Heft 3 / 2000:
Billig und Gerecht?
Verfahren zwischen Rechtsstaatlichkeit und Effizienz
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Weniger und schlechter
Zur geplanten Reform der Rechtmittel im Strafrecht
 

Seit Beginn der Legislaturperiode geistern die verschiedensten grundlegenden Erneuerungspläne der Justizministerin Hertha Däubler-Gmelin durch die Presse, die neben der Reform des Zivilprozesses und der Einführung einer Europäischen Grundrechtscharta auch eine Änderung des Rechtsmittelsystems im Strafrecht vorsehen. Ursprünglich ging der Impuls zu einer Strafverfahrensrechtsänderung von den Ländern Baden-Württemberg, Bayern und Thüringen aus. Sie waren von den Ergebnissen des Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege aus dem Jahre 1993 enttäuscht, das die Arbeitsbelastung der Gerichte verringern sollte, indem für Fälle von Bagatellkriminalität das beschleunigte Verfahren und die Annahmeberufung eingeführt wurden. Nachdem dadurch keine nennenswerten Effizienzsteigerungen erreicht wurden, brachten die genannten Bundesländer im Jahre 1995 den Entwurf eines Zweiten Gesetzes ins Spiel.1 Die damalige Bundesregierung mit Justizminister Schmidt-Jortzig war nicht geneigt, weiter gehende Einschränkungen der Verfahrensausgestaltung vorzunehmen 2 und gab erst einmal Gutachten zur Erforschung der Verfahrenswirklichkeit in Auftrag. Damit schoben sie den Vorschlag auf die lange Bank, wo Frau Däubler-Gmelin ihn freudig wieder aufgriff.
Nachdem die JustizministerInnenkonferenz im Juni 1999 ihre grundsätzliche Zustimmung zur Ausarbeitung von Vorschlägen zur Reform der Rechtsmittel gegeben hat,3 ist nun für Herbst ein Referentenentwurf angekündigt. Was dabei zu erwarten ist, lässt sich aus den im Vorfeld erfolgten Verlautbarungen gegenüber der Presse und in Zusammenschau mit den Planung bezüglich des Zivilprozesses bereits absehen.

Einheitsinstanz mit Einheitsrechtsmittel

Dreh- und Angelpunkt der Rechtsmittelreform in Strafsachen soll die Vereinheitlichung des Instanzenzugs sein. Geplant ist laut einem Gutachtenauftrag des Justizministeriums an den Deutschen Richterbund "der unumkehrbare Einstieg in die Dreistufigkeit des Gerichtsaufbaus".4 Statt der jetzigen Einteilung, in der für weniger schwere Kriminalität ein dreistufiges Verfahren mit Berufung und Revision vom Amtsgericht über das Landgericht zum Oberlandesgericht zur Verfügung steht und für schwerere Taten ein zweistufiger Instanzenzug ausgehend von Land- und Oberlandesgericht zur Revision beim BGH vorgesehen ist, soll dann ein einheitlicher Instanzenzug für alle Formen von Kriminalität eingeführt werden.
Damit einhergehen soll die Rechsmittelstruktur geändert werden - wobei bereits an dieser Stelle kritisch anzumerken ist, dass der Zusammenhang zwischen einem dreigliedrigen Instanzenzug und einer Rechtsmittelreform nicht zwingend ist: Es ist durchaus möglich, bei drei Instanzen die heutigen Rechtsmittel beizubehalten. Denn es gibt bei zwei Anfechtungsmöglichkeiten des erstinstanzlichen Urteils keine Notwendigkeit, mehr als drei Gerichtstypen bereit zu halten.
Was nun der Ministerin als Strukturänderung vorschwebt, ist ein so genanntes Einheitsrechtsmittel, mit dem Urteile einer einheitlichen Eingangsinstanz für alle Formen von Kriminalität grundsätzlich nur noch einmal angefochten werden können. Dabei ist keine zweite Tatsacheninstanz im Sinne der heutigen Berufung mehr vorgesehen, vielmehr sollen nur noch konkrete Einzelfragen der Überprüfung offen stehen. Das Rechtsmittelgericht ist danach zuständig für die Fehlerkontrolle, nur noch eingeschränkt sind auch Tatsachenfeststellungen möglich.
Unklar ist noch, woraus sich im jeweiligen Verfahren die Prüfungsgegenstände zusammensetzen. Sie können sich aus einer - möglicherweise obligatorischen - Rechtsmittelbegründung der RechtsmittelführerInnen ergeben oder als von Amts wegen zu prüfende Gründe im Gesetz abschließend festgelegt werden. In letzterem Fall würde in jedem Rechtsmittelverfahren eine einheitliche Überprüfung des erstinstanzlichen Verfahrens erfolgen, unabhängig davon, was die RechtsmittelführerIn als fehlerhaft ansieht. Danach ergäbe sich für die Rechtsmittelinstanz ein Verfahren neuen Zuschnitts, das konzeptionell weder der heutigen Berufung als kompletter Neuverhandlung noch der jetzigen Revision als reiner Rechtskontrolle entspräche, sondern Elemente von beidem enthielte.
Des Weiteren werden Überlegungen angestellt, im Rechtsmittelverfahren neuen Zuschnitts von den Grundsätzen der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit in größerem Maße Abstand zu nehmen.5 Dabei kommt dem Rückgriff auf Protokolle der ersten Instanz eine bedeutende Rolle zu. Auch wird überlegt, dass BerichterstatterInnen für die zweite Instanz als Grundlage der Sachverhaltsfeststellung die Tatsachenfeststellungen und Beweisergebnisse der ersten Instanz zusammenfassen.
Gegen die Entscheidung im so genannten einheitlichen Rechtsmittel ist kein weiteres ordentliches Rechtsmittel mehr vorgesehen, in Betracht gezogen wird allenfalls eine Art Zulassungsrevision wie sie zum Beispiel aus Schweden, das einen den Planungen entsprechenden dreigliedrigen Instanzenzug aufweist, bekannt ist.6 Danach können nur den Wiederaufnahmegründen gleichende Sachverhalte oder das Bedürfnis nach Rechtsvereinheitlichung zu einem erneuten Verfahren führen.
Für das Gros der Verfahren wäre mithin der Instanzenzug nach dem Durchlaufen der ersten Tatsacheninstanz und dem beschränkten Rechtsmittelverfahren beendet.

