Heft 3 / 2000:
Billig und Gerecht?
Verfahren zwischen Rechtsstaatlichkeit und Effizienz
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Jan Gehrken Zum ersten Artikel des Schwerpunkts Zum ersten Artikel des Forums Zur Rubrik Recht kurz Zum Sammelsurium Zur Rubrik Politische Justiz Zur BAKJ-Seite
Strafen für den Frieden
Das UN-Tribunal für Ex-Jugoslawien
 

In Den Haag tagt seit Sommer 1994 das erste internationale Kriegsverbrechertribunal seit den Nürnberger Prozessen. Das "International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia" (ICTY) wurde von den UN als Instrument der Friedenssicherung geschaffen.
Ob das Tribunal diesem Anspruch gerecht werden kann bzw. welche Probleme es dabei gibt, soll näher untersucht werden. Dazu wird zunächst der Frage nachgegangen, was es bedeutet, daß hier ein Strafgericht als Friedensinstrument eingesetzt wird. Dies soll mit Hilfe der aus dem nationalen Strafrecht bekannten Strafzwecke geschehen. Im Anschluß daran soll noch auf den besonderen Aspekt des ZeugInnenschutzes vor dem ICTY eingegangen werden. Zum Schluß soll die Tauglichkeit des Instruments "Strafgericht" mit Hilfe der zuvor angestellten Erwägungen bewertet werden.

Hintergrund

Die Einrichtung des Tribunals ist vor dem Hintergrund der Bürgerkriege auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien, insbesondere des von Grausamkeiten und der entsprechenden medialen Berichterstattung geprägten Krieges in Bosnien-Herzegowina zu sehen. Diese Situation - schwerste Menschenrechtsverletzungen und Gefangenenlager auf dem europäischen Kontinent - kann auch erklären, warum die Völkergemeinschaft, vertreten durch die UN, zu dem bahnbrechend neuen Mittel der "juristischen Intervention" griff: es wurde ohne die Zustimmung aller betroffenen Staaten ein tiefgreifender Eingriff in deren Souveränität vorgenommen, indem einem internationalen Gericht die Strafkompetenz für deren BürgerInnen zugesprochen wurde. Dies ist auch weiterhin einzigartig, denn im Fall des zweiten momentan existierenden internationalen Tribunals hat die Regierung von Ruanda den Präsidenten des UN-Sicherheitsrates um die Einrichtung eines Tribunals zur Unterstützung der eigenen Bemühungen zur Wiederherstellung geordneter Verhältnisse gebeten.
Vor dem ICTY können Angeklagte aufgrund von vier Tatbeständen - Kriegsverbrechen nach den Genfer Konventionen von 1949 oder nach den Gesetzen oder Gebräuchen des Krieges, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit - zu Strafen bis zum lebenslangen Freiheitsentzug verurteilt werden. Zuständig ist das Tribunal für Taten, die seit 1991 auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien begangen wurden.

Strafgericht - Warum ?

Die Frage, ob ein solches Straftribunal ein sinnvolles Instrument der Reaktion auf bewaffnete innerstaatliche Konflikte ist, gewinnt besonderes Gewicht vor dem Hintergrund, daß inzwischen auch die Einrichtung ähnlicher Tribunale für Ost-Timor und Kambodscha gefordert wird.1
Im Gegensatz zu nationalen Strafgerichten, die in den meisten Fällen schon vor dem jeweiligen Staat in seiner heutigen Form existierten, ist das ICTY eine neue Einrichtung. Obwohl das Völkerstrafrecht und seine Durchsetzung durch internationale Gerichtshöfe schon lange in der rechtswissenschaftlichen Diskussion sind, ist das Tribunal weniger das Produkt juristischer Erwägungen als das Ergebnis eines internationalen politischen Prozesses, der durch die Verstörung über die grausamen Kriegsverbrechen im jugoslawischen Bürgerkrieg angeschoben wurde. Diese ungewöhnliche Genese hat dem Tribunal auch eine für ein Strafgericht zunächst einmal ungewöhnliche Aufgabe übertragen: es wurde vom UN-Sicherheitsrat als Instrument zur Friedensschaffung und Friedenssicherung auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien geschaffen.2
Die friedenssichernde Funktion eines Straftribunals schien den Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates unmittelbar einzuleuchten; eine sorgfältige Betrachtung ergibt jedoch, daß zwischen die Bestrafung von Kriegsverbrechen und die Friedenssicherung gedanklich noch ein vermittelndes Element treten muß, auf dem die gewünschte friedenssichernde Wirkung beruht. Letztendlich ist ein solches Element auch Grundbedingung der - auch beim Verdacht schlimmster Kriegsverbrechen notwendigen - Legitimation dafür, durch Bestrafung in die Freiheit anderer Menschen einzugreifen. Dieses Element könnte entweder in den herkömmlichen Strafzwecken oder in besonderen friedensfördernden Wirkungen liegen.
Die Kammern des Tribunals gehen bei ihren Entscheidungen davon aus, daß die friedenssichernde Funktion der Bestrafungen über Vergeltung und vor allem über Abschreckung vermittelt wird.3 Die RichterInnen verweisen damit auf Konzepte, die aus dem nationalen Strafrecht als Strafzwecke bekannt sind. Daß nach der Schaffung eines neuen und auch neuartigen Gerichtes wieder auf die herkömmlichen Strafzwecke - nicht gerade die fortschrittlichsten - zurückgegriffen wird, macht eine Auseinandersetzung damit nötig, inwieweit das Tribunal mit seiner Arbeit den genannten und auch den übrigen diskutierten Strafzwecken gerecht wird und welche Unterschiede zum nationalen Strafrecht sich dabei ergeben.
Als herkömmliche Strafzwecke kommen Abschreckung, positive Generalprävention, Spezialprävention in Form des Wegsperrens oder der Resozialisierung sowie Vergeltung in Frage.

