gelernt hat?
In der konkreten Prüfungssituation ist dann insbesondere der Zeitdruck Angst erzeugend und das in den meisten Bundesländern geltende wirklich unsinnige Verbot, Kommentare zu benutzen. In jeder realen Berufssituation kann ein/e JuristIn auf Kommentare zurückgreifen. Wieso wird also die Nutzung dieser Hilfsmittel in der Prüfung verwehrt und damit unnötig Angst geschürt?
Die Prüfungsstruktur ist geprägt davon, dass der einzelne Prüfling in der Regel viel in das erste juristische Staatsexamen investiert, institutionell kaum motiviert wird, eher mit negativem Feedback zu kämpfen hat und die reale Gefahr droht, die Prüfung nicht zu bestehen.

Kompensation mangelhafter Didaktik

Vielfach wird behauptet, Prüfungen hätten die Funktion, zu motivieren. Ohne sie bestünde kein Anreiz für den Einzelnen, zu lernen. Dagegen ist einzuwenden, dass Menschen sehr wohl auch ohne Prüfungsdruck zum Lernen motiviert werden können, nämlich indem ihre so genannte intrinsische Motivation, ihre Neugier und ihr Wissensdurst, angeregt wird.
Allerdings erschweren die institutionellen Zwänge und Defekte der Bildungsinstitutionen solch ein intrinsisch motiviertes Lernen. Beispielsweise wird im Studium der Rechtswissenschaft in den ersten Semestern der allgemeine Teil des Strafgesetzbuchs und des BGB gelehrt, ohne dass der Sinn und Bezug dieser doch recht abstrakten Materie deutlich wird. Um die intrinsische Motivation zu fördern, wäre es wesentlich sinnvoller, zunächst den gesellschaftlichen Rahmen, in dem sich Recht bewegt, zu erörtern und die mit dem Recht transportierten Werte zu diskutieren.5 Während LehrerInnen immerhin eine didaktische Ausbildung erfahren, ist Didaktik an den Hochschulen ein Fremdwort. Dadurch leidet der Prozess der Wissensvermittlung erheblich. Eine intrinsische Motivation der Studierenden kann so noch weniger gefördert werden. In der Folge ist die Wissensvermittlung an Hochschulen in starkem Maße orientiert am Bestehen/Nichtbestehen von Prüfungen. Die Angst vor der Prüfung wird mangels geeigneter Didaktik zum eigentlichen Antrieb der Lernmotivation.

Identitätsbildung durch Angst

Eine weitere Hypothese zur Funktion von Prüfungen lautet: Prüfungen und Prüfungsangst dienen dem Prozess der Identitätsbildung und Reifung und bereiten auf die Bewältigung zukünftiger Extremsituationen vor. Richtig an dieser Hypothese ist, dass Prüfungen und Prüfungsangst die Identitätsbildung beeinflussen. Allerdings ist die positive Konnotation, die "Reifung" nahe legt, hier fehl am Platz. Prüfungsangst führt, wenn sie ein bestimmtes Maß überschreitet, zur Beeinträchtigung des Leistungsvermögens und infolge dessen zu Mißerfolgserfahrungen. Ergebnisse psychologischer Untersuchungen zum Zusammenhang von Prüfungsangst und Leistungsvermögen zeigen, dass Angst ab einer bestimmten Intensität zur Folge hat, dass die Aufmerksamkeit teilweise von der Lösung der Prüfungsaufgabe abgezogen wird und sich die von Prüfungsangst geplagte Person mit sich selbst beschäftigt, insbesondere mit Gedanken an einen möglichen Misserfolg/ein mögliches Versagen. Dadurch wird der Zugriff auf aufgabenrelevantes Wissen durch Blockaden - so genannte kognitive Interferenzen - verstellt.6 Das Bedrohungspotenzial des Scheiterns ist dabei umso größer je wichtiger das Bestehen der Prüfung für die jeweilige Person ist. Die Umstände, die dazu führen, dass die Angst das besagte Maß an Intensität erreicht, variieren von Person zu Person. Das erste juristische Staatsexamen als Abschlussprüfung des Studiums ist von erheblicher Bedeutung. In schlimmen Fällen, beispielsweise bei negativem Examensausgang, kann Prüfungsangst zu einer tief greifenden Identitätskrise führen. Insofern ist nicht ersichtlich, inwiefern das Erleiden von Prüfungsangst zu einer positiven Persönlichkeitsausbildung führen soll. Genauso schleierhaft bleibt, wie große Inszenierungen von Extremsituationen wie dem ersten juristischen Staatsexamen dazu beitragen sollen, ein Verhaltensrepertoire für die Bewältigung zukünftiger Extremsituationen aufzubauen. Es ist eher nahe liegend, dass extreme Prüfungserfahrungen traumatisieren, wenn sie nicht adäquat aufgearbeitet werden, und dann in zukünftigen Prüfungssituationen eher verunsichern als Verhaltenssicherheit bieten.

