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  Ron Steinke / Stephen Rehmke   Forum Recht Home

 

Äther für alle!   Heft 1/2006
Medien und Meinungsmacht

Seite 10-14
Meinungsmacht und Gegenöffentlichkeit am Beispiel freier Radios  
 


[S. auch die ergänzenden Informationen:
- Freie Radios im Rundfunkrecht
- Freie Radios und Repression]

"Das Zeitalter der elektronischen Massenkommunikation träumt den Traum vom globalen Dorf: Ausgestattet mit den richtigen Medien kann sich jede(r) jederzeit die weite Welt - so wie sie ist - in die eigenen vier Wände projizieren lassen. Weltweite Vernetzung raffinierter Technik vermittelt das Wissen, aus dem man sich ein Bild davon machen kann, warum was wo passiert. Der Mensch hat die Vogelperspektive gewonnen und kann grenzenlose Objektivität atmen. Wenn nichts dazwischenkommt. Es kommt etwas dazwischen.
Es tritt jemand ins Bild, hält sich ein Mikrofon vor den Mund und kommentiert - erklärt - die Bilder. Wir wollen diese Person weghaben, sie verstellt die freie Sicht, verschwindet jedoch nicht. Wir beginnen zu begreifen: Sie ist untrennbar mit dem Blick, den wir in die Weite werfen können, verbunden. Ohne sie bleibt der Bildschirm leer. Der Blick, den sie uns dabei vermittelt, ist zwangsläufig ideologisch: Sie ordnet die Welt für uns nach eigenen Prämissen. Die Möglichkeit, das Gezeigte und Gesagte zu verifizieren, gibt es nicht."1
Um so wichtiger ist es, "öffentliche Wahrnehmung" nicht ohne die Medien zu denken, durch die sie erst möglich wird. Mediale Vermittlung bedeutet immer Reduktion von Komplexität, also Konzentration auf das Wesentliche. Was Medien für "wesentlich" halten ist, bestimmt ihr Standpunkt, erst von diesem aus wird unser "öffentliches" Bild der Realität konstruiert.
Auf den Blick der kommerziellen und staatlichen Massenmedien wirkt dabei eine Reihe unterschiedlicher Filter, am Ende führen sie jedoch zu einer bedeutenden Gemeinsamkeit: Meinungsmacht entsteht erst im Einvernehmen mit gesellschaftlich mächtigen Gruppen.

Die Grundaufstellung: Meinung und Macht

Im privaten, werbefinanzierten Rundfunk wollen AnzeigenkundInnen bedient werden, am Ende sind sie es schließlich, die die Gehälter bezahlen. Damit sind auch sie die eigentliche Zielgruppe, deren Wünsche von den Medienmachenden erfüllt werden müssen. Das Publikum ist lediglich das Produkt, das den zahlungskräftigen KundInnen als "Marktanteil" zum Kauf angeboten wird.
Staatlicher Anstalts-Rundfunk ist hingegen weniger zur Massenunterhaltung gezwungen, da die Regierenden, die dort über ihre IntendantInnen die Gehälter bezahlen, noch an anderem interessiert sind als an hohen Marktanteilen - zum Beispiel an der Schaffung eines bestimmten gesellschaftlichen Klimas, wofür Kulturelles und "Bildung" eine Rolle spielen. Paradoxer Weise erhält gerade der Staatsrundfunk deshalb von kritischen Geistern ein mildes Urteil. Die Filter, die hier auf die Realitäts-Konstruktion wirken, sind dabei nicht weniger gewaltig.
Denn die langfristige Gunst der Regierenden ist entscheidend für die Ausstattung der Sender mit Staatsgeldern, aber auch für die journalistische Arbeit selbst. Politische Leitplanken für die Berichterstattung setzen sich dabei durch besonders wirksame, weil "unsichtbare" Mechanismen über die politisch eingesetzten IntendantInnen bis hinab in die einzelnen Redaktionen fort: Neben der Kontrolle durch Vorgesetzte über Veröffentlichung und Nichtveröffentlichung ist es oft die Furcht vor Karriere-Einbußen, die die "Schere im Kopf" von JournalistInnen ganz von alleine nachschleift.
Wie es der CDU-Politiker Kurt Biedenkopf formuliert, kommt den etablierten Massenmedien die Aufgabe zu, "jeden Tag von neuem den Konsens herzustellen". Dieser Konsens, so analysieren die Medienwissenschaftler Chomsky und Hermann, ist in der Welt der profitorientierten und staatlichen Medien die Übereinstimmung des Publikums mit den Medien-Autoritäten aus Wirtschaft und Regierung.2 Die Arbeit der Medien wird so zur täglichen medialen Legitimation der bestehenden Machtverhältnisse.

