Heft 4 / 1999:
Verfassungspotentiale?
50 Jahre Grundgesetz
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50 Jahre Gleichberechtigung juristischer Praxis und feministischer Theorie
 

Als Ideal, das einen Protest ausdrückt, ist die Gleichheit überzeugend und leicht verständlich, als Ideal, das Vorschläge ausdrückt, als konstruktives Ideal, kann ich mir kein komplizierteres denken als die Gleichheit."1 So das Resümee des Demokratietheoretikers Sartori, dem man ein wenig Ratlosigkeit anzumerken scheint, über den komplizierten Wert der Gleichheit, dessen Kern im Grundgesetz (GG) im Rahmen des Art. 3 GG kodifiziert ist. Über die Schwierigkeit mit der Gleichheit bestehen seit Aristoteles keine Zweifel, auf dessen Gleichheitsformel "Gleiches soll gleich, Ungleiches seiner Eigenart nach behandelt werden" auch heute noch bei der Prüfung des allgemeinen Gleichheitssatzes rekurriert wird. Die Hauptstoßrichtung des Gleichheitsideals war historisch zunächst in seiner sozioökonomischen Dimension angesiedelt. Zunächst in der französischen Revolution, dann als Klassen- oder Arbeiterfrage mit Karl Marx als eloquentem Anwalt. Doch schon seit der französischen Revolution ist Gleichheit auch eine Geschlechterfrage, wie der alternative Verfassungsentwurf aus weiblicher Perspektive von Olympe de Gouges zeigt. Eine Frage, die dann zwar in einem marxistischen oder liberalen Korsett in den folgenden Jahrhunderten zeitweilig ihre Unabhängigkeit aufgibt, aber zuletzt wieder als eigenständiges Problem aufbricht.
Die im GG verbürgte Gleichberechtigung von Mann und Frau war von Anfang an brisant - wurde Art. 3 II GG doch erst nach einem massiven Frauenprotest 2 vom Parlamentarischen Rat angenommen - und hat auch nach 50 Jahren Grundgesetz nichts von dieser Brisanz eingebüßt. Im folgenden sollen die Entwicklungen im juristischen Diskurs - aus Platzgründen kann nur die Judikatur beleuchtet werden - zu Art. 3 II GG in Beziehung zum feministischen Diskurs gesetzt werden, der das Spannungsverhältnis Gleichheit-Differenz thematisiert.

