Heft 1 / 2000:
status quo vadis
Die Europäische Union zwischen Neoliberalismus und Demokratisierung
xxx

Helen Schulte Zum ersten Artikel des Schwerpunkts Zur Rubrik Ausbildung Zur Rubrik Recht kurz Zum Sammelsurium Zur Rubrik Politische Justiz Zur BAKJ-Seite
Jenseits von Staatlichkeit
Europa braucht eine Verfassung - aber nicht nach nationalstaatlichem Vorbild
 

Die Frage nach der Notwendigkeit und "Machbarkeit" einer europäischen Verfassung - seit jeher ein Thema, das die Europaforschung bewegt, schließlich geht es dabei um nicht weniger als das Ziel und die Zukunft der europäischen Integration - rangiert derzeit wieder auf den vorderen Plätzen europapolitischer Aktualität. Im Januar 1999 warb Bundesaußenminister Joschka Fischer in einer programmatischen Rede zur deutschen EU-Ratspräsidentschaft für eine europäische Verfassung mit bundesstaatlicher Ausgestaltung. Nach zwei folgenlosen Verfassungsentwürfen von 1984 und 1994 steht auch im Europäischen Parlament die Frage nach der Verfasstheit der Gemeinschaft wieder auf der Agenda. Erst im April forderten 47 Europa-Abgeordnete der CDU/CSU, eine Gruppe anerkannter VerfassungsrechtlerInnen mit der Ausarbeitung eines europäischen Verfassungstextes zu beauftragen.
Die Gründe für die Intensität, mit der die symbolträchtige Frage zur Zeit debattiert wird, lassen sich mit zwei Stichworten umreißen: der mangelnden Transparenz und dem viel beklagten Demokratiedefizit auf europäischer Ebene. Eine europäische Verfassung - so hoffen viele PolitikerInnen und EurokratInnen - werde endlich Schluß machen mit der bisherigen Methode der schrittweisen Änderung und Fortschreibung der bestehenden Verträge; eine ganzheitliche rechtliche Grundlage und die Festlegung von Entscheidungsabläufen und Kompetenzen würden endlich Licht in das undurchdringliche Dickicht europäischer Regelungen bringen

Viel Integration - wenig Demokratie

An erster Stelle des Wunschkataloges steht jedoch die Lösung des europäischen Demokratiedefizits. Den heute erreichten europäischen Integrationsstand kennzeichnet ein enormer Zuwachs an gemeinschaftlichen Kompetenzen, ohne daß das institutionelle Arrangement den Demokratiebedarf dieses Integrationsstandes zu decken vermag. Im europäischen Entscheidungsprozeß bleibt dem Parlament die Rolle des Statisten; es ist die Exekutive, das heißt die im Rat der Europäischen Union vertretenen MinisterInnen der nationalen Regierungen, die die europäischen Entscheidungen, einschließlich solcher legislativer Art, treffen. Zwar kommt das Demokratieprinzip in den Mitgliedsstaaten zur Geltung, diesen allerdings schwinden die Entscheidungsbefugnisse. Die ohnehin lange und fragile Repräsentationskette vom Bürger zur Ministerin im Rat hat schließlich nur dann Bestand, wenn dort einstimmig entschieden wird.
Aus dieser institutionellen "Schieflage" entsteht ein wachsender Bedarf nach einer eigenen, von den Regierungen der Mitgliedsstaaten unabgeleiteten demokratischen Legitimation der europäischen Politik. Eine europäische Verfassung soll eben dies leisten: die legitimitätsspendende Kraft, die Verfassungen im nationalen Rahmen entfalten, soll auch der Europäischen Union zufließen.

Vom nationalstaatlichen Modell...

