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Sonderausgabe
Wozu Jura studieren?

Katharina Ahrendts
Die herrschende Meinung als die Meinung der Herrschenden entlarven
Auf den Spuren streitbarer Juristinnen und Juristen
 

Wessels, Hillenkamp, Brox und Degenhart, vielleicht noch Larenz, Musielak und Krey: das sind die Männer, die - glaubt man den Empfehlungen von ProfessorInnen und AG-LeiterInnen - am besten dazu geeignet sind, den ErstsemesterInnen zu vermitteln, worum es in der Rechtswissenschaft eigentlich geht. Bei näherer Beschäftigung mit diesen Autoren und ihren auflagenstarken Werken tritt aber Seltsames zutage: Einige von ihnen entpuppen sich als durch ihre Zunft reingewaschene ehemalige Verfechter der nationalsozialistischen Ideologie (z. B. Karl Larenz - vgl. Frank Schreibers Artikel in diesem Heft), andere glänzen durch sexistisch-diskriminierende Begrifflichkeiten (z. B. Wessels' und Hillenkamps durch Anführungszeichen der Realität seiner Aktivität entrückte "Freier" neben der Prostituierten, die ihren - was auch sonst? -Dirnenlohn verlangt 1).
Wieder andere attackieren den/die LeserIn aus dem Hinterhalt ihrer Fußnoten mit platt-konservativer Meinungsmache (z. B. Volker Krey zum Thema Hausfriedensbruch durch Hausbesetzungen: "Hausbesetzungen waren im übrigen typischerweise eine offene Herausforderung durch ostentativen Rechtsbruch an die Staatsgewalt. Die entscheidenden Ursachen für das Entstehen einer Hausbesetzerszene waren entgegen der Behauptung vieler Sympathisanten nicht Mißstände auf dem Wohnungssektor (Spekulation) und Wohnungsnot: München z. B. kennt eine solche Szene nicht..." 2 ). Die meisten Werke bleiben - selbst in hochgradig politikverdächtigen Bereichen - völlig profillos: Glaubt man Wessels, geht es beim Strafrecht um den Umgang mit frustrierten Frauen, die ihre mit Mutterfreuden gesegneten Nachbarinnen nötigenderweise am Versorgen der lieben Kleinen hindern, mit beleidigend kaffeeklatschenden Nachbarinnen und sich hausfriedensbrechend im trauten Heim einnistenden Schwiegervätern - von Sitzblockaden, Tucholsky-Zitaten, Instandbesetzungen und Aufrufen zur Desertion vom Kosovo-Krieg keine Spur. Ganz zu schweigen von "terroristischen Vereinigungen" und anderen von der Staatsgewalt in ihrem Kampf gegen SystemgegnerInnen bemühten Konstrukten - aber die sind ja auch nicht examensrelevant.
Diese nicht gerade inspirierenden Eindrücke wiederholen sich bei den meisten Lehrbüchern, Kommentaren und Zeitschriften, aus denen JurastudentInnen im Verlauf des Studiums die hausarbeits- und klausurrelevanten "herrschenden Meinungen" (h.M.) und "anderen Ansichten" (a.A.) fischen.