Abschreckend

Wie bereits erwähnt, beziehen sich die RichterInnen des Tribunals auf die Abschreckung, auch negative Generalprävention genannt, als einen Hauptzweck der Bestrafung. Das Konzept der Abschreckung funktioniert im "normalen" nationalen Strafrecht nicht. Dies beruht darauf, daß die Möglichkeit, zur Rechenschaft gezogen zu werden, z.B. gerade bei Gewaltverbrechen nicht in eine Abwägung des Täters / der Täterin einbezogen wird, da schlicht und einfach keine rationale Abwägung hinsichtlich des Begehens der Tat vorgenommen wird, sondern solche Taten meistens auf der Situation beruhen, in der sie entstehen.
Für eine Übertragung dieser nationalen Erfahrung auf die Wirkung des ICTY können Gruppen von AdressatInnen der Abschreckung unterschieden werden: diejenigen, die tatsächlich andere Menschen mißhandeln und töten und diejenigen, die als BefehlshaberInnen, politische oder ideologische FührerInnen hinter diesen Verbrechen stehen. Für die Ausführenden gilt dabei die aus dem nationalen Strafrecht gewonnene Erkenntnis in noch weitaus stärkerem Maße. Innerhalb eines Bürgerkrieges, in dem ehemalige Nachbarn sich aus ethnischem Haß gegenseitig bekämpfen und aus einem geregelten Staatswesen innerhalb kurzer Zeit ein Kriegsschauplatz wird und somit alle Grenzen der menschlichen Gesellschaft zerbrochen sind, wird sich die Befürchtung, vielleicht einmal zur Rechenschaft gezogen zu werden, gegenüber allen anderen Motivationen nicht durchsetzen können.
Ebenso illusorisch ist es, zu glauben, daß die Hinterleute sich durch eine internationale Gerichtsbarkeit abschrecken lassen. Bei diesen Menschen kann man zwar davon ausgehen, daß sie planvoller handeln und das Für und Wider der Begehung oder Anordnung von Kriegsverbrechen abwägen, allerdings beruht die Errichtung solcher Terrorregime und Diktaturen gerade auf der Vorstellung, die Macht nicht verlieren zu können und somit niemals zur Verantwortung gezogen zu werden. Es ist zwar gerade das Ziel des Völkerstrafrechts, durch hartnäckige Verfolgung diese Selbstsicherheit zu beseitigen, diese Wirkung wird jedoch wegen der mangelnden Effizienz bis auf absehbare Zeit noch ausbleiben.
Diese Überlegungen haben sich für die Bürgerkriegsparteien im ehemaligen Jugoslawien bestätigt: der Krieg nahm auch nach dem Beschluß, das ICTY zu errichten, noch an Grausamkeit zu und die Angriffe auf die ebenfalls eingerichteten UN-Schutzzonen, die mit Sicherheit aus höheren Hierarchieebenen befohlen wurden, fallen in die Zeit nach dieser Entscheidung.
Es läßt sich nicht tatsächlich beurteilen, wie sich die heutige Arbeit des Tribunals mit geheimen Anklagen und häufigeren Zugriffen durch die SFOR-Truppen auf den Bürgerkrieg ausgewirkt hätte. Der Ausbruch des Kosovo-Konfliktes, ca. drei Jahre nachdem das Tribunal seine Arbeit aufgenommen hatte, deutet jedoch darauf hin, daß das ICTY auch zu diesem Zeitpunkt noch keine große abschreckende Wirkung hatte.
Dasselbe wird wohl auch für eine weitere AdressatInnengruppe, die Parteien künftiger Bürgerkriege, angenommen werden müssen. Diese Annahme wird noch dadurch bestärkt, daß es dem Tribunal in den Anfangsjahren nicht gelang, TäterInnen aus höheren Hierarchieebenen zu belangen. Auch wenn das ICTY sich langsam zu den mutmaßlichen Tätern auf der mittleren und höheren Hierarchieebene vorarbeitet, z.B. mit dem Verfahren gegen Momcilo Krajisnik, die sogenannte rechte Hand von Radovan Karadzic, wird die Zukunft zeigen müssen, ob es sich dabei nur um Startschwierigkeiten handelte. Es muß allerdings berücksichtigt werden, daß das "bloße" Anzetteln eines Krieges nicht von der Strafkompetenz des Tribunals erfaßt ist,4 weswegen Anklagen gegen mutmaßlich Hauptverantwortliche, z.B. Karadzic und Milosevic, schwer aufzubauen sind.

