Heft 3 / 1997:
Alles fließt
Recht im Geldstaat
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Stefan Soost
BVerfG bestätigt Überhangmandate und Grundmandatsklausel
 

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat am 10. April 1997 zwei angegriffene Elemente des Bundeswahlgesetzes (BWG), die ausgleichslosen Überhangmandate und die Grundmandatsklausel, für verfassungsgemäß erklärt.
Die Entscheidung über die Überhangmandate fiel mit Stimmengleichheit, so daß kein Verstoß gegen das Grundgesetz festgestellt werden kann. Überhangmandate entstehen im System der personalisierten Verhältniswahl, wenn eine Partei in einem Bundesland per Erststimme mehr Direktmandate erringt als ihr Listenplätze nach dem Zweitstimmenanteil zustehen. Dann verbleiben ihr die "überschießenden" Mandate nach § 6 Abs. 5 BWG. Eine Regelung über Ausgleichsmandate, wie sie in vergleichbaren Wahlgesetzen der Bundesländer zumindest in beschränktem Umfang vorgesehen ist, fehlt auf Bundesebene. Bei der Bundestagswahl 1994 fielen insgesamt 16 Überhangmandate an, zwölf für die CDU und vier für die SPD, was dazu führte, daß die Mehrheit der Regierungskoalition von zwei auf zehn Sitze stieg.
Die vier der Union nahestehenden RichterInnen begründen ihr Votum damit, daß dem Gesetzgeber bei der Gestaltung des Wahlrechts ein weiter Spielraum eingeräumt sei, der durch den Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit gem. Art. 38 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz, wonach jede Stimme den gleichen Zählwert und die gleiche rechtliche Erfolgschance haben muß, begrenzt wird. Bei Überhangmandaten handele es sich um zusätzliche Direktmandate, nicht um weitere Listenplätze. Das Gebot der Erfolgswertgleichheit sei daher nicht verletzt. Als Obergrenze für Überhangmandate werden fünf Prozent der Parlamentssitze vorgeschlagen. Nach abweichender Ansicht von vier RichterInnen stellen Überhangmandate zusätzliche Listenplätze dar, die nur in engen Grenzen zulässig seien, weil sie das Prinzip aushöhlten, wonach nur der Zweitstimmenanteil über die Sitzverteilung im Parlament entscheidet. Ohne Zuteilung von Ausgleichsmandaten oder der landeslistenübergreifenden Verrechnung von Überhangmandaten sei die Wahlrechtsgleichheit verletzt und das BWG verfassungswidrig.
Die Entscheidung über die Grundmandatsklausel (§ 6 Abs. 6 BWG), die der PDS 1994 den Einzug in den Bundestag ermöglichte, fiel einstimmig. Die Regelung, Parteien mit drei Direktmandaten auch bei Verfehlen der Fünf-Prozent-Klausel entsprechend ihrem Anteil an Zweitstimmen ins Parlament einziehen zu lassen, stehe im Ermessen des Gesetzgebers. Die Fünf-Prozent-Sperrklausel selbst hält das BVerfG für gerechtfertigt, um die Funktionsfähigkeit des Parlaments zu gewährleisten. Das Gericht sieht in der Grundmandatsklausel eine zulässige Ausnahme von der Sperrklausel, weil die Erringung von drei Direktmandaten ein Indiz dafür sei, daß die Partei besondere Anliegen aufgegriffen hat, die eine Repräsentanz im Parlament in Höhe des Zweitstimmenanteils rechtfertigen.

Stefan Soost, Göttingen

Quellen:

Pressemitteilung des BVerfG Nr. 31/97 v. 10.04.1997, abgedruckt in: Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 1997, Heft 18, S. XIV ff.; Tageszeitungen v. 11.04.1997.