Heft 1 / 2000:
status quo vadis
Die Europäische Union zwischen Neoliberalismus und Demokratisierung
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Die Entwicklung der europäischen Asylpolitik bis zum Vertrag von Amsterdam
 

Seit dem Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages am 1. Mai 1999 ist Asylpolitik eine echte Aufgabe der EG. Diesen Schritt kann man durchaus als Demokratisierung bezeichnen, indem die Asylpolitik grundsätzlich in das allgemeine Rechtssetzungsverfahren der EG einbezogen wurde. Allerdings hat er einen langen Vorlauf, der die Asylpolitik bis heute prägt. Diese Entwicklung soll hier im einzelnen kurz skizziert werden.

Was bisher geschah

In den Ursprungsverträgen zur Gründung der drei europäischen Gemeinschaften 1 war von Asylrecht keine Rede. Nach dem Prinzip der enumerativen Einzelermächtigung 2 durften und dürfen die Gemeinschaften nur dort tätig werden, wo sie dazu ausdrücklich ermächtigt wurden. Aus diesem Grund fand eine Beschäftigung mit Asylpolitik zunächst nur außerhalb der Gemeinschaften in zwischenstaatlichen Arbeitsgruppen statt. Aus den Beratungen dieser Gruppen ging schließlich das sogenannte Schengener Abkommen vom 14. Juni 1985 hervor. Darin wurde eine verstärkte Zusammenarbeit "gegen die unerlaubte Einreise und den unerlaubten Aufenthalt von Personen" 3 und eine Harmonisierung der entsprechenden Gesetze 4 vereinbart. Zur Umsetzung wurden dann das sogenannte Dubliner Übereinkommen (DÜ) vom 15. Juni 1990 und das sogenannte Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ) vom 19. Juni 1990 geschlossen. Insofern sich die beiden Abkommen im asylrelevanten Teil überschneiden, geht nach dem sogenannten Bonner Protokoll vom 26. April 1994 das DÜ vor.5
Auch nach dem Inkrafttreten der beiden Abkommen blieb das materielle Asylrecht und das Asylverfahren eine Angelegenheit der Mitgliedsstaaten. Allerdings ist nun ausschließlich derjenige Mitgliedsstaat für das gesamte Verfahren zuständig, der die Einreise des Flüchtlings ermöglicht hat. Die anderen Mitgliedsstaaten können ihn dorthin unverzüglich zurückschieben, ohne seine Berechtigung weiter zu prüfen. Es bleibt aber ausdrücklich das Recht vorbehalten, Flüchtlinge in Drittstaaten außerhalb der EU zurückzuschieben.6 Das dadurch geschaffene Anreizsystem, Flüchtlinge gar nicht erst auf das Gebiet seines Staates zu lassen, wird durch die Verpflichtung komplettiert, in die nationalen Rechtsordnungen Sanktionen aufzunehmen gegen Beförderungsunternehmen, die Flüchtlinge ohne die erforderlichen Einreisepapiere ins Land befördern. Desweiteren soll eine Pflicht der Unternehmen, diese Dokumente im Vorfeld zu überprüfen, eingeführt werden.7 Außerdem wurde durch das SDÜ das Schengener Informationssystem (SIS) geschaffen.8 Gespeichert werden darin die personenbezogenen Daten von Flüchtlingen, die abgeschoben werden sollen, die zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt wurden oder gegen die lediglich der begründete Verdacht einer schweren Straftat vorliegt.9

Maastricht und dann?