Rechtsstaatsgewinn?

Verkürzung des Instanzenzugs klingt erst einmal stark nach Verkürzung des Rechtsschutzes. So scheint es auf den ersten Blick verwunderlich, dass BefürworterInnen der Reform einen rechtsstaatlichen Gewinn in der Reform zu erkennen meinen. Sie machen ihn fest an der "Stärkung" der ersten Instanz, die sich bei einer Verkürzung des Instanzenzugs daraus ergebe, dass das erstinstanzliche Verfahren ernster genommen werde.7
Was damit gemeint ist, zeigt sich an einem Vergleich zwischen den heutigen Schöffengerichtsverfahren und Landgerichtsverfahren, die parallel Fälle der mittleren Kriminalität betreffen können, deren Straferwartungen im Bereich von bis zu zwei Jahren liegen. Dem Landgerichtsverfahren ist keine zweite Tatsacheninstanz nachgeschaltet, als Rechtsmittel ist nur die Revision zum BGH zugelassen, das Schöffengerichtsurteil ist als amtsgerichtliche Entscheidung mit der Berufung auf seine tatsächliche wie rechtliche Grundlage hin und anschließend noch im Hinblick auf strittige Rechtsfragen mit der Revision überprüfbar. Erkennbar ist, dass das Landgerichtsverfahren von Umfang der Beweisaufnahme, der Dauer der Verhandlung und der Behandlung von Verfahrensfragen sehr viel komplexer ist als das vor dem Schöffengericht, das eher als summarisch zu bezeichnen ist.8 Die stärkere Formalisierung und Ausweitung der Beweisaufnahme ergibt sich daraus, dass alle Tataspekte im ersten Verfahren einer abschließenden Würdigung und Klärung unterzogen werden müssen, weil es keine Möglichkeit mehr gibt, das Verfahren mit einer zweiten Beweisaufnahme in der Rechtsmittelinstanz neu aufzurollen. Keiner der Verfahrensbeteiligten wird sich darauf verlassen wollen, dass der Spruchkörper schon richtig entscheidet. Daraus ergibt sich, dass alle auch nur denkbaren Beweismittel herangeschafft werden, um sich später kein Versäumnis vorwerfen lassen zu müssen.
Auf der anderen Seite steht der Spruchkörper am Landgericht selbst unter dem Druck "revisionsfest" entscheiden zu müssen. Wenn nur eine Rechtsmittelinstanz ohne neue Tatsachenerhebung auf das erstinstanzliche Verfahren folgt, so übt das eine starke Disziplinierungswirkung auf die Entscheidenden aus, die in ihrem Verfahren alles grundlegend zu klären haben.9 Unter dem Druck der nur einmal zu treffenden Entscheidung mit nur eingeschränkter Überprüfungsmöglichkeit werden alle Beteiligten formaler und gestützt auf umfänglicheres Material argumentieren müssen. Das Eingangsverfahren wird also deutlich komplexer werden.
Es ist demnach davon auszugehen, dass die Struktur des eingangsgerichtlichen Verfahrens sich im Vergleich zu den heutigen Amtsgerichtsverfahren, in denen im Bereich der Massenkriminalität die meisten Beschuldigten abgeurteilt werden, elementar verändern wird.
