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Sonderausgabe
Wozu Jura studieren?

  Christian Rath  
 Recht, Herrschaft und Globalisierung 
 Die zivilgesellschaftliche Einbindung der Bundesrepublik ist unter Druck geraten  
 

Recht ist geronnene Politik. Recht ist nie Selbstzweck, es ist immer ein Mittel, um bestimmte Ziele zu erreichen. Daß die Rechtswissenschaft eine unpolitische Wissenschaft sei, kann deshalb niemand ernsthaft behaupten.

Wem nützt das Recht?

Lange Zeit stand im Mittelpunkt linker Rechtsanalyse nur eine Frage: Wem nützt das Recht? Früher, als der Marxismus noch die vorherrschende theoretische Orientierung der Linken darstellte, war dies eine eher rhetorische Frage. Die Antwort folgte auf dem Fuße: Das Recht sichert die Herrschaft der herrschenden Klasse. Der Staat wurde dabei nur als ein exekutierender "Ausschuß" des Kapitals gedacht. Sicher ist die frühmarxistische Analyse nicht völlig überholt (gerade im Zeichen der Globalisierung, siehe unten), aber heute sollte man sich der Frage doch etwas differenzierter nähern. So könnte man ein Raster von Kriterien entwickeln, um die Frage nach den NutznießerInnen des Rechts neu zu beantworten.
Man könnte dabei an der gesetzgebenden Versammlung, dem Parlament, ansetzen. Wer hat das Wahlrecht? Nach welchen Kriterien werden die Wahlkreise eingeteilt? Können Parteien verboten oder diskriminiert werden, sind ihre Mitglieder vor Kriminalisierung und Diskriminierung geschützt? Sind Parteien allein von privater Finanzierung (Beiträge und Spenden) abhängig oder stellt eine staatliche Parteienfinanzierung gewisse Unabhängigkeit und Gleichheit sicher?
Oder man geht von der Reichweite der Gesetze aus: Darf das pluralistisch besetzte und grundsätzlich öffentlich verhandelnde Parlament jede beliebige Frage per Gesetz regeln oder sind dem Gesetzgeber wichtige Bereiche entzogen (z. B. die Währungspolitik)? Regelt die verbleibenden Fragen eine wenigstens mittelbar demokratisch legitimierte und kontrollierbare Regierung oder lediglich ein von den demokratischen Institutionen benanntes "ExpertInnen"-Gremium ... la Bundesbank oder gar ein Überhaupt nicht demokratisch legitimiertes Organ (wie in der Monarchie oder einer Diktatur)? Gilt die freie Verfügung der EigentümerInnen Über die Produktionsmittel als "unantastbar" oder kann diese durch Gesetze relativ einfach beschränkt werden?
Schließlich könnte man auch die Rolle der Gerichte heranziehen: Sind sie pluralistisch besetzt? Wie groß sind ihre Möglichkeiten, eine relativ eindeutige Gesetzeslage durch Richterrecht zu korrigieren oder gar (man denke nur an das Bundesverfassungsgericht) Gesetze für nichtig zu erklären?
Diese sicher nicht vollständige Liste von Kriterien kann auf Gesellschaften aller Art angelegt werden. So kommt man zumindest zu einer Einschätzung der offiziellen Spielregeln der Rechtssetzung und Rechtsanwendung.
Parlamente, Regierungen und Gerichte, das sind noch die üblichen Gegenstände des juristischen Diskurses. Wichtig ist allerdings auch das politische Klima einer Gesellschaft. Dieses läßt sich nicht so leicht erfassen und bewerten wie der Text einer Verfassung oder eines Wahlgesetzes. Wie wachsam ist die Öffentlichkeit? Wem gehören die Medien und welches Selbstverständnis haben die dort Arbeitenden? Existieren soziale Bewegungen (Gewerkschaften, Kirchen, Umweltbewegung, Frauenbewegung ...), die die Gesellschaft politisieren und außerparlamentarischen Druck ausüben können? Oder ist die Gesellschaft in politischen, religiösen oder ökonomischen Ideologien (Kirchenfrömmigkeit, Wachstumsgläubigkeit o. ".) verfangen, die gesellschaftliches Engagement verhindern oder erschweren?
Seit Ende der 60er-Jahre hat sich dieses Klima in der Bundesrepublik deutlich verändert, ist viel pluralistischer geworden. Dadurch hat sich auch die Funktion der staatlichen Einrichtungen verändert, ohne daß eine grundlegende Revision der juristischen Spielregeln stattgefunden hätte. Auch die Justiz wurde pluralistischer, die Verwaltung und das Parlament ebenso. Die Frage "Wem nützt das Recht?" konnte deshalb immer weniger eindeutig beantwortet werden. Die Bundesrepublik war mehr oder weniger zu einem pluralistischen Rechtsstaat geworden.