Angst trotz guter Vorbereitung

Prüfungsangst trifft nicht nur jene, die nicht wissen, wie sie lernen sollen, oder die nur wenig Zeit und Energie in die Examensvorbereitung investiert haben, sondern auch Studierende, die über effektive Studierfertigkeiten verfügen und zentrale Fachinhalte auf angemessene Weise strukturieren und organisieren können. Während es zur Verringerung mangelnder Studierfähigkeit und damit der Angst, das Prüfungswissen nicht organisiert und strukturiert zu bekommen, Hilfsangebote in Form der universitären und kommerziellen Repetitorien gibt, sind Studierende, deren Problem nicht die fachlichen Anforderungen sondern die Prüfungsangst erzeugenden Rahmenbedingungen sind, auf sich selbst verwiesen. Es gibt zwar psychologische Hilfsangebote an jeder Universität. Die Hemmschwelle, dort hinzugehen und sich Hilfe zu holen, ist jedoch relativ hoch. Für den/die EinzelneN ist es nicht einfach sich einzugestehen, Prüfungsangst und somit ein psychisches Problem zu haben. Man fühlt sich als Schwächling, als VersagerIn. Es scheint so, als würden alle anderen die schwierige Examensvorbereitung und Prüfung mit Bravour meistern, nur man selber sei dem nicht gewachsen.
Dieses Gefühl entsteht insbesondere, weil Emotionen und Ängste unter JuristInnen wenig thematisiert werden, zumal viele ihre Mitprüflinge als KonkurrentInnen wahrnehmen, denen gegenüber sie sich nicht die Blöße geben wollen, über eigene Schwächen zu reden. Allerdings möchte ich an dieser Stelle darauf hinweisen, wie wichtig es ist, das Schweigen zu brechen. Wenn man erst mal offen über seine Ängste mit anderen geredet hat, zeigt sich sehr schnell, dass die meisten ExamenskandidatInnen in der einen oder anderen Weise erheblich unter der Prüfung leiden und man also nicht alleine ist. Das Reden mit anderen ist zwar hilfreich für eine Solidarisierung, kann aber die nicht vorhandenen Ausbildungsangebote nicht ersetzen. Es ist scharf zu kritisieren, dass die Angst- und Stressbewältigung eine wesentliche Anforderung des ersten juristischen Staatsexamens ist, die maßgeblich den Prüfungserfolg beeinflusst, gleichzeitig aber keinerlei Techniken für den Umgang mit Stress und Angst gelehrt werden.

Geprüft wird, was nicht gelehrt wurde

Geht man - ungeachtet der zweifelhaften methodischen Eignung - weiterhin von der Annahme aus, Prüfungen sollten im Studium erworbene Qualifikationen nachweisen, dann wird man wohl zu dem Schluss kommen, dass die strukturell Angst erzeugenden Prüfungsbedingungen, die mangelnden intrinsischen Motivationsanreize, sowie das Fehlen der Vermittlung von Angst- und Stressbewältigungstechniken Fehler im System seien, da sie sich negativ auf das Leistungsvermögen auswirken. Betrachtet man aber noch weitere Funktionen von Prüfungen, dann wird schnell deutlich, dass diese Strukturen beabsichtigt sind.
Eine wesentliche Funktion von Prüfungen ist die Auslese. Während Bildungs- und Berufschancen vorangegangener Geschichtsperioden von anderen Selektionskriterien abhängig waren, z.B. von der Abstammung oder dem Geschlecht, haben in den westlichen Industrienationen Prüfungen mittlerweile die zentrale Auslesefunktion. Im Vergleich zu den genannten Kriterien der Abstammung oder dem Geschlecht ist dies zwar ein Fortschritt. Dennoch sind wir weit davon entfernt, dass alle Menschen die gleichen Bildungschancen haben.7 Die Ablösung des "zugeschriebenen Status" in Form der sozialen Herkunft und des Geschlechts durch den mit der Prüfung "erworbenen Status" ist nur vordergründig gelungen. Das Bildungswesen in den meisten westeuropäischen und nordamerikanischen Gesellschaften selektiert auch weiterhin geschlechts-8 und schichtspezifisch.9