Streitbarkeit für BürgerInnenrechte

Um die anderen zu finden, die "streitbaren Juristen" 3 und Juristinnen, diejenigen, die ihre a.A. nicht zu den Haarspaltereien des Sachenrechts, sondern für BürgerInnenrechte, im Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit und politische Unterdrückung, für eine demokratische Kontrolle der staatlichen Gewalt und die Gleichstellung der Geschlechter zu Gehör gebracht haben und dies noch tun, muß man sich auf Spurensuche begeben.
Manchmal kann sie in der Vorlesung beginnen: So bildet die sogenannte Radbruchsche Formel vom gesetzlichen Unrecht, das bei besonderer Unerträglichkeit der überpositiven Gerechtigkeit zu weichen habe, regelmäßig das Sahnehäubchen der professoralen Ausführungen zur Mauerschützenproblematik. Nicht nur diese zur subsumtionsfreundlichen "Formel" avancierte und so in den Mainstream der Rechtswissenschaft eingegangene rechtsphilosophische Auseinandersetzung mit blindem Rechtspositivismus zeichnet Gustav Radbruch (1878-1949) aus: Der Strafrechtsprofessor war im Gegensatz zur Mehrheit seiner ZeitgenossInnen überzeugt davon, daß "ganz überwiegend die Klassenlage den Sturz in das Verbrechen und den Zugriff der Strafe veranlaßt" 4. Für die Konsequenzen aus dieser Erkenntnis stritt Radbruch als SPD-Reichstagsabgeordneter und für einige Jahre sogar als Reichsjustizminister der Weimarer Republik: Er forderte eine Orientierung des Strafvollzugs am Ziel der Resozialisierung und legte einen Reformentwurf zum Strafgesetzbuch vor, in dem die Todes- und Zuchthausstrafe und alle Ehrenstrafen abgeschafft, die Geldstrafe in den Mittelpunkt gestellt, das System der Maßregeln der Besserung und Sicherung ausgebaut und die Abtreibung entkriminalisiert wurde. Einige dieser Ideen wurden realisiert - allerdings erst in der Strafrechtsreform von 1975, nachdem kritische StrafrechtslehrerInnen sie in ihren "Alternativ-Entwurf" aufgenommen hatten.
Läßt sich die Radbruchsche Ethik noch in das Traditionsbewußtsein einer bürgerlichen westdeutschen Rechtswissenschaft integrieren, ist hier für die Erinnerung an den sich selbst als "revolutionären Marxisten" bezeichnenden Arbeiteranwalt Hans Litten (1903-1938) so gut wie kein Platz.

Arbeiteranwalt gegen Rechts

Litten begann seine Berufstätigkeit 1928 in einer Justizrealität, die Kurt Tucholsky (1890-1935), nicht nur Literat, sondern auch Dr. jur. und einer der schärfsten Justizkritiker der Weimarer Republik, so beschreibt: "Das Gericht spricht in einer politischen Strafsache seine ebenso politische Meinung aus. (Wir sollten nicht mehr den Fehler machen, diese Veranstaltungen als Rechtsprechung anzusehen - damit hat diese rein administrative Betätigung nichts zu tun.)." 5 Die politische h. M. der Gerichte ist rechts-konservativ, anti-demokratisch, anti-republikanisch; ArbeiterInnen werden reihenweise hart bestraft, FaschistInnen laufengelassen. Gegen diese Klassenjustiz kämpft Litten mit einer klassischen Waffe, der Strafprozeßordnung, deren Möglichkeiten er mit unerbittlicher Konsequenz und Zähigkeit zugunsten der von ihm vertretenen ArbeiterInnen ausschöpft. In den Prozessen, in denen es meist um Überfälle bewaffneter SA-Schlägertrupps auf ArbeiterInnen geht, gehört es immer zu seiner Prozeßstrategie, die hinter den Schlägern stehenden politisch Verantwortlichen zu entlarven. 1931 ruft er Adolf Hitler als Parteichef der NSDAP in den ZeugInnenstand und treibt ihn - im Prozeßprotokoll wohldokumentiert - mit kritischen Fragen zur Haltung seiner Partei zu den Gewalttaten der SA-Rollkommandos in die Enge. Zwei Jahre später wird Litten in der ersten Verhaftungswelle des Dritten Reichs gefangengenommen und stirbt nach fünf Jahren Folter und Mißhandlung im Alter von 35 Jahren im KZ Dachau.
Sicher auch in der Absicht, die DDR in einer Tradition des marxistischen Antifaschismus zu verankern, wurde die Erinnerung an Hans Litten dort wachgehalten: So wurde die Straße, an der die wichtigsten Institutionen der Ostberliner Justiz ihren Sitz hatten, nach Litten benannt. In der Neuen Justiz (NJ), dem ostdeutschen Pendant zur Neuen Juristischen Wochenschrift (NJW), wird er gewürdigt 6 - allerdings wird sein Bekenntnis zum Marxismus dort eindeutiger und unangefochtener dargestellt als es wohl in Wirklichkeit war.
Noch verhältnismäßig wenig erforscht ist die juristische Opposition in der DDR. Allerdings sind gerade aus den ersten Jahren nach der Staatsgründung Fälle bekannt, in denen JuristInnen gegen Justiz-Unrecht aufbegehrten. So plädierte der damalige DDR-Justizminister Max Fechner nach der militärischen Niederschlagung der Streiks und Demonstrationen vom 17. Juni 1953 in einem Interview im Neuen Deutschland für Mäßigung in der strafrechtlichen Behandlung der über 6 000 Verhafteten: "Es dürfen nur solche Personen bestraft werden, die sich eines schweren Verbrechens schuldig machten. [...] Selbst Rädelsführer dürfen nicht auf bloßen Verdacht oder schweren Verdacht hin bestraft werden." 7 Per Politbüro-Beschluß wird Fechner daraufhin "wegen partei- und staatsfeindlichen Verhaltens" seiner Position enthoben, aus der Partei ausgeschlossen und in einem Geheimprozeß zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Schon ein Jahr später wird er begnadigt. Anderen JustizkritikerInnen gelang die Flucht in die Bundesrepublik, wieder andere blieben in der DDR und konnten ihre Karriere nach Jahren der Degradierung und "Bewährung" fortsetzen - zum Teil dann aber als besonders gnadenlose HardlinerInnen.