Die frühe Judikatur des Bundesverfassungsgerichts

Bis 1993 bleibt der dogmatische Kern der Argumentation des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) eine Auffassung von Art. 3 II und III GG als Differenzierungsverbote. Während Art. 3 I GG dem Gesetzgeber eine recht hohe Einschätzungsprärogative einräumt, die vom Gericht nur - bis in neueste Zeit - auf Willkür nachgeprüft wurde, setzen die besonderen Gleichheitssätze dem Gesetzgeber eine "feste Grenze" (BVerfGE Bd.21, 343) 3, die voll nachprüfbar ist und in bezug auf Art. 3 II GG bedeutet: "Dieses Verfassungsgebot verbietet grundsätzlich und ein für alle Mal die Differenzierung nach dem Geschlecht" (BVerfGE 37, 244; ähnlich BVerfGE 3, 240). Dieses "Differenzierungsverbot" (BVerfGE 3, 241; BVerfGE 5, 12) möchte das Gericht von Anfang an zum Angelpunkt seiner Argumentation machen: Art. 3 I GG als Willkürverbot, Art. 3 III GG als Differenzierungsverbot, das sich in Art. 3 II GG noch einmal positiv gewendet wiederfindet. Der geschlechtliche Unterschied darf demnach nicht mehr zum Anknüpfungspunkt für unterschiedliche Rechtsfolgen herangezogen werden. Zudem impliziert dieses rein formale Differenzierungsverbot eine Indifferenz gegenüber den Fragen, ob, wer und wie stark benachteiligt wird. In ihm verwirklicht sich die liberale Hoffnung auf eine geschlechtsneutrale Rechtsordnung ohne diskriminierende Regelungen. Doch die Wirklichkeit ist von Beginn an weniger absolut als es das strikte Differenzierungsverbot nahelegt. Denn schon in einer frühen Entscheidung "bedarf [es] kaum eines Hinweises", daß "im Hinblick auf die objektiven biologischen oder funktionalen (arbeitsteiligen) Unterschiede nach der Natur des jeweiligen Lebensverhältnisses" (BVerfGE 3, 241) Differenzierungen erlaubt sind; zumindest - so wird im folgenden konkretisiert - soweit ein solcher Unterschied "den Lebenssachverhalt so entscheidend prägt" (BVerfGE 6, 423), daß eine essentielle Vergleichbarkeit nicht mehr gegeben ist. Bis Mitte der 60er Jahre dominiert jedoch der unqualifizierte biologische oder funktionale Unterschied als Grund für eine Ausnahme von der Regel, und von diesen Unterschieden schien es einige zu geben: In einer weiteren Entscheidung deutet schon die "körperliche Bildung der Geschlechtsorgane" bei den Männern auf eine "mehr drängende und fordernde, für die Frauen auf eine mehr hinnehmende und zur Hingabe bereite Funktion hin"; Frauen haben einen "auf Mutterschaft angelegten Organismus" und sind auch bei Kinderlosigkeit/Unfruchtbarkeit darauf angelegt "fraulich-mütterlich zu wirken" (BVerfGE 6, 425f.). Reduziert auf biologische, bzw. anatomische Merkmale, wird hier die Frau zur ewigen Mutter, und was die funktionalen Unterschiede angeht, legt sich das Gericht auch vorsichtshalber schon einmal auf die Ewigkeit fest: "Immer also bleibt die Haushaltsführung Beruf der Frau" (BVerfGE 17, 20). Bis in die 60er Jahre läßt sich die Vorstellung von Gleichberechtigung des BVerfG daher folgendermaßen umschreiben: Die "natürlichen" Unterschiede der Geschlechter, was Biologie und Arbeitsteilung angeht, werden nicht in Frage gestellt. Frauen sind auf die private Sphäre, Kind und Herd, verwiesen. Gleichberechtigung heißt für das Gericht die Milderung der negativen Auswirkungen dieser geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung für Frauen. Das Gericht sieht die Unterbewertung der fraulichen Sphäre und versucht dieser entgegenzuwirken, es bleibt aber bei dieser "Symptombehandlung", die es ihm natürlich unmöglich macht, sich auf eine formale Argumentation zu stützen und es weit mehr in Überlegungen zu faktischen Gegebenheiten verwickelt als es vom Standpunkt eines strengen Differenzierungsverbots her nötig wäre. Einer solchen Charakterisierung steht nicht entgegen, daß die wichtigen Entscheidungen dieser Jahre alle die Seite der Frauen ergriffen, Art. 3 II GG faktisch ein Frauenrecht war.