Erfolg durch extraqualifikatorische Fähigkeiten

Die geschlechts- und schichtspezifische Selektion erfolgt beispielsweise dadurch, dass in Hochschulprüfungen auch so genannte extraqualifikatorische Fähigkeiten geprüft werden. Die Fähigkeiten werden als extraqualifikatorisch bezeichnet, weil sie nicht im Studium gelehrt werden, gleichwohl für das erfolgreiche Absolvieren der Prüfung maßgeblich sind. Zu diesen Qualifikationen zählen beispielsweise Fähigkeiten wie Selbstbewusstsein, Durchsetzungsvermögen, Standfestigkeit, Selbstständigkeit, Leistungsorientierung, Systemkonformität, Anpassung an Autoritäten, und sprachliche Eleganz.10 Prüfungsangst dient als Mittel, die Prüflinge in einen Zustand der Identitätsverunsicherung zu versetzen. Dadurch wird das Stadium der bisherigen Sozialisation bloßgelegt. Die extraqualifikatorischen Fähigkeiten werden sichtbar und sind für die Bewältigung der Verunsicherung notwendig. Für ein erfolgreiches Bestehen der Prüfung wird erwartet, dass die ExamenskandidatInnen selbstbewusst, durchsetzungsfähig und wortgewandt reagieren. Schließlich bilden sie dem Verständnis der Gesellschaft zufolge die zukünftige Elite. Sie werden gehobene Positionen innehaben und Macht über andere Personen ausüben. Von den zukünftigen Führungskräften wird gefordert, dass sie in der Prüfungssituation keine Angst haben. Sie sollen sich nicht am Boden zerstört den PrüferInnen unterwerfen, sondern ihnen demonstrieren, dass sie die Angst überwunden haben oder jedenfalls diesen Eindruck erwecken. In diesem Sinne ist das erste juristische Staatsexamen also eine Art Mutprobe. Am Aspekt Prüfung als Mutprobe wird die geschlechtsspezifische Selektion sichtbar. Die Angst verursachenden Rahmenbedingungen des Prüfungssystems begünstigen Eigenschaften, wie z.B. Selbstbewusstsein, Durchsetzungsvermögen, Mut und Standfestigkeit, die typischerweise Männern zugeschrieben werden. Fähigkeiten wie das selbstkritische Hinterfragen der eigenen Fähigkeiten, Zurückhaltung und Nachdenklichkeit wirken dagegen hinderlich, obwohl insbesondere die Fähigkeit zur Selbstkritik für viele Berufe dringend erforderlich ist.
Nicht die reine Qualifikation, sondern der Erfolg durch extraqualifikatorische Elemente definiert also die Leistung. Prüfungen als inszenierte Mutproben geben Aufschluss über die zu erwartende Erfolgstüchtigkeit der KandidatInnen. Dieser Bewertungsmaßstab lässt sich in einer Gesellschaft, deren vorherrschende Ideologie Erfolg als Leistung definiert, durchaus legitimieren. Einschränkend ist dabei festzuhalten, dass die in der Prüfung festgestellte Erfolgstüchtigkeit noch kein Garant für späteren tatsächlichen Erfolg ist. Dieser hängt von weiteren Faktoren ab. Allerdings geht vom Examen eine Art "self-fulfilling-prophecy" aus: Erfolgreiche Prüflinge werden von ihrer Umwelt als tüchtig eingestuft, was ihnen wiederum die nächsten Erfolge erleichtert, während umgekehrt weniger erfolgreiche ExamenskandidatInnen diese Erleichterung nicht erfahren und zusätzliche Barrieren überwinden müssen.