Formalisierung und Komplexität des Verfahrens bringen an sich einen Gewinn an Wahrscheinlichkeit für richtige Verfahrensergebnisses mit sich. Zudem wird durch die nur eingeschränkte Überprüfbarkeit zügiger die Rechtskraft des Urteils eintreten, Beschuldigte wissen also schneller, worauf sie sich einzustellen haben. Zusammengefasst wird der Eintritt von Rechtskraft beschleunigt und gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit der materiellen Gerechtigkeit von erstinstanzlichen Entscheidungen in allen Bereichen der Kriminalität erhöht. Das kann grundsätzlich erst einmal als Gewinn an Rechtsstaatlichkeit angesehen werden, indem zwei der elementaren Aufgaben des Strafverfahrens 10 funktional schon mit der ersten Instanz verstärkt verfolgt werden.
Dazu ist jedoch anzumerken, dass die Rechtssicherheit - insofern sie dringlich gewünscht ist - auch im jetzigen Rechtszustand unproblematisch in der ersten Instanz durch Rechtsmittelverzicht bereits am Tag der Verkündung des Urteils erreicht werden kann. Insofern kann die Zügigkeit der Rechtskraft kein maßgebliches Entscheidungskriterium zur Bewertung der Vorteile der Reform sein.
Entscheidend hingegen ist der Einwand in Bezug auf die materielle Gerechtigkeit, dass die BefürworterInnen die Tatsache nicht bedenken, dass der Wegfall der zweiten Tatsacheninstanz auch Wirkungen für das Verfahren in seiner Gesamtheit entfaltet.
Komplexität erhöht zwar die Wahrscheinlichkeit einer richtigen Entscheidung, bietet aber keine absolute Richtigkeitsgewähr. Es besteht weiterhin die Möglichkeit einer falschen erstinstanzlichen Entscheidung, mag sie auf die mangelhafte Vertretung von Beschuldigten zurückgehen, für die der Ernst der Lage erst im Lauf der Verhandlung zu Tage tritt, auf die allgemeine menschliche Fehlbarkeit, die auch vor RichterInnen nicht Halt macht, oder andere Gründe haben.

Mehr Augen sehen mehr als zwei

In Hinblick auf solche unabhängig von der Komplexität des Verfahrens unrichtigen Urteile erhöhen mehrere Verfahrensstufen die Chance auf eine richtige endgültige Entscheidung. Das ergibt sich daraus, dass im zweiten Verfahren andere Personen auf Seiten der Entscheidenden beteiligt sind, die aus einem anderen Blickwinkel die Geschehnisse betrachten können. Neben dem "Mehr-Augen-Prinzip" bringt eine zweite Tatsacheninstanz den Vorteil mit sich, dass die Beteiligten, erstinstanzlich gewonnene Erkenntnisse über die entscheidenden problematischen Fragen für die Beweisführung im zweiten Verfahren verwenden können. Im Vorhinein ist oftmals nicht abzusehen, was der neuralgische Punkt der Entscheidung sein wird, in der zweiten Instanz dagegen sind Überraschungen weitgehend ausgeschlossen.
Für die Fälle, in denen ein unrichtiges Urteil zu befürchten ist, weil sie besonders kompliziert oder besonders von subjektiven Wertungen der Gerichtspersonen abhängig sind, bietet also eine zweite Tatsacheninstanz eine größere Gewähr für materielle Richtigkeit des Urteils.
Insgesamt gesehen kann zwar die stärkere Formalisierung in der ersten Instanz einen Zuwachs von Rechtsstaatlichkeit im erstinstanzlichen Verfahren selbst bedeuten, geht man jedoch bei der Betrachtung von der Richtigkeit der Entscheidung im Gesamtverfahren aus, so bedeutet der Wegfall der zweiten Tatsacheninstanz einen großen Verlust an Richtigkeitsgewähr und damit schließlich an Rechtsstaatlichkeit.