Artikel 3 II GG als Differenzierungsverbot

Diese Tendenz kippt erst 1970. Dogmatisch gewinnt nun die qualifizierte Formel von den funktionalen/biologischen Unterschieden die Oberhand und damit korreliert eine Abnahme der zulässigen Differenzierungen. In dieser Phase kommt die Interpretation des Art. 3 II GG dem Idealtyp des Differenzierungsverbotes am nächsten. Als relativ spätes Paradebeispiel gilt eine Entscheidung von 1983, in der streng formal eine Anknüpfung an das Geschlecht festgestellt wird und die entsprechende Regelung daher als mit Art. 3 II GG unvereinbar angesehen wird (BVerfGE 63, 195). So gelingt es, in dieser Phase bis ungefähr Ende der 70er Jahre, Normen, die an das Geschlecht anknüpfen, immer weiter zu beseitigen. Entscheidend für diesen Wandel ist natürlich eine Erosion der essentialistischen Haltungen auf seiten des Gerichts: Der in Frage stehende Paragraph in einer Entscheidung wird z. B. nun als "Ausdruck einer patriarchalischen Gesellschaftsordnung" gesehen (BVerfGE 37, 250); in einem folgenden Urteil wird anerkannt, daß "sich das frühere Verständnis der Rolle der Frau in der Ehe und Familie zu verändern begonnen hat" (BVerfGE 39, 187) und das Gericht stellt weiterhin stellt klar: "Es gehört nicht zu den geschlechtsbedingten Eigenheiten von Frauen, Hausarbeit zu verrichten" (BVerfGE 52, 376). Eine natürliche Rollenverteilung, für die das Recht als unverhohlener Apologet fungiert, gibt es demnach nicht mehr. Die zulässigen Differenzierungen gehen weiter zurück, wobei es dem Gericht nicht gelingt, die biologischen/anatomischen sowie die funktionalen Unterschiede, die sich auf die Rollen in der geschlechtlichen Arbeitsteilung beziehen, als konsistentes Prüfungskriterium zu etablieren. Die Unsicherheit des Gerichts kommt nicht von ungefähr: Soll Art. 3 II GG ein Differenzierungsverbot bezüglich des Geschlechts sein, sind aber andererseits Differenzierungen insbesondere aufgrund biologischer Unterschiede, die nach herkömmlicher Meinung ja gerade die Geschlechterdifferenz ausmachen, erlaubt, dann widersprechen sich die beiden Prinzipien im Kern. Zudem bietet das Festhalten am formellen Differenzierungsverbot keine Kriterien für Umfang und Reichweite der relevanten biologischen Unterschiede - die funktionalen verlieren immer mehr an Bedeutung. Dieser Umfang hängt ab vom subjektiven Empfinden der Richter, was gesellschaftliches Leitbild oder auch nicht sei.
Anfang der 80er Jahre erreicht diese Entwicklung des strengen Differenzierungsverbots seinen Kulminationspunkt: Von den explizit an das Geschlecht anknüpfenden Regelungen sind nur noch vermeintliche "Privilegien" der Frauen, z. B. im Bereich des Mutterschutzes, übriggeblieben, deren Janusgesicht jedoch auf den zweiten Blick sichtbar wird (s.u.). Es sind die Männer, die in dieser Zeit den Großteil der Verfassungsbeschwerden bezüglich Art. 3 II GG einreichen. Faktisch bleiben Frauen gleichwohl unstreitig ökonomisch und sozial benachteiligt. Das Potential des Art. 3 II GG als liberales Differenzierungsverbot ist jedoch erschöpft.