Identifikation mit dem System

Ein interessantes Phänomen ist, dass sich mit dem Erfolg im Examen häufig auch das Bewusstsein verändert. Vor der Prüfung leidet der Prüfling unter Prüfungsangst, zweifelt an seinen Fähigkeiten und glaubt, dass das Examensergebnis zu einem guten Teil vom Zufall abhänge und nicht unbedingt Auskunft über seine tatsächlichen Fähigkeiten gebe. Nach dem Bestehen entsteht die Überzeugung, dass das Ergebnis der Prüfung durch die eigene Leistung zustande gekommen sei. Das Erlebnis der Mutprobe verändert das Bewusstsein. Dies wird bei den AbsolventInnen des höheren Bildungswesens besonders deutlich. Die Bewährung in den zahlreichen Prüfungssituationen erzeugt das Bewusstsein, dass der Zugang zur Universität und der erfolgreiche akademische Abschluss auf individueller Leistung beruhen und deshalb die zukünftige Einnahme einer privilegierten Position in der Gesellschaft rechtfertigt. Funktion und Kriterien der Prüfungen werden dann nicht mehr reflektiert - der akademische Ausbildungsgang gilt als hinreichender Qualifikationsnachweis für die Zugehörigkeit zur Führungsschicht.11 Die Erfahrung, die bedrohliche und Angst erregende Situation der Prüfung überstanden und in einer Bewährungsprobe Erfolg gehabt zu haben, stärkt die eigene Identität und lässt die mit dem Prüfungserfolg verliehenen Privilegien als gerechtfertigt erscheinen. Diese Sichtweise wird vom Prüfungswesen noch dadurch verstärkt, dass es eher Persönlichkeitsmerkmale prämiert, die als Erfolgstüchtigkeit im Gegensatz zur Leistungstüchtigkeit bezeichnet werden. Leistungstüchtigkeit bezeichnet all jene Eigenschaften und Verhaltensweisen, die sich in den sachlichen und sozialen Leistungsanforderungen beispielsweise intellektueller Arbeit positiv auswirken. Erfolgstüchtigkeit meint dagegen all die Eigenschaften und Verhaltensweisen, die auf die Durchsetzung der Leistung und zuletzt der eigenen Persönlichkeit gerichtet sind. Erfolgreiche ExamenskandidatInnen zeichnen sich also unter anderem durch starke Erfolgshoffnung, geringe Misserfolgsfurcht, Ausdauer, konfliktarme Sozialisation, Anpassungsbereitschaft und Vertrauen aus. Die solchermaßen charakterisierten erfolgreichen ExamenskandidatInnen identifizieren sich leicht mit den Privilegien und Machtbefugnissen der von ihnen nach der Prüfung einzunehmenden Positionen. Sie identifizieren sich aber auch mit den Quellen des Erfolges: mit dem Examens- und Bildungssystem. Denn wenn das Examens- und Bildungswesen grundlegend verändert würde, könnten sie nicht mehr legitimerweise auf ihre Privilegien pochen. Der Erfolg im Examen macht die KandidatInnen so zu VerfechterInnen des bestehenden Prüfungswesens. Viele erfolgreiche JuristInnen glorifizieren so im Nachhinein ihre Examenszeit nach dem Motto: "Erst im Examen habe ich richtig arbeiten gelernt".
Daneben hält das Prüfungssystem weitere strukturelle Mechanismen zu seiner Verteidigung bereit. Das Notensystem könnte man auch als "teile und herrsche"-Taktik bezeichnen. Denn es wirkt der Solidarisierung der Prüflinge entgegen und hält sie zu einem ständigen Konkurrenzkampf an. Nähern sich Studierende im Laufe der Zeit dem Wissensstand der Lehrenden an, wird Kritik am System dadurch unterdrückt, dass sie durch das Prüfungsritual selbst in den Stand der Privilegierten erhoben werden.

Prüfung als Initiationsritus

Prüfung als Mutprobe und die mit ihr bezweckte Identifikation mit dem System definieren das eigentliche Wesen von Prüfungen als Initiationsritual.
"Rituale verdeutlichen allen Beteiligten (Akteuren wie Zuschauern) mit den Mitteln symbolischer Repräsentation die Bedingungen, unter denen sie Mitglieder des Systems sind oder werden können: welche Werte sie akzeptieren, welchen Normen sie sich unterwerfen, welchen Herrschaftsstrukturen sie sich anpassen müssen."12
Durch die Abschlussprüfungen vollzieht sich ein Rollenwechsel, ein Statussprung. Während die ExamenskandidatInnen vor dem Staatsexamen lediglich StudentInnen sind, wechseln sie nach erfolgreichem Bestehen der Prüfung in den AkademikerInnenstatus. Mit dem Rollenwechsel werden die Examinierten mit den jeweiligen Rollenattributen ausgestattet sowie auf die relevanten Erwartungen, die an diese Rolle gestellt werden, festgelegt. Sie werden durch die Abschlussprüfung in die Gesellschaftsschicht der akademischen Intelligenz aufgenommen und in die Verhaltenskodizes und Ideologien dieser Statusgruppe eingeweiht.
Die Initiation in eine neue Rolle ist häufig krisenhaft, weil sie verbunden ist mit der Trennung vom vertrauten Bereich. Der/die Examinierte wird von der Hochschule und den KommilitonInnen abgelöst und einem neuen unvertrauten Bereich zugeführt. Er/sie legt die Studierendenrolle ab, die bislang zur Stabilisierung der Identität beigetragen hat.
Die Krisenhaftigkeit ist jedoch nicht nur das Resultat psychischer Vorgänge in dem jeweiligen Prüfling, sondern zugleich Funktion des Rollenwechsels als Initiationsritus. Der/die ExamenskandidatIn soll durch die Krisenhaftigkeit des Übergangs für die neue Rolle sensibilisiert werden, die ihm/ihr nicht nur äußerlich zugeschrieben wird, sondern mit der er/sie sich auch bewusstseinsmäßig identifizieren soll. Mit der Zuweisung der Rolle soll der/die KandidatIn die Regeln und Ideologien des neuen Bildungs- oder Beschäftigungsbereichs internalisieren. Der/die StudentIn soll mit dem Examen seine/ihre StudentInnenrolle abstreifen und sich in die AkademikerInnenrolle sowie die Normen und Werte des Systems einfinden.