Diese Erwartungen offenbaren, daß sich die Vorstellung einer europäischen Verfassung an den Aufgaben und Leistungen der Verfassung im Staat orientiert.
Der Rückgriff auf das staatliche Muster ist naheliegend, schließlich formte sich die Idee der Verfassung parallel zur Herausbildung des Nationalstaates im Europa des 17. Jahrhunderts und ist damit eng auf ihn bezogen. Unter Staat ist dabei jene gesellschaftliche Organisationsform zu verstehen, die sich nach der Überwindung einer auf religiösen Bindungen und Institutionen beruhenden gesellschaftlichen Ordnung entwickelte und - gemäß der heute in der Allgemeinen Staatslehre herrschenden sogenannten Dreielementenlehre - folgende Merkmale aufweist: Sie beruht auf einer definierten territorialen Grundlage (Staatsgebiet), sie hat eine dauerhaft auf dem Territorium siedelnde (Gebiets)-bevölkerung und sie übt eine ausschließliche und höchste Herrschaftsgewalt über ihr Gebiet und die sich auf diesem befindlichen Personen aus (Staatsgewalt).
Während des Übergangs zum modernen Staat stellte sich vor allem die Frage nach der Rechtfertigung politischer Herrschaft, da das Wachstum der absoluten Staatsgewalt auf Kosten des Individuums, seiner Freiheit und Selbstbestimmung erfolgte. Die Idee der Verfassung leistete die Lösung dieses Problems. Sie lieferte die notwendigen institutionellen Mechanismen, um die souveräne Macht des modernen Staates zu organisieren und zu begrenzen, sie legitimationsbedürftig und -fähig und die Herrschaftsunterworfenen zu aktiven BürgerInnen zu machen. Darüber hinaus stellte sie das Gewaltmonopol, das der Absolutismus angestrebt hatte, auf eine neue Grundlage: Träger der Staatsgewalt, der Souverän, war von nun an das Volk, ihre Ausübung nur in seinem Auftrag und zu den von ihm gesetzten Zwecken zulässig. Im verfassungsgebenden Akt demonstrierte das Volk seine politische Macht und seinen Willen, die rechtlichen Grundentscheidungen über die staatliche Ordnung zu treffen.
Auch heute noch hat die Verfassung die Funktion der Verrechtlichung und Begrenzung der Staatsmacht. Sie bestimmt die Leitprinzipien, nach denen sich politische Einheit bilden und staatliche Aufgaben wahrgenommen werden sollen. Dabei ist sie keine "totale" Ordnung, sondern beschränkt sich auf die Festlegung von Ziel und Rahmen der Politik, bleibt aber im übrigen für politische Ausfüllung offen.

...zum "neuen Herrschaftstypus"

Die Rückschau verdeutlicht, daß die Idee der Verfassung sich als Reaktion auf spezifische Probleme im Übergang zum modernen Staat bildete. Damit ist die ihr zugrundeliegende Basis und Voraussetzung der Staat selbst.
Die Europäische Union jedoch bildet eine ganz andere, mit dem Staat nicht vergleichbare Grundlage und Voraussetzung für eine Verfassung. Ihre konzeptionelle Erfassung bereitet der Europaforschung großes Kopfzerbrechen. Zahlreiche vage Etikettierungen wie "ein Gebilde sui generis" oder "mehr als ein Regime, weniger als ein Staat" zeugen von diesem Grundproblem.
Tatsächlich laufen im Falle der Europäischen Union sowohl die traditionellen Kategorien aus den Nationalstaaten als auch diejenigen der internationalen Politik ins Leere. Jene Einteilung, nach der Staaten ihre rechtliche Grundlage in Verfassungen finden, während internationale Organisationen auf völkerrechtlichen Verträgen beruhen, verliert angesichts der Union an Gültigkeit.
Einerseits ist die Europäische Union eine supranationale Organisation, deren Existenz auf völkerrechtlichen Verträgen beruht. Weder verfügt sie über ein eigenes Staatsgebiet, noch ist sie ein Verband von "BürgerInnen", die als Gesamtheit TrägerInnen dieser "Gemeinschaft" sind. Stattdessen beruht ihre territoriale Grundlage auf der Territorialität ihrer Mitgliedsstaaten und wird durch diese definiert; UnionsbürgerIn ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedsstaates inne hat. Schließlich sind die BürgerInnen der Mitgliedsstaaten bislang überwiegend mittelbar an der Ausübung der Herrschaftsfunktionen der Gemeinschaft beteiligt. Sie wählen ein Parlament, das nur geringen Einfluß auf die Gesetzgebung der Gemeinschaft hat, geschweige denn über ein Initiativrecht verfügt. Kurzum: Regieren auf europäischer Ebene findet ohne Regierung im herkömmlichen Sinne statt: Während in den Mitgliedsstaaten die Parlamente als Legislativorgane fungieren, sind europäische Entscheidungen durch die Exekutive bestimmt.
Andererseits - und hier liegt die Ursache für häufige Verwirrung - läßt die Europäische Union die Gestalt einer internationalen Organisation weit hinter sich. Es sind die Europäischen Gemeinschaften, der rechtsfähige Kern der Union, die von den Mitgliedsstaaten mit Hoheitsrechten ausgestattet wurden, die sie an deren Stelle mit unmittelbarer innerstaatlicher Wirkung ausüben. Verordnungen des Rates und der Kommission bedürfen somit keiner "Transformation" mehr in innerstaatliches Recht. Das ist neu, denn ursprünglich erlangten völkerrechtliche Verpflichtungen oder Entscheidungen internationaler Organisationen erst über einen staatlichen Vermittlungsakt innerstaatliche Geltung. Somit verfügt die Union - obwohl selbst nicht Staat - über Herrschaftsbefugnisse, wie sie traditionell nur Staaten besaßen.