Vom Differenzierungsverbot zum Gleichheitsgebot

Möglicherweise angesichts der bestehenden Benachteiligungen, jedenfalls wohl kaum aus dogmatischen Gründen, weicht das formelle Differenzierungsverbot zusehends materiellen Kriterien, die Art. 3 II GG eher zu einem Instrument zum Zweck sozialen Wandels machen. Die untergründige Tendenz dazu war von Anfang an vorhanden, Mitte der 80er Jahre kann man wohl von einer gewissen Dominanz sprechen.4 Schon eine relativ frühe Entscheidung enthielt nicht nur eine Prüfung auf eine vorhandene Benachteiligung hin (BVerfGE 10, 76). Sie zog dagegen sogar in Erwägung, daß diese durch andere Regelungen aufgewogen werden könnte und schloß auch nicht aus, daß es Grenzfälle geben könnte, in denen Benachteiligungen aufgrund der faktischen Bedeutungslosigkeit akzeptabel wären (BVerfGE 10, 77). Daß all dies nicht mit einem formellen Verständnis kompatibel ist und aus letzterem keine Kritereien für diese Punkte abzuleiten sind, liegt auf der Hand. Ungleichbehandlungen können mit dem althergebrachten dogmatischen Instrumentarium keineswegs gewichtet und aufgerechnet werden, dazu bedarf es einer materiellen Dimension der Gleichberechtigung. Insbesondere wenn das Gericht versucht hat, Hausfrauenarbeit aufzuwerten, ist es auf Probleme gestoßen, die seinen methodischen Rahmen sprengen müssen: Die Frage, ob Geschirrspülen und Lastwagenfahren gleichwertig sind, kann je nach Bezugspunkt sehr unterschiedlich beantwortet werden; wenn man aber überhaupt keinen Bezugspunkt haben will, wie das BVerfG, dürfte die Frage unlösbar sein.
Diese materiell ausgerichtete Rechtsprechung kulminiert im Rentenalter-Urteil 1987: Aufgrund der regelmäßigen Doppelbelastung von Frauen durch Beruf und Haushalt oder Kindererziehung hält es hier das BVerfG für verfassungsgemäß, daß Frauen unter bestimmten Umständen schon mit 60 Jahren Altersruhegeld beziehen können, wohingegen die Altersgrenze bei Männern bei 65 Jahren liegt. Das Gericht sieht hier erstens Art. 3 II GG als Mittel, um die Benachteiligung von Frauen zu beheben, nicht als symmetrischen Schutz beider Geschlechter (BVerfGE 74, 179). Zweitens bringt es - ohne daß es in diesem Zusammenhang nötig wäre - von sich aus die Frage auf, ob Art. 3 II GG nicht auch "positive Verpflichtungen des Gesetzgebers zur Förderung und Unterstützung der Grundrechtsverwirklichung" enthalte. Zuletzt hält es explizit einen "sozialstaatlich motivierten typisierenden Ausgleich" (BVerfGE 74, 180) von seiten des Gesetzgebers für zulässig. Damit ist die Differenzierungsverbot-Judikatur mehr oder weniger aus den Angeln gehoben. Man muß in dem Urteil eine endgültige Abkehr von liberaler Geschlechtsneutralität sehen hin zu einem wohl moderneren Verständnis, dem es nicht gleich ist, daß geschlechtsneutrale, gleiche Regelungen bei Männern und Frauen oft auf sehr ungleiche soziale Wirklichkeiten treffen und so Benachteiligungen perpetuieren können. Dieses neue Verständnis bedenkt diese Folgen, sieht unterschiedliche Ausgangslagen und versucht tendenziell diese durch unterschiedliche Regelungen auszugleichen. Kurz gesagt, das BVerfG antizipiert hier schon ein Stück weit die Verfassungsänderung von 1993. Allein, damit ergeben sich neue Probleme: Wie sollen Kriterien für zulässige Ungleichbehandlungen gefunden werden. Soll nicht Willkür Tür und Tor geöffnet werden, müssen sich Gewichtung, Ausgleich etc. an Kriterien binden lassen.
Noch vor 1993 vollzieht sich die hier schon in Ansätzen sichtbare Trendwende beinahe im vollen Umfang: In einer Entscheidung zum Nachtarbeitsverbot revidiert das Gericht einen teil seiner früheren Dogmatik. Es geht explizit von einem über Art. 3 III GG hinausgehenden Regelungsgehalt des Art. 3 II GG aus und nimmt ein "Gleichberechtigungsgebot" an, das sich auf "die gesellschaftliche Wirklichkeit" erstrecken soll (BVerfGE 85, 191). Damit erkennt das Gericht noch vor der Verfassungsänderung dogmatisch einen Verfassungsauftrag an und erklärt, daß "faktische Nachteile, die typischerweise Frauen treffen [...] durch begünstigende Regelungen ausgeglichen werden" dürften (BVerfGE 85, 207).

Die Judikatur nach der Verfassungsänderung 1993

Nach der Einfügung des Satzes: "Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Männern und Frauen und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin" als Satz 2 in Art. 3 II GG besteht kein Grund mehr, der gegen einen Verfassungsauftrag im Sinne eines aktivisch verstandenen Gleichstellungsgebotes sprechen würde. Das Gericht bekräftigt daher auch seine Ausführungen in einem Urteil von 1995 (BverfGE 92, 109). Hier wird auch noch einmal deutlich, daß das Gericht die klassischen Kriterien für zulässige Diskriminierungen, biologische und funktionale Geschlechtsunterschiede, äußerst rigide handhabt und jedenfalls die zweite Art faktisch zur Leerformel wird. Anwendung findet dieser nun angenommene Verfassungsauftrag erstmals in einer Entscheidung zur Gleichbehandlung von Männern und Frauen bei der Bewerbung um einen Arbeitsplatz (BVerfGE 89, 276). Das Gericht kann hier nur das vorher ergangene Urteil revidieren, insoweit es einen Schutzauftrag aus Art. 3 II GG ableitet.5