Konsens-Fabrikation und Gegenöffentlichkeit

Im öffentlich-rechtlichen Rundfunk ist es nicht anders als in den kommerziellen Medien: Randgruppen ohne politische Repräsentanz oder Marktmacht wirken am Entstehen der öffentlichen Wahrnehmung nicht von innen heraus mit, sondern tauchen nur als Objekt einer - mehr oder weniger barmherzigen - medialen Darstellung auf. Auf das, was den Meinungs-Mainstream stört, kann dabei auch verzichtet werden.
Das Konzept "Gegenöffentlichkeit" stellt hierzu den Gegenentwurf dar. Als Medientheorie verlangt es einen radikal unabhängigen Journalismus, der weder staatstragend noch profitorientiert sein kann. Erste inhaltliche Grundsätze wurden mit dem Aufkommen außerparlamentarischer Bewegungen Ende der 1960er Jahre formuliert: Themen in die Öffentlichkeit bringen, die die etablierten Medien unterschlagen; die Betroffenen selbst zu Wort kommen lassen; Informationen "von unten" den Weg bahnen; den Pressebetrieb frei von Hierarchie gestalten und - frei nach Brecht - jede/n Empfänger/in zum/r Sender/in machen.
Damit bedeutet Gegenöffentlichkeit mehr als nur eine Ergänzung des journalistischen Spektrums um noch eine weitere Schattierung. Es geht vielmehr ganz grundsätzlich um die Frage, ob Meinungsmacht in die Hand der gesellschaftlich Mächtigen gehört, wenn doch die Pressefreiheit gerade der unabhängigen Kontrolle der Mächtigen dienen soll. Das Konzept Gegenöffentlichkeit stellt ein leidenschaftliches "Nein" auf diese Frage dar.
Die nicht-kommerziellen, sogenannten "freien" Medien, die in den letzten Jahrzehnten nach diesen Prinzipien gegründet wurden, haben sich sehr unterschiedlich entwickelt. Ihre vielfältigste und vielleicht originellste Ausprägung haben sie dabei in der Form des freien Radios gefunden. Die Widersprüche und Grenzen des Konzeptes, aber auch Möglichkeiten und Perspektiven der Gegenöffentlichkeit werden hier besonders deutlich.

Alle mal herhören!

Nicht-kommerzielle Radiosender schicken in Deutschland seit bald 30 Jahren Widerspenstiges, Unformatiertes, Unerhörtes über den Äther. In vielen Städten ergreifen marginalisierte gesellschaftliche Gruppen dort zum ersten Mal das öffentliche Wort. Für Subkulturen, Szenen und Bewegungen spielen die Sender vor allem als Kommunikationsplattform eine wichtige Rolle. Mit der benutzerfreundlichen Oberfläche anderer Radiosender ist das kaum zu verwechseln. Freies Radio wird nicht gemacht, um im Hintergrund zu dudeln und ignoriert zu werden. Es verlangt Aufmerksamkeit - oft auch Anstrengung - von seinen HörerInnen.
Inzwischen sind im deutschsprachigen Raum über 30 freie Radios legal auf Sendung. Die Sender vernetzen in der Regel Dutzende verschiedener Redaktionen miteinander. Die inneren Strukturen der freien Radios sind basisdemokratisch: Theoretisch alle Programmentscheidungen haben sich (im Konfliktfall) vor Gremien wie der Redaktion oder dem Radioplenum zu rechtfertigen.
Die ersten freien Radios begannen in Deutschland in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre - zu einer Zeit, als es in Italien und Frankreich schon Hunderte solcher Sender gab. Es waren zunächst Piratenradios, die sich Frequenzen kapern und illegal senden mussten.
Als erstes freies Radio vernetzte ab 1977 Radio Verte Fessenheim mit verschiedenen Sendeorten in der Region um Freiburg die deutsche und französische Anti-Atom-Bewegung. Dabei wurden die Radiomachenden, wie vielerorts, auch selbst zum Ziel von Polizeieinsätzen und Verhaftungen. Der Staat sicherte seine Autorität über den Rundfunk auch strafrechtlich ab: Nach dem damaligen "Gesetz über Fernmeldeanlagen" konnte das "Gesetzwidrige Errichten oder Betreiben einer Fernmeldeanlage" mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden.
Als die Kohl-Regierung 1984 das staatliche Rundfunkmonopol aufbrach, wollte sie damit sicherlich zu allerletzt den Piratensendern nachgeben. Die neu entstehenden Landesmediengesetze machten es nun aber auch freien Radios möglich, ihre Zulassung zu erreichen. Die Schwierigkeiten waren allerdings mit der neuen Rechtslage nicht vorbei.