Marxismus - nicht gesellschaftsfähig

Auch die Bundesrepublik hatte und hat ihre streitbaren JuristInnen. Hinweise auf sie hinterlassen sogar die etablierten Zeitschriften - durch ihr Bemühen um die Verwischung von Spuren von deren Tätigkeit. So verweigert der Verfasser einer Kurzrezension im traditionsreichen Deutschen Verwaltungsblatt (DVBl) die inhaltliche Würdigung des rezensierten Werks: Aufgrund des "maßgeblichen Einfluß von Wolfgang Abendroth [...] erübrigt sich eine Auseinandersetzung mit den Darlegungen von Seifert von einer anderen theoretischen Auffassung aus" 8.
Zum sprichwörtlichen roten Tuch für den Rezensenten wird Wolfgang Abendroth (1906-1985) durch sein Bekenntnis zum Marxismus und seine Verwurzelung in der ArbeiterInnenbewegung. Die Nazis inhaftierten ihn wegen seiner Tätigkeit in einer illegalen Organisation, die - im Widerspruch zu den jeweiligen Parteilinien - eine sozialdemokratisch-kommunistische Einheitsfront der ArbeiterInnen zur Basis des antifaschistischen Widerstands machen wollte. Nach 1945 wird er in Marburg Professor für Politikwissenschaft - ein verfassungsrechtlicher Lehrstuhl war für einen Marxisten in der Bundesrepublik nicht zu haben - und beteiligt sich auch fortan an allen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, in denen er das demokratische Fundament des Grundgesetzes vor allem zu Lasten der Arbeiterklasse in Gefahr sieht: Abendroth tritt gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik und das KPD-Verbot ebenso ein wie für gewerkschaftliche Mitbestimmung und politisches Streikrecht, später gegen die Notstandsgesetze und Berufsverbote und für die Friedensbewegung.
Das Grundgesetz war für ihn dabei zweierlei: Zum einen Mittel zur Stabilisierung der bestehenden gesellschaftlichen Machtverhältnisse (und damit auch keineswegs Garant gegen einen Rückfall in autoritäre politische Strukturen), zum anderen aber - etwa durch seine Offenheit für alternative Wirtschaftsformen - auch ein Instrument zur Transformation der Verhältnisse in Richtung auf eine sozialistisch geprägte Demokratie.
Für den ehemaligen Politikprofessor Jürgen Seifert (geb. 1928), der mit Abendroth dem Anti-Marxismus-Bann des DVBl-Rezensenten unterfällt, steht das Grundgesetz links von der sozialen Realität; daher bedarf es des Eintretens für Verfassungs-, insbesondere Grundrechtspositionen und gegen das restaurative Konstrukt der "Verfassungswirklichkeit". Vor diesem Hintergrund hat Seifert seine Stimme gegen die Notstandsgesetze, die Berufsverbote und den "großen Lauschangriff" zu Gehör gebracht. Immer noch in Sachen BürgerInnenrechte aktiv, berät er inzwischen die BürgerInneninitiative gegen die Castor-Transporte und sitzt für die Grünen in der G-10-Kommission des Bundestags, die für die Kontrolle politisch motivierter Telefonüberwachungen und Abhörmaßnahmen des Bundesnachrichtendienstes zuständig ist.
Nur wenige Frauen tauchen bisher in der Reihe der Streitbaren auf - ihnen wurde eine juristische Karriere bis ins 20. Jahrhundert hinein völlig verwehrt und bis heute erschwert (vgl. Kristina Stolterfohts Artikel in diesem Heft). Anita Augspurg (1857-1943), die erste deutsche Juristin überhaupt, mußte in Zürich studieren - in Deutschland wurden Frauen erst 1908 zum Jurastudium zugelassen. Die radikale Feministin kämpfte in zahlreichen Publikationen, öffentlichen Auftritten und von ihr gegründeten Vereinen für die Zulassung von Frauen an deutsche Universitäten und gegen die im zur Verabschiedung anstehenden Entwurf des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) verankerte Bevormundung der Frauen in persönlichen und in Vermögensangelegenheiten. Sie agitierte gegen die milden Urteile gegen Vergewaltiger und vor allem für das Frauenwahlrecht: Die Beteiligung von Frauen an der Gesetzgebung war ihrer Ansicht nach Voraussetzung für die Schaffung von Rechtsgleichheit. Die Rechtswissenschaft war für Augspurg dabei stets nur Mittel zum Zweck, war sie doch überzeugt, daß die "Frauenfrage [...] in allererster Linie aber Rechtsfrage" 9 ist.
Rechtsfrage ist nicht nur die Frauenfrage - zur Lösung fast jedes für die Gesellschaft bedeutsamen Problems kann das Recht als Methode beitragen, aber auch "nur" als Methode - die Inhalte müssen woandersher kommen. Daß es Inhalte gibt, für die es sich einzutreten lohnt, zeigen die hier vorgestellten und die vielen anderen hier nicht erwähnten unbequemen JuristInnen. Sie zeigen auch, daß es in jedem politischen System möglich ist, die Perspektive der Opfer einzunehmen, die Verletzung von BürgerInnenrechten zu erkennen und kritisch in Frage zu stellen. Nicht zuletzt machen diese Menschen und ihre Arbeit deutlich, daß es selbst heute in der Bundesrepublik mehr zu kritisieren gibt, als die juristischen Lehrbücher suggerieren. Dazu gehört Überzeugung, Mut und vielleicht auch Vorbilder - zum Glück gibt es einige, deren Spuren nachzugehen spannend und vielleicht auch ein bißchen inspirierend sein kann.