Zusammenfassung

Die Judikatur hat sich freigemacht von der ohnehin nach grammatikalischer und systematischer Auslegung nie haltbaren Gleichsetzung von Art. 3 II und III GG als Differenzierungsverboten. Mit dieser begrüßenswerten Öffnung hin zu einem aktivischen Gleichstellungsauftrag wird das Recht leistungsfähiger im Sinne der Durchsetzung von Gleichberechtigung, und es ist nicht zuletzt für mehr dogmatische Klarheit gesorgt. Gleichwohl wird diese dogmatische Klärung durch die verursachte Komplexitätszunahme mehrfach aufgewogen: Art. 3 II GG rückt nun wieder stärker in Richtung des Art. 3 I GG: Wenn tatsächlich aufgewogen, kompensiert, gewichtet und gleichwertig behandelt werden soll, dann muß "[...] Ungleiches seiner Eigenart entsprechend behandelt werden". Dies macht Entscheidungen über Maßstäbe und Wertungen notwendig, wobei hier der Prüfungsmaßstab des Gerichts fraglos über ein Willkürverbot hinausgehen muß. Damit sind - abermals - materielle Kriterien bzw. ein materielles Gleichberechtigungsverständnis gefragt, und man trifft hier - nicht völlig überraschend - noch auf ein gewisses Theoriedefizit auf seiten des Gerichts. Ob und was die feministische Theorie zur Klärung dieser Frage beitragen kann, soll im nächsten Absatz entwickelt werden.

Gleichheit und Differenz im feministischen Diskurs

Der feministische Diskurs läßt sich m. E. klassisch dialektisch fassen: Mit einem Gleichheitsdiskurs beginnend, dem die Antithese der Differenz zwischen den Geschlechtern entgegengehalten wird, finden beide ihre Aufhebung in postmodernen Vorstellungen, die Elemente aus beiden Lagern aufgreifen, aber diese auch transzendieren.

Die Gleichheitsperspektive

Der deutsche Diskurs nach 1945 wird zunächst dominiert vom Gleichheitsparadigma, das die BVerfG-Dogmatik konsequent zu Ende denkt und sich theoretisch schon an dem Punkt befindet, den das Gericht erst zwanzig Jahre später, durch eine rigorosere Handhabung der Dogmatik erreicht: Ein geschlechtsblindes Recht ist gefordert. Diese Ausrichtung erklärt sich zum einen wohl aus der Anknüpfung an den liberalen Feminismus des 19. Jahrhunderts, aber auch dadurch, daß der Nachkrigsfeminismus oft linken, antifaschistischen und daher oft auch rechts- und staatskritischen Milieus entstammt. Positive Forderungen an den Staat erscheinen daher suspekt oder gar naiv. Dem Staat, so die Haltung, kann und muß man allenfalls ein geschlechtsneutrales Recht abtrotzen, zu mehr ist er strukturell überhaupt nicht in der Lage. In der Kausalkette der Gleichheitstheoretikerinnen stellt sich die Ungleichbehandlung von Frauen als Ansatzpunkt für Veränderungen dar: Sie verursacht Ungleichheit im Sinne von inequality, d. h., sie führt zu Diskriminierungen. Simone de Beauvoirs "Man wird nicht als Frau geboren" ist das Credo dieses Paradigmas. Das rechtspolitische Projekt erschöpft sich so zunächst in einer Durchsicht des Rechts auf diskriminierende Normen und deren Änderung.