Kampf um die Frequenzen

Es gibt kaum ein freies Radio, das sich seine Sendelizenz nicht erstreiten musste angesichts hartnäckiger Blockaden in den Landesmedienanstalten, die zur "Aufsicht" über die Ausübung der neu gewährten Rundfunkfreiheit eingesetzt wurden. In die Gremien der Medienanstalten beriefen die Bundesländer VertreterInnen "gesellschaftlich relevanter Gruppen", um über die Vergabe von Frequenzen zu entscheiden.
Wer diese "relevanten Gruppen" aus Sicht der jeweiligen Landesgesetzgeber sind, überrascht nicht: In Bayern zum Beispiel sitzen neben ParteivertreterInnen und Kirchenleuten auch der Bauern-, Komponisten- und Vertriebenenverband im "Medienrat" - neben einer einzelnen Gewerkschafterin.
Als 1987 Radio Z eine Lizenz als erstes freies Radio in Bayern beantragte, gab es für die NürnbergerInnen nur mit hauchdünner Mehrheit eine Sendegenehmigung vom Medienrat. Anstoß nahm das Gremium vor allem an dem Vorhaben von Radio Z, eine wöchentliche Schwulensendung ins Programm zu nehmen. Der CSU-Landtagsabgeordnete Dr. Gerhard Merkl meinte: "Wenn wir heute sagen, die Zielgruppe Schwule darf senden, dann kommen morgen die Lesben und übermorgen die Fixer."3
Rundfunkfreiheit für alle? Ja wo kämen wir denn da hin. Es vergingen nicht einmal vier Monate, bis die Landesmedienanstalt den Alternativsender kurzerhand wieder absetzte. Radio Z konnte erst nach erfolgreicher Klage vor dem bayerischen Verfassungsgerichtshof 1988 einen regulären und legalen Sendebetrieb aufnehmen. Die Prophezeiung des CSU-Politikers Merkl erfüllte sich übrigens recht bald - im positiven Sinne: Nachdem das Schwulenmagazin "Fliederfunk" in Nürnberg auf Äther gegangen war, ließ auch eine Lesbensendung nicht lange auf sich warten.

Wirken Worte?

Während in den Anfangsjahren des freien Radios, in der Zeit der "neuen sozialen Bewegungen", die Wirkung medialer Gegenöffentlichkeit greifbar schien, ist die gesellschaftliche Resonanz auf das Programm in den letzten Jahren zurückgegangen. Die Anziehungskraft auf neue HörerInnen-Milieus lässt nach.
Die AutorInnen des 1998 erschienenen "Handbuchs der Kommunikationsguerilla" erklären dies mit dem generellen Bedeutungsverlust der Linken: "Wo man [in den 1980er Jahren] glaubte, durch Aufklärung weitergekommen zu sein, war es vielleicht in Wirklichkeit gar nicht die schlagende Brillanz der Argumente aus der Gegenöffentlichkeit, die bei vielen Leuten ein Interesse für bestimmte Themen und Sichtweisen und ein Bedürfnis nach entsprechenden Informationen hervorrief. Vielmehr war dieses Interesse Ausdruck von Veränderungen der eigenen Lebenszusammenhänge vor dem Hintergrund jener gesellschaftlichen Entwicklung, in deren Zuge auch die "neuen sozialen Bewegungen" ihre Bedeutung gewannen."4 Kurz: Freie Medien hätten Anklang gefunden, weil ihre Themen in der öffentlichen Debatte standen, nicht umgekehrt.
Die VerfasserInnen des "Handbuchs der Kommunikationsguerilla" selbst verfolgen einen anderen Ansatz als das Konzept Gegenöffentlichkeit. Den Bruch mit dem, was Foucault als "Ordnung des Diskurses" bezeichnet und als ein wesentliches Element von Machtausübung identifiziert5, sucht die Kommunikationsguerilla nicht durch Aufklärung, sondern auf künstlerischen Wegen, durch Subversion.6 So tritt sie mit Strategien wie der Erfindung falscher Tatsachen zur Schaffung wahrer Ereignisse ("Informationsvergiftung") oder der Verfremdung von Werbebotschaften ("Adbusting") auf den Plan.
Aber auch die AutorInnen der Kommunikationsguerilla gestehen freien Medien zu, dass sie "nach wie vor einen Ausgangspunkt bilden können, um bestimmte Informationen in eine (auch bürgerliche) Öffentlichkeit zu tragen und dort Momente einer Delegitimierung der herrschenden Ordnung zu bewirken. [...] Gemessen an alten Illusionen mag das wenig sein. Mehr als nichts ist es allemal."