Bedingungen europäischer Demokratie

Was der Union den Titel "Staat" versagt, ist vor allem das Fehlen traditioneller Voraussetzungen für demokratische Strukturen. Hier ist nicht allein an das schwache Europäische Parlament zu denken, denn demokratische Strukturen werden auch, aber nicht ausschließlich durch die zentralen Organe der Regierungsgewalt gesichert. Demokratien zeichnen sich dadurch aus, daß in ihnen politische Herrschaft durch einen Abstimmungs- und "Konsensfindungs"prozeß legitimiert wird. Zwar ist das entscheidende Element dieser Vermittlung zwischen dem Volk und den Organen der Staatsgewalt das Parlament, doch es allein kann die Vielfalt der gesellschaftlichen Meinungen und Interessen nicht ausreichend widerspiegeln und verarbeiten. Der parlamentarische Prozeß baut vielmehr auf einem komplexen gesellschaftlichen Prozeß der Interessenvermittlung und Konfliktsteuerung auf. Wichtigste Mediatoren in diesem Prozeß sind die Parteien und die Medien, die jene Öffentlichkeit herstellen, durch welche allgemeine Meinungsbildung und demokratische Teilhabe erst möglich werden. Diese intermediären Strukturen, zu denen auch Verbände, Gewerkschaften, und Bürgerbewegungen gehören, strukturieren den parlamentarischen Prozeß gewissermaßen vor und entlasten ihn.
Auf europäischer Ebene läßt sich diese für den parlamentarischen Prozeß notwendige Infrastruktur nicht finden. Es gibt kein europäisiertes Parteiensystem, sondern die Parteien werden über lose Fraktionsbündnisse koordiniert und treten bei Wahlen im nationalen Kontext auf. Es gibt keine europäischen Medien und keine gemeinsame europäische Öffentlichkeit. Da Politik im wesentlichen aus kommunikativen Prozessen besteht, wird die Sprachenvielfalt Europas nicht nur die Entwicklung einer gemeinsamen Öffentlichkeit, sondern auch die Herausbildung einer europäischen Identität erschweren. Den wesentlichen Bezugsrahmen der BürgerInnen bildet nicht ein gemeinsames Europa, sondern bilden nach wie vor die Nationalstaaten.

Demokratie ohne intermediäre Strukturen?

Vor diesem Hintergrund müssen jene häufigen Verfassungsforderungen, die auf eine Verstaatlichung der Europäischen Union zielen, "mit Vorsicht genossen werden". Sie würden das europäische Demokratieproblem eher verschärfen als lösen. Im Mittelpunkt dieser Entwürfe 1 steht eine volle Parlamentarisierung der Europäischen Union nach dem Muster des nationalen Verfassungsstaates. Das Europäische Parlament würde zu einem mit nationalen Parlamenten vergleichbarem Organ aufgewertet werden und mit denjenigen Kompetenzen ausgestattet werden, die Volksvertretungen üblicherweise haben, also Gesetzgebung, Haushaltsfeststellung, Regierungsbildung und -kontrolle. Die Legitimationskette von den BürgerInnen der Mitgliedsstaaten über ihre Parlamente und Regierungen zum Rat würde somit aufgelöst werden.
Mit einer solchen Verfassung begäben sich die Mitgliedsstaaten des Rechts, die Aufgaben der Europäischen Union selbst zu bestimmen. Stattdessen würde dieses Recht an die europäische Ebene abgeben. Das Ergebnis wäre zwar ein föderaler, nicht aber ein demokratischer Staat, denn die geschwächte Rückbindung an die Mitgliedsstaaten würde durch keine vermehrte Rückbindung an ein europäisches Volk und eine europäische Öffentlichkeit kompensiert werden. Im Gegenteil, die Stärkung des Parlaments würde stark zentralisierende Effekte haben; die europäischen Entscheidungsprozesse würden zunehmend unabhängig von den auf nationaler Ebene stattfindenden Meinungs- und Willensbildungsprozessen und damit unkontrollierbar werden.