Die Differenzperspektive

Wann genau die Dominanz des Gleichheitsparadigmas durch das Differenzparadigma gebrochen wird, kann und muß nicht genau datiert werden. Die Trendwende ist wohl spätestens Mitte der 70er Jahre anzusiedeln. Die Differenztheoretikerinnen, unter denen die französische Philosophin Luce Irigaray hervorsticht, haben zunächst ein sehr andersgeartetes Projekt: Sie gehen i. a. von einem weiblichen Wesen aus, das aber durch den hegemonialen patriarchalen Diskurs über die Jahrhunderte verschüttet wurde. Diese weibliche Identität muß wiederbelebt und mit Inhalten gefüllt werden, um dann als Basis für ein politisches Projekt zu dienen. Die Ungleichheit der Geschlechter im Sinne von Unterschiedlichkeit ist für sie ein Faktum. Aus ihr folgt notwendig eine Hierarchisierung, da, in der abendländischen, patriarchalisch geprägten Logik, die Irigaray phallogozentrisch nennt, Frauen nur als das Andere des Mannes gedacht werden können, woraus dann Diskriminierung folgt. Die Differenzposition stärkt sich durch - begründete - Kritik an der Gleichheitsperspektive, der sie eine "Revolte gegen die Weiblichkeit" 6, die Akzeptanz des Mannes als Norm und die unhinterfragte Angleichung von Frauen an diese Norm vorwerfen. Tatsächlich muß eine konsequente Gleichheitsposition die unterschiedlichen Auswirkungen von zwar geschlechtsneutral formulierten Rentenregelungen, die sich aber an männlichen Erwerbsbiographien orientieren, auf Frauen und Männer ignorieren. Um von der Norm den gleichen Nutzen zu haben, müßte sich die Frau dem Mann angleichen. Zu diesen theoretischen Mängeln kommt das zunehmende juristische Leerlaufen eines streng formalen Gleichheitsverständnisses in den 70er Jahren (s. o.). Die Differenzposition will weibliche Identität und Lebenswirklichkeit als mindestens gleichwertig anerkannt wissen, und falls sie sich konkreten rechtspolitischen Fragen überhaupt zuwendet, was anfangs nur zögerlich geschieht, fordert sie ein "geschlechtsdifferenziertes Recht" 7 ein, das der weiblichen Lebenswirklichkeit Rechnung tragen soll. Das Recht soll also zum Wohle der Frauen ausdrücklich am Geschlecht anknüpfen, ein Gebot, dem sich das BVerfG erst Mitte/Ende der 80er Jahre öffnet. Im Vordergrund steht aber meistens die Kritik von Staat und Recht als ihrem Wesen nach "männlich", so daß nur eine Änderung der Rechtsstruktur, die nur einen Maßstab kennt, gegenüber dem alles übrige als das Andere erscheint, eine Verbesserung der Frauenposition in Aussicht stellt. Es ist das "männliche Prinzip des Eins-alles-keins, das das Fundament des Rechts darstellt, das durchbrochen werden muß." 8 Operationalisierbare Vorschläge bleiben jedoch rar gesät: Von mehr als "multiplen Maßstäben" und einer "pluralen Logik" ist meist nicht die Rede.
Gleichheits- und Differenzposition nähern sich bis Mitte der 80er Jahre aneinander an, verschärfen aber auch die Kritik aneinander. Hauptkritikpunkt der klassischen Gleichheitsperspektive ist die versteckte Zementierung von Frauen-Klischees, indem sie oft von Differenztheoretikerinnen als weibliche Identität zelebriert werden. Werden "weibliche" Charaktereigenschaften, wie z. B. "Mütterlichkeit", einfach als positiv und den männlichen überlegen hervorgehoben, garantiert das noch nicht, daß sie nicht auch wieder gegen Frauen verwendet werden. Hier liegt auch ein grundsätzliches Dilemma der Differenzperspektive: Es bleibt immer gefährlich, Differenzen zu apostrophieren, um spezielle Rechte durchzusetzen, weil diese Differenzen auch als Legitimation für Benachteiligung dienen können oder schon in dem vermeintlichen Schutz Benachteiligung bzw. Zementierung von Geschlechterrollen angelegt ist (s.o.).