Das Ende des "fordistischen" Kompromisses

Daß diese zivilgesellschaftliche Einbindung der staatlichen Institutionen und damit des Rechts in den letzten Jahren an deutliche Grenzen gestoßen ist, hat vor allem ökonomische Gründe. Denn der (faktische) Kompromiß zwischen Kapital und Arbeit, der in diesem Jahrhundert mit vielen Brüchen und Verwerfungen in allen westlichen Industrienationen wirksam war, droht derzeit zu zerbrechen oder muß zumindest neu ausgehandelt werden.
Grundlage und Auslöser der Entwicklungen, die einst zu diesem Kompromiß führten, war die großindustrielle Einführung des Fließbandes Anfang dieses Jahrhunderts. Die Großfabrik wurde zum bestimmenden Produktionsort, die Konzentration der ArbeiterInnen an zentralen Orten erleichterte die Organisation in starken Gewerkschaften und die Durchführung wirksamer Arbeitskämpfe. Die ArbeiterInnen sicherten sich so ihren Teil vom wachsenden Kuchen. Gleichzeitig ermöglichte die Fließbandtechnik auch die Herstellung erschwinglicher Massenkonsumgüter, für die es dank des langsam wachsenden Wohlstands der ArbeiterInnenschaft auch einen riesigen Markt gab. Das Kapital profitierte somit ebenfalls von den Erfolgen der ArbeiterInnenbewegung. Diese zumindest partielle Interessensidentität führte zum "Kompromiß": Die Gewerkschaften nahmen Abschied von revolutionären Bestrebungen, während Staat und Kapital den Sozialstaat als gesellschaftliches Ziel und Grundlage der Stabilität akzeptierten. In der linken Sozialwissenschaft bezeichnet man diese Phase des gesellschaftlichen Kompromisses als "Fordismus" (in Anlehnung an den US-Autofabrikanten Henry T. Ford, der einerseits das Fließband großindustriell einführte und gleichzeitig mit der Tin Lizzy das erste für breitere Kreise erschwingliche Kraftfahrzeug produzieren ließ).
Mit dem Aufkommen neuer informationstechnologischer Möglichkeiten wird dieser Kompromiß immer brüchiger. Unter dem aus Japan kommenden Schlagwort "lean production" (schlanke Produktion) wird eine massive Reduzierung der Industriebelegschaften durchgesetzt. Die im Dienstleistungsbereich entstehenden Jobs gleichen die Entlassungen bei weitem nicht aus und sind im Durchschnitt weitaus ungesicherter (Zeitverträge, Teilzeitarbeit). In den Sozialstaatskompromiß bleiben nur noch die stark reduzierten Kernbelegschaften der jeweiligen Betriebe einbezogen. Unter dem Anschwellen der Arbeitslosenzahlen ist dann auch der erreichte Standard des sozialen Netzes nicht mehr zu halten, auch wenn sich der Anteil des Sozialhaushalts am Gesamthaushalt noch nicht verringert. Massenarbeitslosigkeit und die weitverbreitete Unsicherheit über das berufliche Schicksal lassen das gesellschaftliche Klima rauher werden. Eine Regierungspolitik, die nicht nach kollektiven Lösungen, wie Arbeitsumverteilungsmodellen sucht, sondern immer wieder angeblich mangelnde Leistungsbereitschaft ("soziale Hängematte") der Betroffenen thematisiert, tut das übrige. Die Ellbogengesellschaft gewinnt an Raum.
Doch die neuen Informationstechnologien tragen noch auf einem anderen Wege zur änderung des gesellschaftlichen Klimas bei. Die durch den weltumspannenden rechnergestützen Daten- und Kommunikationsverbund ermöglichte Globalisierung der Produktion und der Warenmärkte hat die Konkurrenz der Wirtschaftsstandorte zu einem zentralen innenpolitischen Thema gemacht. Dabei wird in der sog. "Standortdebatte" häufig in sich widersprüchlich argumentiert. Wenn VW in China Autos produzieren läßt, wird dies als Signal für zu hohe Löhne bei uns gewertet. Wenn deutsche Chemiefirmen in den USA Genlabore gründen, dann sieht man darin ein Indiz für zu hohe Umweltstandards in der Bundesrepublik. Wenn jedoch asiatische Konzerne immer mehr in Europa investieren, kann darin niemand ein Signal für überzogene Sozial- und Umweltanforderungen in Asien erkennen. Vielmehr heißt es nun, daß bereits der Ausverkauf der unter Auszehrung leidenden europäischen Wirtschaft drohe. Tatsächlich geht es bei der Wanderung von Produktionskapital meistens um etwas anderes. Wer marktnah produziert, hat Image-Vorteile, kann besser auf Trends reagieren und unterläuft vor allem die kleinen protektionistischen Tricks, die es nach wie vor in allen Industriestaaten gibt. Das gilt für VW in China, die deutsche Chemieindustrie in den USA und ebenso für die asiatischen Konzerne in Europa. Daß daneben standardisierte nicht-innovative Massenproduktion wie etwa die Textilherstellung in Billiglohnländer ausgelagert wird, ist ein übliches Element des Wirtschaftskreislaufs und wahrlich nichts Neues. Neu ist allenfalls, daß ehemalige Billiglohnländer technologisch zu den traditionellen Industriestaaten aufgeschlossen haben. Doch die Asien-Krise der letzten Jahre zeigt, wie fragil solche Aufsteigerpositionen sind.
Während die deutsche Volkswirtschaft Jahr für Jahr gewaltige Exportüberschüsse erwirtschaftet und damit Standortstärke beweist, scheint eher das Gejammer der deutschen WirtschaftsfunktionärInnen zu einem echten Standortnachteil zu werden.