Zunächst brachte die Gründung der Europäischen Union durch den Vertrag von Maastricht vom 7. Februar 1992 selbst materiell wenig Neues. Zwar wurde die Asylpolitik als "Angelegenheit von gemeinsamen Interesse" in die sogenannte dritte Säule, die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres, einbezogen.10 Aufgrund des Zwangs zur einstimmigen Beschlußfassung des Rates,11 der im wesentlichen auf bloße Unterrichtung reduzierten Mitwirkung des Europäischen Parlamentes 12 und der fehlenden Kompetenz des Europäischen Gerichtshofes 13 änderte sich in der Sache allerdings wenig. Die Möglichkeit, nun formell unter dem Dach der Europäischen Union gemeinsame Politikansätze im Bereich Asyl zu verfolgen, führte aber vor allem zu drei Ereignissen, die die europäische Asylpolitik nach dem Maastrichter Vertrag prägten:
Den wichtigsten Einschnitt brachte die Tagung der für Einwanderungsfragen zuständigen Minister vom 30. November und 1. Dezember 1992 in London. Dort wurden drei Entschließungen angenommen, die von allen Mitgliedstaaten umgesetzt wurden und das Asylrecht in Europa entscheidend verändert haben.14 Die erste betrifft die Einrichtung der Kategorie "offensichtlich unbegründeter" Asylanträge. Diese sehr weit definierte Kategorie von Anträgen soll in einem beschleunigten Verfahren und unter zusätzlicher Rechtsschutzeinschränkung behandelt werden. Dann einigten sich die Minister auf das Konzept des "sicheren Drittstaates" und schließlich auf die Konstruktion des "sicheren Herkunftslandes". Um die Regelungen auch praktisch umzusetzen, haben die Mitgliedstaaten einzeln oder gemeinsam ein Geflecht von Rücknahmeabkommen mit potentiellen Drittstaaten geschlossen. Darin verpflichten sich diese, über ihr Staatsgebiet eingereiste Flüchtlinge sowie eigene Staatsangehörige problemlos zurückzunehmen. Prototyp dieser Abkommen war das mehrseitige Rücknahmeabkommen der Schengen-Staaten mit Polen vom 29. März 1991. Inzwischen existiert ein vom Rat der Innen- und Justizminister am 30. November 1994 verabschiedeter Musterentwurf für derartige Abkommen. Auf Anrainerstaaten wird von der EU zunehmend wirtschaftlicher Druck ausgeübt, Rücknahmeabkommen zu unterzeichnen.
Das nächste Ereignis ist die Resolution des Europäischen Rates über "Mindestgarantien für Asylverfahren" vom 20. Juni 1995.15 Darin sind zwar rudimentäre Mindeststandards vorgesehen, wie Abschiebeschutz bis zur Entscheidung über den Asylantrag, Prüfung des Antrags durch eine spezialisierte und informierte Behörde sowie die Möglichkeit, Rechtsmittel mit aufschiebender Wirkung einzulegen. Diese Garantien gelten allerdings nicht oder nur eingeschränkt für die oben genannten Kategorien der "offensichtlich unbegründeten" Anträge sowie derjenigen aus "sicheren Drittstaaten" und "sicheren Herkunftsländern".
Schließlich ist noch der "Gemeinsame Standpunkt" des Europäischen Rates vom 4. März 1996 über eine einheitliche Definition des Flüchtlingsbegriffes bedeutsam.16 Darin legen die Mitgliedsstaaten fest, was sie unter einem Flüchtling im Sinne des Art. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 1951 (GFK) verstehen. Entscheidend daran ist die Betonung, daß Verfolgung vom Staat ausgehen oder von diesem gebilligt oder gefördert werden muß. Wenn der Staat lediglich untätig bleibt, muß in einer besonderen Prüfung festgestellt werden, worauf diese Untätigkeit beruht.17 Außerdem werden Bürgerkriegsflüchtlinge nur eingeschränkt anerkannt.18 Beides dürfte mit der GFK nicht vereinbar sein. Völkerrechtlich ist es höchst seltsam, daß eine Staatengruppe eine regionale Interpretation eines verbindlichen völkerrechtlichen Vertrages vereinbart. Es bleibt daher festzuhalten, daß sämtliche Mitgliedsstaaten der Europäischen Union weiterhin uneingeschränkt an die GFK gebunden sind und in ihrer Gesetzgebung und Verwaltungspraxis zu deren Maßstäben zurückkehren müssen.