Die postmoderne Perspektive

Noch mehr theoretisches Ungemach droht der Differenzperspektive jedoch durch die, Mitte der 80er Jahre einsetzende, "liaison dangereuse" von Feministinnen mit postmoderner Theorie. Das Projekt weiblicher Identitätspolitik wird bis ins letzte dekonstruiert: Die Suche nach weiblicher Authentizität, nach einem weiblichen Wesen, erscheint als erkenntnistheoretisch aussichtslos und die Argumentation mit "der" Frau und ihren Bedürfnissen wiederholt in einem "cultural imperialism" 9 den totalitären patriarchalen Diskurs, indem eine heterogene Gruppe als homogen behandelt wird.
Dieser letzte Vorwurf ist das theoretische Ergebnis eines langen Aufbegehrens nicht weißer, europäischer, heterosexueller Mittelklasse-Frauen, gegen das Repräsentationsdefizit ihnen gegenüber in feministischer Theorie - und auch rechtlicher Praxis. Kritisiert wird, daß das Herausarbeiten "des" weiblichen Wesens eine Norm schafft, gegenüber der anderes - wieder einmal - defizitär erscheinen muß: Ist die weiße Mittelklassen-Frau die Norm, dann sind Lesben, schwarze Frauen, Arbeiterklasse-Frauen keine "richtigen" Frauen, ganz zu schweigen von Transsexuellen etc: "We are creating a hierarchy, where ´real' women are separated from the rest." 10 Zur Norm kann sie werden, da ihr in der Regel als dominante Fraktion die Definitionsmacht zukommt, diese dominante Fraktion kann dann ihre Bedürfnisse und Interessen als diejenigen von allen Frauen proklamieren. Demgegenüber wird nun die Unterschiedlichkeit von Frauen untereinander betont und die Problematik des "single axis framework" im Recht und des "top down approach" in Widerstandsbewegungen herausgearbeitet.11 Crenshaw zeigt z. B., daß die Rechtsstruktur - zumindest in den USA - darauf ausgelegt ist, nur ein Merkmal bei Diskriminierungen in Betracht zu ziehen: Sexuelle oder "rassische" Diskriminierung, die spezifische Diskriminierung als Schwarze Frau kann nicht gefaßt werden, was auch im deutschen Recht sehr zweifelhaft erscheint. Der gleiche Mechanismus ist bei Widerstandsgruppen anzutreffen: Frauenbewegungen kümmern sich primär um die Probleme der ansonsten nicht diskriminierten Frauen, schwarze Bürgerrechtsgruppen um die Probleme von schwarzen Hetero-Mittelklasse-Männern. Wer die höchste Wahrscheinlichkeit aufweist, diskriminiert zu werden, wird am wenigsten repräsentiert und geschützt. Wichtig ist allerdings, diesen Gedanken nicht in Diskriminierungshierarchien ("Wer vereint am meisten Merkmale?") eine eher destruktive Wirkung entfalten zu lassen. Die Besonderheit der Lebenssituation ist entscheidend und soll anerkannt werden.
Diese "postmoderne" Perspektive hebt, wie erwähnt, These und Antithese ein Stück weit auf: Sie verwirft das Differenz-Projekt einer authentischen, weiblichen Identität und verleiht damit der Kritik von seiten der Gleichheitsperspektive noch mehr theoretisches Fundament. Andererseits radikalisiert sie die Differenzperspektive, indem sie sich gegen die Homogenisierung von Frauen, aber auch anderer Gruppen wendet. Zuletzt werden auch die Begriffe "Gleichheit" und "Differenz" in Frage gestellt: "Both locate women in relation to men." Stattdessen wird z. B. "specificity" als Konzept vorgeschlagen.12 Der weitere Verlauf der Debatte in den letzten Jahren kann außer Betracht bleiben, da sie sich hauptsächlich um strategische Folgen und Fragen eines postmodernen Feminismus drehen. Abschließend sollen noch einmal der aktuelle Problemstand in Recht und Theorie gegenübergestellt werden.