Positiv generalpräventiv

Eine andere Erklärungsmöglichkeit für die Anwendung von Strafe ist die positive Generalprävention. Sie beruht darauf, daß nach einer Normverletzung das Vertrauen aller Gesellschaftsmitglieder in die Geltung und Durchsetzung der verletzten Verhaltensnorm durch die Verhängung einer Strafe wieder hergestellt und gestärkt wird.
Übersetzt auf die beabsichtigte Wirkung des Tribunals bedeutet dies, daß die Völkergemeinschaft durch dessen Einrichtung und die erfolgende Bestrafung von TäterInnen den Opfern gegenüber Solidarität und Unterstützung signalisiert und zukünftigen Bürgerkriegsparteien verdeutlicht, daß sich inzwischen so etwas wie eine internationale Rechtsordnung gebildet hat, die derart schwere Menschenrechtsverletzungen nicht mehr duldet und auch über die Souveränität von Staaten hinweg verfolgt. Auch auf diesen Ansatz wird in Entscheidungen des ICTY eingegangen.5
Dies sind sicherlich wichtige Signale, die sich positiv von dem Umgang unterscheiden, den westliche Industrienationen teilweise mit Unrechtssystemen pflegen und gepflegt haben, ohne entschieden auf die Einhaltung der Menschenrechte hinzuwirken. Für das ehemalige Jugoslawien wird wiederum die Zukunft zeigen müssen, ob diese Signale positive Wirkungen nach sich ziehen. Was zukünftige Konflikte angeht, ist jedoch leider zu befürchten, daß auch trügerische Signale gesendet werden. Denn trotz aller Bemühungen ist die Schärfe, mit der die Völkergemeinschaft, bzw. die sie dominierenden Nationen, auf bewaffnete innerstaatliche Konflikte mit schwersten Menschheitsverbrechen reagiert, sehr ungleich und selektiv verteilt.

Spezialpräventiv

Die Spezialprävention durch Einsperren funktioniert bei denjenigen, die vor dem Tribunal angeklagt und verurteilt werden ohne Zweifel. Es ist aber sehr fraglich, ob Spezialprävention in dieser Form - vollkommen isoliert betrachtet - notwendig ist, um Menschen, die im Bürgerkrieg kriegsverbrecherische Handlungen begangen haben, nach dem Ende des Krieges davon abzuhalten.
Resozialisierung als Zweck der Bestrafung durch das Tribunal anzusehen, scheidet angesichts der Tatsache, daß Verurteilte für z.T. mehrere Jahrzehnte in Gefängnissen fremder Länder verschwinden, als Funktion für das ICTY aus. Im Gegensatz zum deutschen nationalen Strafrecht gehört Resozialisierung aber auch verständlicherweise nicht zu den Zwecken, die mit dem Tribunal verfolgt werden. Das menschliche Vermögen, die Wiedereingliederung eines Täters / einer Täterin in eine funktionierende Gesellschaft als wichtiges Ziel anzusehen, ist bei Betrachtung der in Ex-Jugoslawien begangenen Kriegsverbrechen wohl erschöpft.
Von den auf das Individuum abzielenden Strafzwecken bleibt somit nur die vom Tribunal auch häufig angeführte Vergeltung übrig.