Steuerungsdefizite und -chancen sozialstaatlichen Rechts im Weltmarkt

Für beunruhigender halte ich die Globalisierung der Weltfinanzmärkte, die die Staaten doppelt unter Druck setzt. Einerseits reagiert die internationale Währungsspekulation sehr sensibel auf alle vermeintlich wirtschaftsschädlichen Schritte eines Staates. Weil nach dem weitgehenden Wegfall von Kapitalverkehrskontrollen mit solchen Spekulationsgeschäften oft mehr Profite zu machen sind als mit "solider" Produktion von Gütern und Dienstleistungen, vagabundieren inzwischen so große Kapitalmengen auf den Weltfinanzmärkten, daß oft selbst die vereinigten Zentralbanken dem Treiben nicht mehr Herr werden. "Casino-Kapitalismus" ist ein schöner Ausdruck hierfür. Währungsturbulenzen bringen aber immer auch die heimische Wirtschaft durcheinander, so daß die Staaten nach Möglichkeit versuchen, nicht ins Visier der Spekulation zu kommen.
Beim zweiten hier zu erwähnenden Phänomen, der Kapitalflucht, geht es ebenfalls um das mehr oder weniger freiverfügbare Finanzkapital (lt. Bundesbank sind das in der Bundesrepublik rund 9 Bio. DM). Dieses kann eben nicht mal einfach von der Politik zu "Solidarpakten" oder ähnlichem herangezogen werden. Nicht einmal die Durchsetzung der Steuerpflicht auf Kapitaleinkünfte mittels Einführung einer sog. Quellensteuer scheint halbwegs wirksam umsetzbar. Denn ehe man sich versieht, liegt dieses Kapital in Luxemburg oder anderen Steueroasen, wo der Arm des deutschen Fiskus nicht hinreicht. Wer viel frei verfügbares Kapital besitzt, hat damit auch viel Einfluß auf die Politik der Staaten, ohne einen Abgeordneten bestechen zu müssen oder mit der Abwanderung von Arbeitsplätzen zu drohen.
Aus rechtspolitischer Sicht jedenfalls ist die Globalisierung ein besorgniserregender Prozeß. Denn wenn die entscheidenden ökonomischen Prozesse auf einer höheren Ebene ablaufen als die politischen Prozesse, verliert nationalstaatliches Recht tendenziell seine Steuerungsfähigkeit (soweit es eben nicht unmittelbar Wirtschaftsinteressen dient). Denn das Kapital, dessen Bändigung als eine große zivilisatorische Leistung des sozialstaatlichen Verfassungsstaats des 20. Jahrhunderts anzusehen ist, kann sich heute dem rechtlichen Zugriff durch Abwanderung bzw. (und das genügt in der Regel) durch die bloße entsprechende Drohung entziehen.
Die deshalb eigentlich naheliegende Internationalisierung der politischen und damit der Rechtsbeziehungen scheint aber illusorisch. Zu ungleich sind die materiellen Lebensverhältnisse in Nord und Süd. Kultur- und Sprachunterschiede und auch die bloßen Entfernungen behindern dazu den Aufbau einer globalen Zivilgesellschaft. Ob neue Kommunikationswege via "internet" die Entwicklung einer globalen politischen Kultur voranbringen, bleibt abzuwarten.