Das Dilemma in Recht und Theorie

Mit dem Rückenwind der Verfassungsänderung hat sich die Judikatur des BVerfG in eine Richtung entwickelt, die es ermöglicht, dem Ideal faktischer Gleichberechtigung näher zu kommen. Übermäßiger Grund zur Euphorie besteht dennoch nicht, da selbst ein erweiterter Diskriminierungsbegriff ohnehin nur ein kleines Segment eines solch vielschichtigen Phänomens wie "Diskriminierung" erfassen kann. Desweiteren kommt der Entwicklung auch eine gewisse Dialektik zu: Das liberale, geschlechtsneutrale Recht konnte zwar nicht viel für Frauen tun, aber aktiv auch wenig gegen sie. Werden die Eingriffsmöglichkeiten des Staates ausgebaut, kann zwar mehr für Frauen getan werden, aber auch mehr gegen sie. Man darf sich keinesfalls darauf verlassen, daß der Staat nun durch Art. 3 II S. 2 GG zum uneingeschränkten Helfer der Frauen wird, auch wenn hier faktisch eine Art Gruppenrecht für Frauen geschaffen wurde. In welche Richtung der Staat Art. 3 II S. 2 GG verwirklicht, hängt entscheidend von einem materiellen Gleichberechtigungsbegriff ab. Solange dieser nicht herausgearbeitet ist, besteht beträchtlicher Interpretationsspielraum, durch den Gleichberechtigung auch durchaus für konservative Zwecke instrumentalisiert werden kann.
Zur Frage eines materiellen Gleichberechtigungsbegriffs kann die feministische Theorie erwartungsgemäß eher mehr Komplexität als eine Lösung beisteuern. Da hilft es auch nicht, daß sie den Entwicklungen der Judikatur immer ein Stück weit voraus ist. "Gleichheit, die Differenz akzeptiert", so etwa lautet die Kompromißformel, auf die sich Gleichheits- und Differenzperspektive geeinigt haben. Damit steht man aber einfach wieder am Anfang der Debatte.
Von postmoderner Seite erfolgt noch einmal eine radikale Herausforderung an das Recht und seine Struktur: Auf das GG angewandt könnten die Forderungen folgendermaßen lauten:
1. Es gibt keine Rechtfertigung, nur in bezug auf Diskriminierungen zwischen den Geschlechtern einen Verfassungsauftrag anzunehmen. Dieser müßte sich auch auf andere Arten von Diskriminierungen erstrecken, denn ansonsten wird damit eine Hierarchie der Identitätsfaktoren aufgemacht, an deren Spitze "Geschlecht" steht, gefolgt von sekundären Faktoren wie Rasse, Herkunft etc.
2. Der Katalog der in Art. 3 III GG genannten Merkmale müßte erweitert werden und in die Form des Art. 3 II S. 2 GG gebracht werden.
3. Das Recht darf nicht nur auf ein Diskriminierungsmerkmal abheben, es muß die qualitativ spezifische Situation von mehrfach diskriminierten Personen anerkennen und ihr Rechnung tragen.
Die Problematik dieser Forderungen ist jedoch offensichtlich: Um wie viele Merkmale der Katalog erweitert werden muß, ist unklar. Symptomatischerweise erscheint am Ende jeder Aufzählung ein "etc.". Welche Merkmale in den Katalog aufgenommen werden, wird damit zu einer politischen/strategischen Frage der Durchsetzung von Interessen, und hier trifft man auf die üblichen Verdächtigen: Hegemoniale Fraktionen, die sich am besten durchsetzen können. Noch schwerwiegender ist die zu Ende gedachte 3. Forderung, die Anerkennung unendlich vieler "besonderer" Lebenssituationen/Identitäten fordert. Damit ist ein Rechtssystem, das auf der Abstraktheit und Allgemeinheit seiner Normen beruht, überfordert, denn im Endeffekt müßte ja jeder Mensch "seiner Eigenart nach behandelt werden".
Leider hat auch die Postmoderne - wer hätte es gedacht - noch keine Antwort auf die schon mindestens 2000 Jahre alte philosophische Frage gefunden, wie dies zu bewerkstelligen sei. Die 1. Forderung macht jedoch Sinn und bleibt die ernstzunehmendste Instruktion der Postmoderne an das GG bezüglich Artikel 3.

Thomas Biebricher studiert Politikwissenschaft, Wirtschaftspolitik und Öffentliches Recht und lebt in Freiburg.

Anmerkungen:

1 Sartori, 1992, 327.
2 Böttger, 1990, 160.
3 Im folgenden werden Entscheidungen des BVerfG im Text zitiert.
4 Vgl. dazu: BVerfGE 57, 344.
5 Ausführlich dazu: Sacksofsky, 1996, 390f.
6 Young, 1989, 38.
7 Irigaray, 1990, 338.
8 Cavarero, 1990, 108.
9 Phelan, 1991, 129.
10 Wilkins, Read My Lips: Sexual Subversion and the End of Gender.
11 Crenshaw, 383 u. 394.
12 Phelan, 132.

Literatur:

Böttger, Barbara, Das Recht auf Gleichheit und Differenz: Elisabeth Selbert und der Kampf der Frauen um Art. 3 II GG, 1990.
Cavarero, Adriana, Die Perspektive der Geschlechterdifferenz. In: Ute Gerhard (Hrsg.): Differenz und Gleichheit, 1990.
Crenshaw, Kimberle, Demarginalizing the Intersection of Race and Sex. In: Katharine Bartlett et al (Hrsg.): Feminist Legal Theory: Readings in Law and Gender.
Irigaray, Luce, Über die Notwendigkeit geschlechtsdifferenzierter Rechte, In: Ute Gerhard (Hrsg.): Differenz und Gleichheit. Frankfurt, 1990.
Phelan, Shane, Specificity: Beyond Equality and Difference. In: Differences. 1991.
Sacksofsky, Ute, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung: eine rechtsdogmatische Untersuchung zu Art. 3 II GG, 1996.
Sartori, Giovanni, Demokratietheorie, 1992.
Wilkins, Rikki Ann, Read My Lips: Sexual Subversion and the End of Gender.