Gegenöffentlichkeit und soziale Praxis

Natürlich ist mit Information alleine nichts erreicht, wenn diese folgenlos verhallt. Gerade in der Ermöglichung von kulturellem Dissens kommt den freien Medien aber eine Möglichkeit zu, die über die Funktion als reines Kommunikationsmittel weit hinaus reicht: Journalismus "von unten", der den Betroffenen selbst das Wort gibt, holt diese aus ihrer Objektrolle heraus. Marginalisierte Gruppen bestimmen erstmals selbst, wie über sie gesprochen wird. Das ist nicht nur "mehr als nichts".
Ein freies Radio sollte das senden, was Medienarbeit als ein Instrument von Emanzipation begreifbar macht. Das bedeutet, "sich von beliebiger Musik und angepassten Gedanken, von der Vorstellung unerreichbarer Professionalität und Berufsexpertentum, von vereinheitlichten Jargons und ausschließlich Deutschsprachigem zu emanzipieren", wie es Dynamo 93, ein Zusammenschluss von RadiomacherInnen im Hamburger Freies Sender Kombinat (FSK) einforderte.
Freie Radios können dabei das Kulturelle mit dem Politischen verknüpfen: Sie können den Äther mit Musik füllen, die nicht zur Vermarktung durch die Musikindustrie gemacht ist, sie können Sendungen mit nicht-deutscher und nicht-westlicher Kultur ausstrahlen oder gar Sendungen selbst zu einem künstlerischen Medium machen.
Vor allem ihre inneren Strukturen unterscheiden freie Sender von Formen bloßer Kommunikationskunst. Die Sender stellen einzigartige Schnittstellen dar, auf denen die unterschiedlichsten Gruppen und Fraktionen zusammentreffen und auf den Erfahrungen, Diskussionen, Erfolgen und Fehlern der Vergangenheit aufbauen. Dass Streit dabei eher den Normalzustand darstellt, ist in diesem Sinne kein schlechtes Zeichen.

Innere Struktur und Basisdemokratie

Basisdemokratische Strukturen sind eben nicht auf Harmonie angelegt, sondern auf Auseinandersetzung. Sie sollen gerade verhindern, dass Unbefragte als Teil eines Konsenses ausgewiesen werden können, der in Wirklichkeit nicht existiert. Dabei überrascht es nicht, dass auch die basisdemokratischen Strukturen selbst immer wieder Gegenstand von Auseinandersetzungen in den Redaktionen freier Radios sind.
Denn natürlich ist eine konsistente "Senderpolitik" bei dieser Organisationsform schwierig. Allerdings: In den weitläufigen, oft nur lose zusammenhängenden Redaktionen freier Radios ist die basisdemokratische Legitimierung von großer Bedeutung, damit RedakteurInnen, die sich freiwillig und mit den unterschiedlichsten Interessen einbringen, Gruppenentscheidungen anerkennen und sich als Teil "ihres" Senders verstehen können. Wenn dabei bestehender Dissens ans Licht kommt, ist das gerade der Vorteil basisdemokratischer Strukturen. Dadurch kommt es zum Austausch und zur inhaltlichen Auseinandersetzung der Teilnehmenden untereinander. Das ist oft mühsamer als Eigenbrötelei, für ein Gruppenradio bedeutet es dennoch die Lebensgrundlage.
Andernfalls bliebe nicht viel übrig von der Idee eines freien Radios, das im Sinne der Gegenöffentlichkeit Position bezieht. Vielmehr entstünde ein offener Kanal - ein Forum, in dem alle aneinander vorbei reden.

Vielfalt heißt nicht Beliebigkeit!

