Heft 4 / 1999:
Verfassungspotentiale?
50 Jahre Grundgesetz
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Wahr, gelogen oder eingeredet? - BGH-Urteil zu Gutachten in Mißbrauchsprozessen
 

Es klingt selbstverständlich: Läßt sich ein Strafgericht bei der Wahrheitsfindung durch VertreterInnen anderer Disziplinen unterstützen, so muß deren Arbeit den Standards ihrer Wissenschaft genügen.
In bezug auf die aussagepsychologischen Gutachten, mittels derer StrafrichterInnen in sexuellen Mißbrauchsprozessen die Glaubhaftigkeit der Aussagen kindlicher und jugendlicher (Opfer-)ZeugInnen dort festzustellen pflegen, wo es an handfesten Indizien wie etwa Verletzungen fehlt, bedurfte es allerdings eines Urteils des Bundesgerichtshofs (BGH), um die Anforderungen zu klären, denen ein strafgerichtlich verwertbares Gutachten genügen muß.
Die Erfüllung der mit Hilfe zweier renommierter Aussagepsychologen aufgestellten Kriterien scheint kein Hexenwerk zu sein: Die Methoden des / der Sachverständigen müssen dem aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand entsprechen. Er / Sie muß Hypothesen bilden und anhand der vorliegenden Zeugenaussage überprüfen. Die Aussage ist unter Überprüfung auf sogenannte Realkennzeichen (logische Konsistenz, Detailreichtum, Schilderung ausgefallener Einzelheiten, Entlastung des/der Beschuldigten etc.) auf ihre inhaltliche Konsistenz zu prüfen, um bewußte Lügen des/der ZeugIn zu entlarven. Um Fremdsuggestion auszuschließen, ist die Entstehung der Aussage zu untersuchen und die intellektuelle und sprachliche Leistungsfähigkeit sowie das Sexualwissen der/des ZeugIn zu ermitteln. Das Gutachten muß durch die Benennung der verwendeten Methoden, Hypothesen, Befunde und ihnen zugrundegelegten Tatsachen für alle Verfahrensbeteiligten nachvollziehbar sein.
Was wie eine höchstrichterliche Anmaßung gegenüber der in den Generalverdacht der Unfähigkeit und Schlamperei geratenen PsychologInnenzunft wirkt, belehrt in Wirklichkeit ausschließlich die Strafgerichte: Verantwortlich für eine Verurteilung sind die StrafrichterInnen, die ein unseriöses Gutachten autoritätshörig ihrer Beweiswürdigung zugrundelegen.
Dort, wo Aussagen der Mißbrauchsopfer vorliegen, bedeutet das Urteil einen Gewinn an Rechtssicherheit. Fehlt es allerdings - etwa aufgrund des niedrigen Alters des Kindes oder seiner schweren Traumatisierung - an einer verbalen Aussage, ist eine Aufarbeitung des Geschehens mit den Mitteln des Strafrechts nicht möglich, denn der Ausdeutung von Kinderzeichnungen und Spielszenen mit anatomisch korrekten Puppen erteilte der BGH ausdrücklich eine Absage.
Wenngleich das Urteil nur für Strafverfahren Bindungswirkung entfaltet, ist zu hoffen, daß seine Grundsätze auch in familiengerichtlichen Sorgerechtsverfahren, in denen bei Mißbrauchsvorwürfen ebenfalls oft psychologische Gutachten eingeholt werden, Anwendung finden werden.

Katharina Ahrendts, Berlin.

Quellen: Urteil des BGH v. 30.07.1999 (Az.: 1 StR 618/98); Tagespresse v. 31.07.1999.