Vergeltung

Im nationalen Strafrecht hat der Strafzweck der Vergeltung einen sehr negativen Beiklang. Für die Taten, die vor dem ICTY verhandelt werden, bei denen es sich um die schwersten vorstellbaren Verbrechen handelt, ist eine andere Herangehensweise notwendig. Aus Sicht der Opfer und des- oder derjenigen, der / die Berichte über die Ereignisse im jugoslawischen Bürgerkrieg sieht oder liest, ist ein starkes Bedürfnis vorhanden, die begangenen Verbrechen nicht ungesühnt zu lassen. Jede Verurteilung eines Verantwortlichen zu einer Strafe bietet für die überlebenden Opfer sicherlich gerechtfertigte Genugtuung.
Dennoch sind mit der Verfolgung dieses Strafzwecks auch schwerwiegende Bedenken verbunden: Grundsätzlich und auch in diesem Fall ist im Rahmen der Vergeltung immer darüber nachzudenken, ob und vor allem inwieweit sich die objektive Instanz eines von den neutralen UN eingesetzten Strafgerichts diese subjektive Motivation zu eigen machen soll und darf. Auch ist das Problem anzuführen, daß die Vergeltung nur punktuell an denjenigen, die von der Anklagebehörde ausgewählt werden, geübt wird.

Verfahrensaspekte

Neben der theoretischen Dimension der Strafzwecke hat die Frage nach der Erfüllung der zugedachten Funktion durch das ICTY natürlich auch die Dimension, inwieweit die praktische Arbeit des Gerichts dieser Funktion gerecht wird.
Von einem neutralen, rationalen und somit wieder theoretischen Standpunkt aus bietet sich eine Beurteilung anhand des verwendeten Verfahrens an. Dabei muß eine Einhaltung des Verfahrens nicht im Sinne einer notwendigen und ausreichenden Bedingung unbedingt zu Gerechtigkeit führen.6 In unserer Rechtskultur der detaillierten Prozeßordnungen verbindet mensch aber mit der Anwendung von ungeeigneten Verfahren bzw. mit deren Mißachtung eine hohe Wahrscheinlichkeit, daß der angestrebte Zweck verfehlt wird.

ZeugInnenschutz

Ein Gesichtspunkt, der deswegen genauer betrachtet werden muß, ist der Umgang des ICTY mit dem ZeugInnenschutz. Dazu ist vorweg zu sagen, daß im Völkerstrafrecht die sehr positive Entwicklung zu verzeichnen ist, daß insgesamt den Opfern der Kriegsverbrechen mehr Aufmerksamkeit zuteil wird. Dies drückt sich z.B. in der im ICTY-Statut vorgesehenen Möglichkeit der Rückgabe von Vermögensgegenständen an die rechtmäßigen EigentümerInnen aus.7 Einen weiteren Ausdruck findet diese Entwicklung in dem Schutz von ZeugInnen im Gerichtsverfahren z.B. durch die Einrichtung einer Betreuungsstelle für die ZeugInnen beim ICTY und auch durch den Ausschluß der Öffentlichkeit.
Dabei findet der vollständige Ausschluß der Öffentlichkeit nicht etwa nur in seltenen Ausnahmefällen, sondern relativ häufig Anwendung.8 Dies geschieht oft mit dem Hintergrund, daß die Anklage dem Zeugen / der Zeugin in Vorgesprächen im ehemaligen Jugoslawien den Ausschluß der Öffentlichkeit zugesagt hat.
In der Beurteilung dieses Vorgehens ist eindeutig zu differenzieren. Gerade nach dem Konflikt im ehemaligen Jugoslawien mit dem Auftreten von systematischen Vergewaltigungen ist der Schutz der regelmäßig traumatisierten und verängstigten Opfer 9 vor Gericht zwingend notwendig. Diese Zeuginnen brauchen einen Schutz vor der Öffentlichkeit, um sie nicht zu zwingen, ihre Leiden einer breiten Masse zugänglich zu machen, besonders weil diese Frauen oft verschweigen müssen, daß sie vergewaltigt wurden, um von ihren Familien nicht verstoßen zu werden.
Vor dem ICTY gibt es aber ZeugInnenschutz durch Ausschluß der Öffentlichkeit nicht nur in dieser Variante, sondern auch in der Form, daß so die Identität eines Zeugen / einer Zeugin geheimgehalten wird, um ihn / sie vor Racheakten im Heimatland zu schützen.