Gezieltes Sparen

Es bleibt jedoch zu überlegen, was der Gewinn einer derartigen Umgestaltung sein könnte. Grundlage für die Reformbestrebungen sind hier wie häufig Kosten- und Effektivitätsgesichtspunkte. Durch die Einschränkung des Rechtsmittelverfahrens soll der statuierten Überlastung der Gerichte abgeholfen werden.
Zunächst einmal erscheint die geplante Umstrukturierung den angestrebten Zielen dienlich: Wenn in allen Fällen nur noch ein Rechtsmittel gegeben ist, so fallen alle zweiten Rechtsmittel weg, werden also gespart. Einspareffekt gegeben, Reformziel ereicht. Wenn das eine Rechtsmittel weniger umfassend ist als bisher, wird in der ersten Rechtsmittelinstanz Zeit und Aufwand gespart. Einspareffekt gegeben, Reformziel erreicht.

Vorbeigezielt

Aber so einfach ist es nicht. Grundsätzlich ist festzustellen, dass der Verfahrensaufwand sich nicht nach der Anzahl der Verfahren, sondern nach dem Inhalt der Verfahren bestimmt.
In den Blick zu nehmen ist also nicht, ob vor Rechtskraft des Urteils ein, zwei oder zehn einzelne Verfahrensstufen liegen, sondern wie diese aussehen. Wenn in fünf Verfahrensstufen jeweils eine kleine Frage nach abschließenden Regeln durch eine Entscheidungsperson geklärt wird, so ist der Aufwand gering, wird in zwei Verfahrensstufen eine breite Beweiswürdigung an vielen Verhandlungstagen unter Beteiligung vieler RichterInnen durchgeführt, ist der Aufwand groß.
Der Wegfall der dritten und die Beschränkung der zweiten Instanz kann also nur dann Einsparungen bringen, wenn dadurch nicht die erste Instanz inhaltlich aufgestockt wird.
Ob insgesamt durch die Änderung nicht nur der gesamte Aufwand eines Verfahrens in das erstinstanzliche Verfahren verlagert wird, das wie oben dargestellt den Mangel an Überprüfungsmöglichkeiten durch eine extreme Formalisierung wird ausgleichen müssen, ist äußerst fraglich. Der Deutsche Richterbund geht von einer deutlichen Mehrbelastung der Eingangsgerichte aus.11 Insbesondere wenn man den tatsächlichen Umfang der Berufung im heutigen Rechtszustand in den Blick nimmt, wonach 95 % der erstinstanzlichen Verfahren mit Urteil oder Strafbefehl unangefochten rechtkräftig werden,12 erscheinen die Einsparungsmöglichkeiten als marginal. Wenn die Beschneidung der Rechtsmittelmöglichkeiten durch das Aufblähen der ersten Instanz aufgefangen wird, so kann höchstens ein Nullsummenspiel herauskommen, auf keinen Fall jedoch gespart werden. Das Ziel wäre verfehlt. Es bliebe die Einschränkung des Rechtsschutzes auf dem Weg zur materiellen Gerechtigkeit.
Ergebnis der Reform: schlechterer Rechtsschutz bei gleichen Kosten. Nicht sehr effizient.

Anna Luczak lebt in Freiburg und studiert Jura.

Literatur:

Becker, Monika/ Kinzig, Jörg (Hrsg.), Rechtsmittel im Strafrecht - Eine international vergleichende Untersuchung zu Rechtswirklichkeit und Effizienz von Rechtsmitteln, 2000.
Große Strafrechtskommission des Deutschen Richterbundes, Gutachten zum Thema: Reform der Rechtsmittel im Strafverfahren, Ergebnisse der Sitzung vom 26.07. bis 31.07.1999.
Rath, Christian, Effizienz und Rechtsschutz, Badische Zeitung v. 11.06.1999.
Roxin, Claus, Strafverfahrensrecht, 1995.

Anmerkungen:

1 BR-Drs 633/95.
2 BT-Drs 13/4541, 32 ff.
3 Beschluss der JuMiKo vom 7. -9. Juni 1999 TOP II.3.
4 Deutscher Richterbund, 1.
5 Deutscher Richterbund, 16, 20, 32.
6 Becker/ Kinzig Bd. 1, 402.
7 Rath, BZ (Badische Zeitung) vom 11. 06. 1999, 9.
8 Becker/ Kinzig, Bd. 2, 170.
9 Becker/ Kinzig, Bd. 2, 184.
10 Roxin, 1.
11 Deutscher Richterbund, 51.
12 Becker/Kinzig, Bd. 2, 59.