Entscheidend für die Funktion freier Sender als praktische Form von Gegenöffentlichkeit ist, dass die verschiedenen Radiogruppen diese Strukturen nutzen, um sich gegenseitig zur Kenntnis und in die Verantwortung zu nehmen. Griffig formulierte der Vorstand vom Hamburger FSK: "Die Freiheit freien Radios besteht nicht in der unbeschränkten Redefreiheit."
Es gehe im freien Radio "nicht darum, allen Meinungen Platz einzuräumen und am Ende einen Querschnitt gesellschaftlicher Positionen unhierarchisch nebeneinander stehen zu lassen." Das "'Frei' im freien Radio" bedeute vielmehr, "ohne direkte Bindungen an bürgerliche Medien kritische Gesellschaftsanalysen zu betreiben und sich dabei die Freiheit zu nehmen, auch die eigene Praxis immer wieder kritisch zu hinterfragen." Freies Radio definiere sich insoweit "gerade im Protest gegen eine mediale Öffentlichkeit, die meint, bestimmte Dinge auch mal sagen dürfen zu müssen".7
Zu diesem Statement im Jahr 2002 kam es, nachdem im FSK heftig über antisemitische Äußerungen in einer Sendung gestritten wurde. Ähnliche Konflikte hatte es zuvor auch in anderen freien Sendern gegeben.8 Die Auseinandersetzung, die bis 2005 anhielt, stellte in ihrer Grundsätzlichkeit das Selbstverständnis des FSK als linkes Radioprojekt auf die Probe.
FSK fasst den Inhalt des Konflikts zusammen: "Zu Auseinandersetzungen und zu Sendeverboten führten zwei Sendungen, die beide Israel mit Nazideutschland gleichsetzten, und Israel das Existenzrecht absprachen. Einmal wurde das ganze unterlegt mit einer völlig absurden Agitation gegen die Entschädigungszahlungen Deutschlands an Israel. Um deren Unverhältnismäßigkeit zu demonstrieren, multiplizierte man schlicht die Gesamtsumme mit der Einwohnerzahl Israels, anstatt - wie es zur Ermittlung der Pro-Kopf-Verteilung richtig gewesen wäre - zu dividieren. Das andere Mal verlangte man vom Vorsitzenden des Zentralrats der deutschen Juden, Paul Spiegel, er solle sich vom Vorgehen des israelischen Staates gegen die Palästinenser distanzieren - und machte damit jüdische Deutsche zu Stellvertretern Israels."
Über Sendeverbote setzten sich die Betroffenen unter anderem mit körperlicher Gewalt hinweg; auf Sitzungen produzierten sie sich als Opfer des "Totschlagarguments Antisemitismus".

Indifferenz und Auseinandersetzungen

Es handelt sich keineswegs um einen Einzelfall in Medien der linken Gegenöffentlichkeit. "Die Abwesenheit von Sexismus und Rassismus stellt eine Idealvorstellung, sicherlich jedoch keine Beschreibung der alltäglichen Praxis der Radioprojekte dar."9 Eine offensive Auseinandersetzung um die Sendeinhalte ist in freien Radios aber selten geworden.
Im Alltag der oft lose organisierten Sender ist im Hinblick auf diese Themen oftmals eher ein gegenseitiges wohlwollendes Dulden zu beobachten, als dass deutliche Kritik geäußert und inhaltliche Auseinandersetzung gesucht würde. Für die Möglichkeiten der Gegenöffentlichkeit ist der Zerfall in vereinzelte desinteressierte Grüppchen heute viel bedrohlicher als jeder Druck von außen: Es droht die Beliebigkeit eines "offenen Kanals", und damit eben auch die Offenheit für z.B. völkische oder sexistische Tendenzen im Programm.
Die inhaltliche Verständigung zwischen den verschiedenen Radiogruppen innerhalb der freien Sender ist in den letzten Jahren noch schwieriger geworden, nachdem in vielen Sendern auch unpolitische migrantische oder musikalische Gruppen hinzugekommen sind und dadurch die innere Vielfalt gewachsen ist.
Insofern lässt der Verlauf des Streits im FSK aufhorchen. Die offene Auseinandersetzung, die in Hamburg geführt wurde, könnte anderen freien Radios für die Idee eines "Gruppenradios" als Ort ernsthafter Selbstreflexion wieder Mut machen.