Fehlkommunikation

Die Legitimation, die ein Gericht durch die Öffentlichkeitsbeteiligung erfährt, wird dadurch empfindlich berührt. Mensch muß sich bewußt machen, daß das Erbringen von wesentlichen Beweisen durch ZeugInnenaussagen unter Ausschluß der Öffentlichkeit kommunikative Wirkungen hat, insbesondere weil der Zeugenbeweis regelmäßig Hauptbeweismittel 10 in den Verfahren des ICTY ist.
Es wird die Information transportiert, daß das Tribunal sich die vorhandenen Beweismittel auch unter schwierigsten Bedingungen beschafft. Dies könnte unter den Gesichtspunkten der positiven Generalprävention und vielleicht auch der Abschreckung Eindruck machen. Auch können so mehr Verfahren durchgeführt werden, was dem Strafzweck der Vergeltung zu umfassenderer Geltung verhilft. Durch die höhere Wirksamkeit im Hinblick auf die verschiedenen Strafzwecke kann die Legitimation des Tribunals gestärkt werden. Andererseits kann der Ausschluß der Öffentlichkeit dazu führen, daß die für das Verfahren wesentlichen Beweise unter Ausschluß der Öffentlichkeit erbracht werden und somit keine kommunikative Wirkung nach außen entfalten können. Eine Akzeptanz des Tribunals bei allen Bürgerkriegsparteien müßte jedoch vor allem auf öffentlicher Aufarbeitung der Geschehnisse beruhen.
Es wird noch eine weitere Information transportiert, welche die Legitimation des Gerichts entscheidend schwächen kann: das Tribunal kann nicht auf eine funktionierende Exekutive zurückgreifen. Es hat keine Macht dort, wo das Verbrechen geschah, wo TäterInnen, Opfer und ZeugInnen leben und lebten. Die Opfer leben in Staaten, in denen immer noch Leute aus der alten Garde mächtig genug sind, um eine Verfolgung der Verantwortlichen zu verhindern. Diese fehlende Gerichtsgewalt muß für alle sichtbar durch ausgiebigen ZeugInnenschutz durch Ausschluß der Öffentlichkeit kompensiert werden, damit diejenigen, die vor dem ICTY ihre Aussage machen, im Heimatland nicht gefährdet sind. Die Sicherheit vermittelnde Wirkung, auf die z.B. die positive Generalprävention baut, kann so durch ein Verfahrenselement wieder zunichte gemacht werden.

Richtiges Instrument ?

Wie ist nun im Anschluß an die angestellten Erwägungen zu den Strafzwecken die Funktionsfähigkeit des ICTY als Instrument der Friedenssicherung, die sich auch als eine Art "Sonderstrafzweck" in den Urteilen findet, 11 zu beurteilen?
Die Analyse der Strafzwecke hat gezeigt, daß die Konzepte, die sich vor allem an die Gesamtgesellschaft wenden, eher keine Wirkung versprechen. Eine abschreckende Wirkung ist, obwohl ständig auf sie bezug genommen wird, sehr unwahrscheinlich. Eine positiv generalpräventive Wirkung könnte letztendlich daran scheitern, daß es dem Tribunal an Durchsetzungskraft im Gebiet seiner örtlichen Zuständigkeit mangelt.
Unter den Konzepten, die sich eher an das bestrafte Individuum wenden, ragt deutlich die Vergeltung hervor. Diese ist sicherlich ein Element, das dadurch, daß einige Opfer in gewissem Maße Genugtuung erfahren, einige Spannungen im ehemaligen Jugoslawien lösen und so zu einer friedlicheren Atmosphäre beitragen kann.
Insgesamt muß jedoch gesagt werden, daß eine wirklich klare und überzeugende sowie funktionierende Verbindung zwischen der Bestrafung durch das ICTY und der Friedenssicherung von keinem der Strafzwecke hergestellt werden kann.
Ein ganz wichtiges Element, das für einen dauerhaften Frieden auf dem Balkan von großer Bedeutung ist, findet allerdings am ICTY statt: die öffentliche Aufarbeitung der grausamen Kriegsverbrechen, welche die verschiedenen Volksgruppen während des Bürgerkrieges aneinander begangen haben. Jedoch hat das ICTY auch in diesem Punkt einige empfindliche Schwächen, wie die punktuelle Betrachtung des Verfahrens gezeigt hat.
Ob das Tribunal trotzdem im Vergleich z.B. zum Konzept der Wahrheitskommission, das in Südafrika und Guatemala angewendet wurde, die bestmögliche Alternative zur Aufarbeitung der Ereignisse ist, wird erst die zukünftige Entwicklung in den verschiedenen Ländern zeigen. Es erscheint zwar dem inneren Frieden eines Landes dienlicher, wenn ohne den Druck der Bestrafung und des notwendigen Nachweises individueller, teilweise auch punktueller Verantwortlichkeit aufgearbeitet wird. So könnte sich auch ein breiter gefächertes Gesamtbild statt vieler Einzelverantwortlichkeiten erarbeiten lassen. Auch wäre es mit Sicherheit wirkungsvoller, die Aufarbeitung von den beteiligten Volksgruppen gemeinsam dort durchzuführen, wo die Kriegsverbrechen verübt wurden. Allerdings ist die wichtigste Voraussetzung für die Arbeit von Wahrheitskommissionen ein in der Gesellschaft verankerter übergreifender Wille zur Vergangenheitsaufarbeitung. Darum sind diese Vorstellungen im ehemaligen Jugoslawien bis auf weiteres wohl nicht durchführbar, solange sich die Volksgruppen nicht etwas näher gekommen sind.