Katharina Ahrendts ist Doktorandin in Berlin.

Anmerkungen:

1 Wessels, Johannes / Hillenkamp, Thomas, Strafrecht Besonderer Teil 2, 22. Auflage 1999, 212.
2 Krey, Volker, Strafrecht Besonderer Teil 1, 11. Auflage 1998, 221, Fn.16.
3 Vgl. das gleichnamige Buch von Kritische Justiz (Hrsg.)1988, in dem ein Teil der hier erwähnten JuristInnen portraitiert ist.
4 Radbruch, Gustav, Einführung in die Rechtswissenschaft, 9. Auflage, Stuttgart 1952, 133.
5 Zwerenz, Gerhard, Kurt Tucholsky, Biographie eines guten Deutschen, München 1979, 73.
6 Weiss NJ 1988, 58 f.
7 Neues Deutschland v. 30.06.1953.
8 Spanner, Hans, Rezension von Seifert, Jürgen, Grundgesetz und Restauration, Neuwied 1977, DVBl 1978, 652.
9 Augspurg, Anita, Gebt acht, solange noch Zeit ist!, in: Die Frauenbewegung, 1. Jg. 1895, 4, zitiert nach Gerhard, Ute, Anita Augspurg - Juristin, Feministin, Pazifistin, in: Kritische Justiz (Hrsg.) 1988, 96.

Literatur:

Fricke, Karl Wilhelm, Opposition und Widerstand in der DDR-Strafjustiz, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) B 39 / 1996, 31 ff.
Kritische Justiz (Hrsg.), Streitbare Juristen, Eine andere Tradition, Baden-Baden 1988.
Paech, Norman, "Ich habe nur als proletarischer Anwalt meine Pflicht den angeklagten Proleteriern gegenüber erfüllt.", Hans Litten, Rechtsanwalt (1903-1938), in: Demokratie und Recht (DuR) 1988, 70 ff.
Paech, Norman / Stuby, Gerhard, Zum Tode von Wolfgang Abendroth, Demokratie und Recht (DuR) 1985, 377 ff.
Seifert, Jürgen, Demokratische Republik und Arbeiterbewegung in der Verfassungstheorie von Wolfgang Abendroth (1906-1985), Kritische Justiz (KJ) 1985, 458 ff.
Weiss, Wolfgang, Hans Litten - Anwalt des Proletariats, Kämpfer gegen Faschismus, in: Neue Justiz (NJ) 1988, 58 f.