Wo kein Staat, da keine Verfassung?

Diese Schreckensvision eines europäischen Zentralstaats verleitet zu der Schlußfolgerung, daß sich das Muster des demokratischen Verfassungsstaates auf europäischer Ebene erst dann verwirklichen ließe, wenn hier die nötigen intermediären Strukturen, von denen der demokratische Prozeß lebt, gegeben wären. Im Mittelpunkt dieser "euroskeptischen" Position 2 , die sich besonders in Deutschland einer großen Anhängerschaft erfreut, steht das Verständnis von der Verfassung als Produkt des gemeinsamen politisches Willens eines homogenen Volkes. Übertragen auf die Europäische Union bedeutet dies, daß sich nur auf der Basis eines europäischen Volkes, das sich als politische Einheit konstituieren will, mithin eine gemeinsame Identität und ein Bewußtsein der Zusammengehörigkeit ausgebildet hat, eine Verfassung realisieren ließe. Da diese Voraussetzung in der Union nicht gegeben ist, ist die Konsequenz klar: Der Europäischen Union fehlt das Volk, damit die wesentliche Voraussetzung eines Staates, und damit zugleich die wesentliche Voraussetzung für eine Verfassung.
Wie weitreichend und politisch bedeutsam diese Konstruktion für die Zukunftsperspektive der Europäischen Union ist, zeigt sich unter anderem am sogenannten Maastricht-Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts.3 Auch hier wird davon ausgegangen, daß die Union als Staat nur bei Bestehen eines relativ homogenen europäischen Volkes denkbar sei.

Das Nationalstaatsparadigma überwinden

Wo jedoch liegen die Alternativen für die Europäische Union, wenn, um mit der "euroskeptischen" Position zu reden, die Voraussetzungen für einen Bundesstaat Europa nicht gegeben sind? Eines ist klar: Beim Status quo kann es nicht bleiben. Das Demokratiedefizit wächst von Tag zu Tag; mit zunehmenden Kompetenzen und zunehmender Regelungsdichte der Europäischen Union werden auch die Folgeprobleme größer und beeinflussen die politische Struktur der Mitgliedsländer immer stärker. Das Ungleichgewicht zwischen den Mitgliedstaaten, in denen das Demokratieprinzip zur Geltung kommt, denen jedoch die Entscheidungsbefugnisse schwinden und der Europäischen Union, wo das Demokratieprinzip nur schwach ausgebildet ist, die Entscheidungsbefugnisse jedoch wachsen, wird immer größer. Gleichzeitig erweist sich der klassische Nationalstaat im Zuge der Globalisierung gegenüber den über ihn hinausreichenden Problemlagen als zunehmend handlungsunfähig. Um so wichtiger werden politische Funktionseinheiten jenseits des Nationalstaates wie die Europäische Union, die aufgrund ihrer geographisch und wirtschaftlich erweiterten Basis den neuen Anforderungen - beispielsweise dem globalen Wettbewerb - gewachsen sind und auf diese reagieren können.
Die sinkende Problemlösungsfähigkeit des klassischen Nationalstaates deutet gleichzeitig darauf hin, daß er als zentraler Bezugsrahmen für zahlreiche Probleme der Gegenwart ausgedient hat. Eine Verfassung für Europa nach staatlichem Muster orientiert sich jedoch genau an demselben reduktiven Denkmuster: Indem zwar nicht mehr der einzelne Staat, dafür aber die Europäische Union als geschlossene Funktionseinheit eingesetzt wird, wird das Nationalstaatsparadigma nicht aufgegeben, sondern nur auf einer anderen, höheren Ebene angewandt.
Auch die VertreterInnen der "euroskeptischen" Position bleiben, obwohl sie die Verknüpfung der Verfassungsforderung mit einer bundesstaatlichen Ausgestaltung der Europäischen Union kritisieren, einer rein nationalstaatlichen Perspektive auf die Verfassungsfrage verhaftet. Denn ihre Schlußfolgerung, daß eine Verfassung im Vollsinn des Begriffes erst dann bestehen kann, wenn sich ein europäisches Volk mit einem gemeinsamen politischen Willen gebildet hat, geht von staatlichen Bedingungen auf europäischer Ebene aus. Es kann jedoch nicht reichen, durch die Brille des nationalen Verfassungsrechts zu schauen und folgerichtig in den organisatorischen und verfassungsrechtlichen Konstruktionen der Europäischen Union institutionelle Schwachstellen und Defizite auszumachen und anschließend festzustellen, daß, solange die nötigen intermediären Strukturen, von denen der demokratische Prozeß lebt, auf europäischer Ebene nicht gegeben sind, eine Ausgestaltung der Europäischen Union nach dem Vorbild des demokratischen Verfassungsstaates nicht möglich ist.