Fazit

Dies ist auch der Grund dafür, daß ein Strafgericht wie das ICTY immer nur eine flankierende Maßnahme der Staatengemeinschaft darstellen kann. Sie kann sich nicht auf eine befriedende Wirkung einer solchen Einrichtung verlassen, wenn sie sich einmal dazu entschieden hat, über die Souveränität eines Staates hinweg zu intervenieren. Ein nachhaltiger Frieden beruht auf anderen Maßnahmen und Entwicklungen. Dazu gehört schnelle und wirksame Hilfe zum Aufbau eines funktionierenden Staatswesens, wenn es nicht nur um Gewissensberuhigung gehen soll. Dies sollte besonders für den noch aktuellen Fall des Kosovo dringend bedacht werden.
Die Völkerstrafgerichtsbarkeit ist immer nur eine nachträgliche Option, wenn die Katastrophe schon geschehen ist. Dies gilt um so mehr, je weniger gefestigt ihre Strukturen sind. Zur Festigung dieser Strukturen hat das ICTY allerdings einen wichtigen Beitrag geleistet.

Jan Gehrken lebt und studiert Jura in Hamburg

Anmerkungen:

1 Süddeutsche Zeitung (SZ) v. 30. 3. 2000, S. 13 und v. 13. 4. 2000, S. 10.
2 Resolution 827 (1993) des UN-Sicherheitsrates, UN-Doc. S/Res/827 (1993).
3 Tadic Sentencing Judgement, 11.11.1999, para. 7-9 (http://www.un.org/icty/tadic/trialc2/jugement-e/tad-tsj991111e.htm).
4 Uertz-Retzlaff 1999, S. 91.
5 Jelisic Judgement, 14.12.1999, para. 117 (http://www.un.org/icty/brcko/trialc1/judgement/jel-tj991214e.htm).
6 S. dazu Artikel v. Raphaela Henze in diesem Heft, S. 82.
7 Art. 24 ICTY-Statut.
8 Chefanklägerin Arbour im Interview, DRiZ 1998, S. 498.
9 Uertz-Retzlaff 1999, S. 97.
10 Uertz-Retzlaff 1999, S. 97.
11 Tadic Sentencing Judgement, 11.11.1999, para. 7 (http://www.un.org/icty/tadic/trialc2/jugement-e/tad-tsj991111e.htm).

Literatur:

Statut des ICTY, abgedruckt (deutsch) in: Bundestags-Drucksache 13/57, 23 ff., Original unter http://www.un.org/icty/basic/statut/statute.htm.
Uertz-Retzlaff, Hildegard, Über die praktische Arbeit des Jugoslawien-Strafgerichtshofes, in: Fischer, Horst und Lüder, Sascha R. (Hrsg.), Völkerrechtliche Verbrechen vor dem Jugoslawien-Tribunal, nationalen Gerichten und dem Internationalen Strafgerichtshof, Berlin 1999, 87 ff.
"Die Verantwortlichen der Gerechtigkeit zuführen". Die Arbeit der UN-Tribunale für Jugoslawien und Ruanda - Ein Gespräch mit Chefanklägerin Louise Arbour, in: Deutsche Richterzeitung (DRiZ) 1998, 495 ff.