Keine politische Linie

Das Beispiel FSK verdeutlicht allerdings auch die Grenzen, die einer politischen Auseinandersetzung durch die Natur des "Gruppenradios" gesetzt sind. Die Möglichkeit, einen politischen Konsens zu erreichen, wird in einem solchen Projekt stets eine Illusion bleiben.
Als nämlich beim FSK manche Mitglieder des Senders über den Konflikt hinaus eine klare politische Linie formulierten und begannen, diese über Mehrheitsbeschlüsse auch durchzusetzen, kam es zur Eskalation des Konflikts. Die Stoßrichtung der Mehrheitsbeschlüsse erfasste nun die gesamte antiimperialistische und internationalistische Ausrichtung der verantwortlichen Radiogruppe und zielte letztlich über die eigentliche Auseinandersetzung hinaus darauf ab, diese Positionen ganz aus dem Sender zu verdrängen.
In der Folge eskalierte der Streit und legte die Arbeit im Sender in vielen Bereichen lahm. Viele Sendende und teilweise ganze Redaktionen gaben entnervt auf, verabschiedeten sich entweder aus dem Sender oder zogen sich ganz auf ihre eigenen Belange zurück.
Dort, wo es Meinungsvielfalt und -verschiedenheiten in einem freien Radio gibt und trotz politischer Auseinandersetzungen kein Konsens erzielt werden kann, sollte man besser den Dissens stehen lassen. Mit einer starken inhaltlichen Argumentation ist man weitaus besser vor Beliebigkeit und Indifferenz in freien Sendern gefeit als mit dem Bemühen um eine einheitliche politische Linie, wie dies beim FSK versucht wurde.

Perspektiven für den medialen Dissens

Ein freies Radio unterscheidet sich grundsätzlich von Gruppen- oder Zeitungsprojekten, eine besetzte Frequenz ist nicht mit besetzten Räumen zu vergleichen: Die ersehnte Medienwirkung wird in einer Stadt auf lange Sicht hin nur jeweils für eine Frequenz zu erreichen sein. Selbst wenn man in bestimmten Auseinandersetzungen keinen Konsens mehr erzielen kann, besteht daher nicht die Möglichkeit, sich einfach aufzulösen oder aufzuspalten - wie das üblicherweise in anderen linken Projekten der Fall ist.
Ein freies Radio kann nur unter größten gemeinsamen Anstrengungen verschiedener Gruppen erkämpft und gehalten werden; zugleich ist es ein Medium, das große Verbreitung im öffentlichen Raum verspricht und daher für die politische Arbeit von vielen Gruppen von immenser Bedeutung ist. Freies Radio zeichnet sich somit als strömungsübergreifendes Projekt aus.
Wer auf die Auseinandersetzung keine Lust hat, so formulieren es die InitiatorInnen der neuen Radiogruppe Dynamo 93 im FSK, "wird bei linkem Sektierertum landen, wer umgekehrt nicht die Auseinandersetzung erträgt, wird als linker Offener Kanal enden, in dem alle nebeneinanderher senden." Es sind wohl genau diese beiden konträren Gefahren, die schleichend das Konzept der Gegenöffentlichkeit in seiner Medienpraxis bis zur Unkenntlichkeit zu verzerren drohen: einerseits die Öffnung zum bloßen Sprachrohr verschiedener Interessensgruppen, andererseits der Drang zu einer singulären politischen Linie. Eine Perspektive hat die Gegenöffentlichkeit in der Abgrenzung von beiden Tendenzen.

Ron Steinke war drei Jahre lang Redakteur von Radio Z in Nürnberg. Stephen Rehmke ist Mitglied der Redaktion "Salon Rouge" im FSK. Die Frequenzen aller freien Radios im deutschsprachigen Raum finden sich unter www.freie-radios.de.

Anmerkungen:

1 Radio Loretta, Nationale Identitäten im Freien Radio, www.fsk-hh.org.
2 Chomsky, Noam/Hermann, Edward, Manufacturing Consent, The Political Economy of the Mass Media, 1988.
3 IMEDANA (Institut für Medienanalyse und zur Förderung des nicht-kommerziellen Journalismus), Wenn der Sinn nach Umsturz steht: 10 Jahre Radio Z, 1998, 138.
4 autonome a.f.r.i.k.a gruppe/Luther Blissett/Sonja Brünzels, Handbuch der Kommunikationsguerilla, 1998.
5 Foucault, Michel, Die Ordnung des Diskurses, 1971.
6 www.contrast.org/KG
7 Sämtliche FSK-Zitate sind der Dokumentation unter www.fsk-hh.org entnommen.
8 Vgl. z.B. Initiative Sozialistisches Forum, Radioten im Dreyeckland, KONKRET 08/91, 40.
9 IMEDANA, a.a.O., 30.