Verfassungskonzeptionen jenseits des staatlichen Vorbildes

Hier ist ein Umdenken gefordert: Es kommt es darauf an, vom staatlichen Vorbild zu abstrahieren, um die Eigenart der Europäischen Union zu erkennen und Maßstäbe einer Bewertung aus dem Gebilde selbst heraus zu entwickeln. Ein Verfassungsentwurf muß dafür Sorge tragen, daß Werte, Institutionen und Verfahren - wenn sie auf die europäische Ebene übertragen werden - aus ihrem ausschließlich staatlichen Kontext gelöst werden, um ihnen eine Bedeutung zu geben, die dieser neuen politischen Gemeinschaft gerecht wird.
Worin aber beruhen diese Besonderheiten der Gemeinschaftsbildung Europas und was bedeuten sie für die europäische Verfassungsdiskussion? Im Gegensatz zum Staat, den Attribute wie Einheitlichkeit und Geschlossenheit charakterisieren, kennzeichnen die Europäische Union Vielfalt und Ausdifferenzierung in ihrer Ausgestaltung als Mehrebenensystem. In diesem vielschichtigen politischen System findet sich ein Nebeneinander von verschiedenen Strukturprinzipien, zum Beispiel intergouvernementalen und supranationalen Elementen. Dieses Nebeneinander spiegelt sich nicht nur in der institutionellen Gestalt der Gemeinschaft wider, sondern zeigt sich auch in der Verbindung von zwischenstaatlicher Zusammenarbeit und vergemeinschafteten Politikbereichen. Ein politisches Machtzentrum gibt es in diesem komplizierten System nicht; vielmehr erfolgt der Prozeß der Formulierung von Politik auf mehreren unterschiedlichen Ebenen und in einem Gewebe pluralistischer AkteurInnen (die Organe der Gemeinschaft, die Mitgliedsstaaten, deren Organe, und natürlich auch die vielfältigen Interessengruppen).
Eine europäische Verfassung muß auf diese Tatbestände - die zahlreichen AkteurInnen, Handlungszentren und deren Verflechtung - sowie auf die Offenheit des Integrationsprozesses reagieren. Dazu gehört einerseits ihre Funktion als Vertragsverfassung.4 Sie muß auf einer Willenseinigung aller Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, unmittelbar legitimiert durch den politischen Willen der Völker der Union bzw. der UnionsbürgerInnen, basieren. Eine europäische Verfassung als konstitutioneller Schöpfungsakt im hergebrachten Sinne hingegen ist Fiktion; es fehlt an der ihr notwendigen Voraussetzung eines "europäischen Volkes", das sich auch als ein solches begreift, indem es seine eigenen Wurzeln in erster Linie einer Europäischen Union und nicht mehr dem Nationalstaat zuordnet. Desweiteren muß eine europäische Verfassung den kontinuierlichen Prozeß der Veränderung und Weiterentwicklung der Gemeinschaft, die auf Selbsttransformation angelegt ist, ermöglichen, gestalten und steuern. In dieser "Wandel"funktion unterscheidet sie sich maßgeblich von einer Staatsverfassung, weil sie sich unmittelbar auf den Wachstumsprozeß der Europäischen Union bezieht. Schließlich muß eine europäische Verfassung von ihrer Anlage und Struktur her auf Komplementarität zu den Verfassungen der Mitgliedsstaaten angelegt sein, d. h. als Zuordnungs- und Regelungsebene ergänzend zu den Verfassungen der Mitgliedsstaaten hinzutreten. Erst im Prozeß der Integration kann durch das Zusammenwirken von Gemeinschafts- und Mitgliedstaatsverfassung ein bestimmtes Maß an Homogenität der Rechtsordnungen und -kulturen hergestellt werden.
All dies sind bislang nur bruchstückhafte Überlegungen. Wie genau eine europäische Verfassung und ihre angemessene institutionelle Ausgestaltung, die das staatliche Modell hinter sich läßt, aussehen könnte, darüber fehlt es an klaren Vorstellungen. Es fehlen überhaupt noch weitgehend die theoretischen Kategorien, in denen das Bedürfnis nach institutionellen Gestaltungen formuliert werden könnte. Vor dem Hintergrund der oben genannten Eigenarten der Europäischen Union ist sicher, daß das Ziel Europas statt eines europäisches Bundesstaates nur das eines föderal verfaßten politischen Systems im Sinne eines zentrifugalen, das heißt auf Eigenständigkeit und Vielfalt der Lebensbedingungen abzielenden Föderalismus sein sollte. Dieses spezifische Gemeinschaftssystem würde als politisch-ökonomische Ordnung eigener Art sowohl auf der Gemeinschaft als auch auf den Mitgliedstaaten nebst ihren Untergliederungen in verbundener Verflechtung beruhen. Das Ergebnis wäre ein konstitutionelles Nebeneinander deutlich begrenzter europäischer Zuständigkeiten und bestimmter "unveräußerlicher" Aufgabenbereiche der Gliedstaaten - und damit die Sicherung bereichsspezifischer demokratischer Verantwortlichkeit auf beiden Ebenen. Innerhalb dieses eingeschränkten, vergemeinschafteten Zuständigkeitsbereiches könnten das Europäische Parlament als Repräsentanz der Gemeinschaftsvölker und der Rat als Vertretung der Mitgliedsstaaten gleichberechtigt im Verfahren der Rechtsetzung zusammenwirken.
Im Ergebnis bleibt festzustellen, daß die Chancen für Europas Verfassungsentwicklung nicht im Staat, sondern in der Europäischen Union selbst liegen. Diese zu erkennen, ist die Wissenschaft in Zukunft stark gefordert.