Wettbewerb der Vorreiterrollen

Wenn größere Einheiten erforderlich sind, um die Erpreßbarkeit der Rechtssetzung und -anwendung durch das mobile Kapital zu verringern, könnte die Europäische Union ein sinnvoller Zwischenschritt sein. Dazu müßte sie sich allerdings von ihrer bisherigen Fixierung auf die Konkurrenz mit den USA, Japan und den aufstrebenden Industriestaaten des Fernen Ostens lösen. Statt den Binnenmarkt als bloßen Kostendrücker in der Weltmarktkonkurrenz zu benutzen, sollte er umgekehrt offensiv eingesetzt werden, um hohe öko-soziale Standards weitestmöglich zu verbreiten.
Schon heute ist die relative soziale Stabilität in Europa ein wichtiger Standortfaktor in einer immer instabiler werdenden Welt. Und ein weltweiter Wettbewerb um die qualitativ besten ökologischen Regelungen dürfte für die Vorreiter sogar wirtschaftliche Vorteile bringen. Denn Unternehmen, die aufgrund erh"hter staatlicher Standards einen erforderlichen Strukturwandel früher durchführen müssen, sind zur Innovation gezwungen und können später den Nachzüglern das Know-How verkaufen.
Entscheidend ist allerdings, daß dieser ökologische Strukturwandel sich später tatsächlich auf breiter Front durchsetzt. In diese Richtung wirken drei Mechanismen, die sich gegenseitig unterstützen. Zum einen kann das Vorpreschen einzelner politischer Einheiten als Symbol, als Startschuß gesehen werden, dem andere politische Einheiten sich ohne weiteres anschließen. Dies wird insbesondere dann der Fall sein, wenn Ziel und Mittel relativ unumstritten sind. Insofern spielt die Psychologie (wie häufig in der Ökonomie) eine große Rolle; wenn alle mit dem Erfolg des ökologischen Umbaus rechnen, wird er zum Selbstläufer. Aber auch wenn die globale Stimmung (wie derzeit noch) eher abwartend ist, machen nationale und regionale Vorreiterrollen Sinn. Denn in allen noch "rückständigen" politischen Einheiten gibt es soziale Bewegungen und Unternehmen, die ein politisches bzw. ökonomisches Interesse am Wandel auch in ihrer Region haben. Hier kann das real existierende Vorbild bei der Durchsetzung helfen. Am effektivsten aber ist die Standardsetzung, wenn sie als Marktzugangsbarriere für einen großen Binnenmarkt wirkt. Unternehmen, die den Markt bedienen wollen, müssen die Standards erfüllen, und werden deshalb darauf drängen, daß diese Standards Allgemeingut werden, um die Produktion großer Stückzahlen aufrechterhalten zu können. Auf diesem Umweg kommen internationale Vereinbarungen wahrscheinlich schneller zustande, als wenn die ganze Welt gewartet hätte, bis alle wichtigen Staaten von sich aus zur Veränderung bereit sind. Je größer der vorpreschende Binnenmarkt, umso wirkungsvoller der Vorreiter-Mechanismus. Dieser Mechanismus spricht für die Europäische Integration - allerdings nur unter der Voraussetzung, daß sich deren Mit- gliedsstaaten tatsächlich auf ein alternatives Wohlstandsmodell einigen. Hieran fehlt es nicht nur bislang, auch in Zukunft dürfte sich gerade auf europäischer Ebene ein über den Status Quo hinausweisender Wertewandel schwierig in Politik und Recht umsetzen lassen, da die "Hefe im Teig", die sozialen Bewegungen, auf europäischer Ebene weitgehend im Schatten der kommerziell orientierten LobbyistInnen bleiben. Aus diesem Schatten herauszutreten wird auch schwierig sein, solange es an einer europäischen demokratischen Öffentlichkeit fehlt (denn soziale Bewegungen ohne Öffentlichkeit sind wie Hefe im Eisfach). Aber vielleicht entwickelt sich diese ja im Gefolge der politischen Integration ganz naturwüchsig.
Globale Absprachen, zumindest unter den Industrieländern, sind neben einem Wettbewerb um Vorreiterrollen vor allem dort noch erforderlich, wo die Globalisierung bereits die Steuerungsfähigkeit der politischen Einheiten an sich gefährdet. Kapitalflucht und Währungsspekulation führen heute (wie oben gesehen) dazu, daß alle politischen Einheiten gezwungen sind, eine ähnliche neoliberale kapitalfreundliche Politik durchzuführen, um ein ökonomisches Ausbluten zu vermeiden. Hier ist eine behutsame Re-Regulation der internationalen Finanzmärkte erforderlich. Außerdem müssen Steueroasen ausgetrocknet werden, indem die aus den Industriestaaten stammenden dort agierenden Großbanken entsprechend unter Druck gesetzt werden. Natürlich lassen sich die großen und kleinen Geldvermögen nicht völlig an die Leine legen, aber es ist schon einiges gewonnen, wenn sich das Kapital wieder vermehrt realen ökonomischen Geschäften zuwendet (und damit zwangsläufig seßhafter wird), als wenn es als Spekulationskapital rastlos um den Globus wandert. Zumindest mittelfristig liegt eine derartige Zähmung auch im Interesse des marktwirtschaftlichen Systems selbst.

Christian Rath war von 1988 bis 1997 Forum-Recht-Redakteur und lebt heute als Journalist in Freiburg.