Amsterdam bis Tampere

Eine Zäsur, wenn nicht für die Praxis, dann doch zumindest für die vertraglichen Grundlagen, stellt der Vertrag von Amsterdam (AV) vom 2. Oktober 1997 dar. Die wichtigste Neuerung besteht in der Einbeziehung der Asylpolitik in die "erste Säule" der EU durch die Einfügung eines neuen Titels in den EG-Vertrag.19 Damit besteht eine echte Gemeinschaftskompetenz im Asylbereich. Allerdings gelten für einen Übergangszeitraum von 5 Jahren eine Reihe von Einschränkungen. So ist der Rat nicht auf das alleinige Initiativrecht der Kommission angewiesen, sondern kann auch auf Initiative eines Mitgliedsstaates tätig werden. Schwerwiegender ist die Beschränkung der Mitwirkung des Europäischen Parlamentes auf bloße Anhörung 20 und die Einschränkung der Kontrollbefugnisse des Europäischen Gerichtshofes 21. Für diese Zeit wird dem Rat ein umfassendes Arbeitsprogramm auferlegt, Maßnahmen sowohl in Bezug auf das formelle, als auch das materielle Asylrecht zu treffen.
Neben den institutionellen Änderungen wurde durch den AV der sogenannte "Schengen Besitzstand" in den Rahmen der EG einbezogen.22 Darunter versteht man das SÜ und das SDÜ inklusive der auf ihnen aufbauenden Ausführungsbeschlüsse. Außen vor bleiben lediglich Großbritannien und Irland. Das reiht sich in die Tendenz ein, im Asylbereich erst einmal außerhalb der Gemeinschaften und der Union Fakten zu schaffen, die dann nachträglich in die Verträge einbezogen werden. In Konsequenz folgt daraus auch, daß der "Schengen Besitzstand" als aquis communitaire Beitrittsvoraussetzung für alle Kandidaten ist. Durch ein weiteres Protokoll wird das Asylrecht für EU-Bürger in den Mitgliedsstaaten komplett ausgeschlossen.23 Auch wenn die praktische Relevanz gering sein dürfte, ist das Protokoll kaum mit der GFK vereinbar.
Auf dem Gipfel im finnischen Tampere vom 15. / 16. Oktober 1999 wurden nun die ersten Schritte eingeleitet, um das Arbeitsprogramm des AV umzusetzen. Auch wenn die Ergebnisse in der Regel nur aus Absichtserklärungen bestehen, werden doch einige Tendenzen deutlich. Erstens wird vereinbart, energischer gegen illegale Einwanderung und Fluchthelfer vorzugehen. Dafür sollen europäische Rechtsvorschriften mit "strengen Sanktionen zur Ahndung dieses schweren Verbrechens" erlassen werden. Außerdem soll auf ein gemeinsames europäisches Asylsystem hingearbeitet werden. Dazu soll die Kommission innerhalb eines Jahres eine Mitteilung ausarbeiten. Und weiterhin sollen die Arbeiten zu dem Fingerabdruckidentifizierungssystem von Asylbewerbern (Eurodac) unverzüglich zu Ende gebracht werden. Die Vorlage zu diesem System ist inzwischen schon vom Europäischen Parlament im Grundsatz gebilligt worden und wird wohl noch 1999 vom Rat verabschiedet werden.

Fazit

Auch wenn in den Verträgen und den Stellungnahmen der Organe der EU immer wieder die Bedeutung der GFK betont wird, hat sich die EU von ihr schon längst entfernt. Flüchtlinge werden ausschließlich als ein Problem der "Inneren Sicherheit" gesehen. Zwar ist die Einbeziehung der Asylpolitik in die "erste Säule" als Demokratisierung grundsätzlich zu begrüßen, in der Praxis ergibt sich daraus aber noch keine fortschrittlichere Politik. Die wichtigste Konsequenz ist allerdings, daß Asyl nun unwiederbringlich ein europäisches Thema ist. Das muß allen, die für offene Grenzen eintreten, bewußt werden.

Florian von Alemann studiert Jura und ist Mitglied der JungdemokratInnen/Junge Linke.

Anmerkungen:

1 18. April 1951 (Pariser Vertrag) und 25 März 1957 (Römische Verträge).
2 Art. 4 Abs. 1 EWGV a.F.; Art 5 Abs. 1 EGV.
3 Art. 9 Abs. 1 Schengener Abkommen.
4 Art. 17 Schengener Abkommen.
5 Art. 1 Bonner Protokoll.
6 Art. 3 Abs. 5 DÜ.
7 Art. 26 SDÜ.
8 Art. 92ff SDÜ.
9 Art. 96 SDÜ.
10 Art. K.1 Nr. 1 EUV a.F..
11 Art. K.4 Abs. 3 EUV a.F..
12 Art. K.6 EUV a.F..
13 Art. L EUV a.F..<
14 abgedruckt bei ai, 1999, S. 104ff.
15 abgedruckt bei ai, 1999, S. 113ff.
16 abgedruckt bei ai, 1999, S. 120ff.
17 Ziff. 5.2 Gemeinsamer Standpunkt.
18 Ziff. 6 Gemeinsamer Standpunkt.
19 Art. 61ff EGV.
20 Art. 67 EGV.
21 Art. 68 EGV.
22 Protokoll Nr. 2 zum AV.
23 Protokoll Nr. 29 zum AV.

Literatur:

amnesty international, Für Verfolgte geschlossen? Asylpolitik in der Europäischen Union, 1999.
Marschang, Bernd, Mißtrauen, Abschottung, Eigensinn - Entwicklungslinien der europäischen Asylrechts«harmonisierung» bis zum Amsterdamer Vertrag, in: Kritische Justiz (KJ) 1998, 69 ff.
JungdemokratInnen/Junge Linke, Handbuch gegen Abschottung, Selektion und Überwachung, 1998.