Helen Schulte studiert Politikwissenschaften und Jura in Berlin.

Anmerkungen:

1 Vgl. u.a. Weidenfeld 1991, 27 ff.
2 Vgl. Grimm 1994, 31, Bogdandy 1993, 210 ff.
3 Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bd. 89, 155.
4 Vgl. Preuß / Zürn 1995, 58 ff., Läufer 1995, 363 ff.

Literatur:

Bogdandy, Armin von, Supranationale Union als neuer Herrschaftstypus: Entstaatlichung und Vergemeinschaftung in staatstheoretischer Perspektive, in: Integration, 1993, 210 ff.
Grimm, Dieter, Braucht Europa eine Verfassung? in: Juristenzeitung (JZ), 1995, 581 ff.
Läufer, Thomas, Zum Stand der Verfassungsdiskussion in der Europäischen Union, in: Randelzhofer, A. / Scholz, R. / Wilke, D. (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Eberhard Grabitz, 1995, 355 ff.
Preuß, Ulrich K., Prospects of a Constitution for Europe, in: Constellation 1996, 209 ff.
Preuß, Ulrich K. / Zürn, Michael (Hrsg.), Probleme einer Verfassung für Europa, 1995.
Schwarze, Jürgen, Das schwierige Geschäft mit Europa und seinem Recht, in: JZ 1998, 1077 ff.
Weidenfeld, Werner (Hrsg.), Wie Europa verfaßt sein soll - Materialien zur politischen Union, 1991.