Lasst euch nicht klein kriegen

Zwar ist die Bewältigung des Examens schwierig, aber man kann es schaffen. Es ist möglich, sich wichtige extraqualifikatorische Kompetenzen wie z.B. Strategien zur Angstbewältigung anzueignen, wenn man die Eigenschaften der "Erfolgstüchtigen" in seiner bisherigen Sozialisation nicht mitbekommen hat. Die psychologischen Beratungsstellen an den Universitäten sind im Umgang mit Prüfungsangst geschult. Außerdem ist es möglich, die Angst - wenn sie übermächtig wird - im Rahmen einer Therapie abzubauen. Die Beschäftigung mit Prüfungsangst sollte aber nicht nur darin bestehen, sich individuell auf die Anforderungen des Prüfungs- und Gesellschaftssystems einzustellen, denn damit perpetuieren sich die Strukturen auf ewig und das Individuum lebt weiterhin in dem Gefühl, der Fehler liege bei ihm/ihr und nicht im System. Um diese Sichtweise zu verändern ist es absolut wichtig, die gesellschaftliche Dimension von Prüfungsangst zu sehen. Sie ist kein ausschließlich individuelles Problem. Sie ist strukturell bedingt und gewollt. Sie steht im Dienste bestimmter Ziele und ist im Hinblick auf diese funktional. Um zu verhindern, dass Generation um Generation von Prüflingen durch das Prüfungswesen auf Kurs gebracht wird, ist es notwendig darüber nachzudenken, wie die Strukturen des Prüfungssystems verändert werden können. Das schließt ein Nachdenken über die Veränderung der Rahmenbedingungen des Bildungswesens, die Rolle von AkademikerInnen in unserer Gesellschaft und den Modus der Vergabe von Privilegien mit ein.

Lena Dammann arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin in Hamburg.

Anmerkungen:

1 Vgl. z.B. Bickel / Fabricius / Lippmann u.a., 2004.
2 Vgl. z.B. Moeller, Untersuchungen zur Psychodynamik der neurotischen Prüfungsangst, Diss. FU Berlin 1967; Sperling, Die akademische Prüfung als institutionelles und persönliches Problem, in Schütz u.a. (Hrsg.), Prüfungen als hochschuldidaktisches Problem, Hamburg, 1969, beide zitiert nach Prahl, 31.
3 Prahl, 37.
4 www.bmj.bund.de unter der Rubrik Zahlen & Statistik.
5 Goerdeler, Jochen, Rechtswissenschaft und Didaktik, Ein Modell für eine andere juristische Ausbildung, Forum Recht (FoR) 1998, 30.
6 Küpfer, Karl, Prüfungsängstlichkeit bei Studenten: Differentielle Diagnostik und differentielle Intervention, 1997, 28.
7 Zur generellen Problematik der Forderung nach Chancengleichheit siehe Sozialreferat des AStA FU Berlin, FoR 2004, 52 ff.
8 Bundesministerium für Bildung und Forschung, Frauen im Studium, Langzeitstudie 1983 - 2004, 2005.
9 OECD, Internationale Schulleistungsstudie Pisa, Erste Ergebnisse von Pisa 2003, Kurzzusammenfassung, 29 f. (von www.oecd.org).
10 Prahl, 163.
11 Lutz / Krings, Überlegungen zur sozialökonomischen Rolle akademischer Qualifikation, HIS-Brief, NR. 18, 1971, 64, zitiert nach Prahl, 167.
12 Prahl, 177.

Literatur

Berge, Achim / Rath, Christian / Wapler, Friederike, Examen ohne Repetitor, 2001.
Prahl, Hans-Werner, Prüfungsangst - Symptome, Formen, Ursachen, 1979.
Bickel, Nell / Fabricius, Dirk / Lippmann, Jana, u. a. Examiniertes Examen: Das erste juristische Staatsexamen, Interviews mit Prüflingen durch einen Prüfer, 2004.