Heft 1 / 2001:
Fragwürdige Dienstleistung
Bundeswehr im Umbruch
xxx

Thilo Tetzlaff Zum ersten Artikel des Schwerpunkts Zum ersten Artikel des Forums Zur Rubrik Recht kurz Zum Sammelsurium Zur Rubrik Politische Justiz Zur BAKJ-Seite
Ende einer Dienstpflicht
Zur Abschaffung der Wehrpflicht in europäischen Staaten
 

"Ihm, dem Oberleutnant, schwebe eine Armee der Reinheit, der Sauberkeit vor, - aber es sei hier wohl nicht der Ort, eine eigene Wehrphilosophie zu entwickeln... Ihm schwebe ein ganz anderes Ausleseverfahren für Berufssoldaten vor" 1. Die Frage, welche Art der Rekrutierung von Soldaten der Reinheit eines Verfassungsstaates am besten entspricht, hat erstaunliche Wandlungen, man könnte gar sagen Kapriolen, vollzogen. Derzeit scheint die Konzeption von Berufsstreitkräften Konjunktur zu haben, aber dies könnte eine sehr vergängliche Momentaufnahme sein. Bedenkt man, dass die Wehrpflicht eine äußerst lange Tradition hat 2, sollte man sich der Konsequenzen bewusst sein.
Der Begriff des Soldaten leitet sich von Sold ab, eine Bezahlung für geleistete Kriegsdienste. Damit wird auf die Anfangsgründe einer Berufsarmee verwiesen. Es handelt sich dabei im übrigen um eine europäische Wurzel, da "solt" französische Goldmünzen waren. Von Beruf in einem emphatischen Sinne zu sprechen, wäre freilich zuviel. Die Schicht, die sich als Soldaten verdingte, pflegte nicht in hohem sozialen Ansehen zu stehen. Eine englische Quelle spricht von "vagabounds, scoundrels and criminals", was es wohl recht genau trifft. Das zum Teil sehr rigide Wehrstrafrecht anglo-amerikanischer Prägung hat in dieser Klientel noch immer seine Wurzeln.
Demgegenüber erschienen Wehrpflichtarmeen zunächst als Armeen der Reinheit. Historisch zuletzt stand dabei die Erfahrung mit der Wehrmacht Hitlers. Wie so viele "Lehren aus Weimar" ist auch diese nicht ganz schlüssig, denn es handelt sich bei der Wehrmacht natürlich nicht um eine Berufsarmee. Irgendwie nährte sich nach 1945 aber doch der Glaube, dass eine Wehrpflichtarmee eine historische Folgerung aus dem 2. Weltkrieg wäre. Dementsprechend wurde die Bundeswehr bei ihrer Gründung 1957 auf die Wehrpflicht gestützt. Dies sollte sich wohl mehr gegen die Dominanz der traditionellen militärischen Führungseliten richten, als gegen den Beruf "Soldat". Die wahre Begründung für eine Wehrpflicht lässt sich bei weitem besser an den französischen Revolutionsheeren zeigen, die gegen die Dämme des Absolutismus kämpften (levée en masse) und von Carnot immer als Ausdruck der Gleichheit aller Bürger propagiert wurden.
Das Bürgertum begann gegen den Adel um eine Beteiligung an den Streitkräften zu kämpfen. Zum einen weil die Alternative zum Wehrdienst meist aus ganz empfindlichen finanziellen Verpflichtungen bestand, zum anderen da man in dem Recht, die neu gewonnenen Freiheiten der ersten Republik zu verteidigen, eine Anerkennung des eigenen Bürgerstatus sah. Dementsprechend findet sich der Wehrdienst auch in der allen französischen Verfassungen angehängten Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789. Diese Begründung spielt heute bei der Frage des Einsatzes von Wehrpflichtigen in Krisengebieten, insbesondere von UN-Einsätzen, eine Rolle, da die Parallelität von Bürgerrechten und Bürgerpflichten hier aufgehoben wird. Denn der Wehrpflichtige begibt sich nicht mehr dafür in Gefahr, dass der Staat ihn und die Gemeinschaft militärisch schützt, sondern weil der Staat völkerrechtliche Verbindlichkeiten einlösen muss.
Der militärische Erfolg, den die derart strukturierten Heere hatten, wurde im übrigen zu einer einzigartigen Erfolgstory: Der Status des Soldaten in Europa wurde mit positiven Tugenden verknüpft, die ihn im Vergleich z. B. mit Soldaten im China sozial er- und überhöhte und die Berufspläne bürgerlicher Familien entscheidend beeinflusste. Obwohl keine besondere Selektion nach Fähigkeit und Eignung stattfand, verschwammen Bürger- und Soldatenpflichten in einem Tugendnetz derart, dass sie nahezu deckungsgleich wurden. Der Soldat konnte sich eines vergleichsweise hohen sozialen Status rühmen, einerseits wegen der politisch-philosophischen Überhöhung der Wehrpflicht (z. B. bei dem Historiker und Staatstheoretiker Justus Möser), andererseits wegen des hohen Stellenwertes genuin soldatischer Tugenden.
Die Wehrpflichtsysteme Frankreichs und Preußens wirkten auf alle anderen Staaten ein. Diese orientierten sich entweder am französischen Modell (Niederlande) oder am deutschen (Österreich, Dänemark). Der Grundunterschied besteht vor allem darin, dass entweder der Aspekt einer effektiven Verteidigung oder der eines Gemeinschaftsdienstes überwiegt. 3 Ferner kann man auch die historische Entstehung der Wehrpflicht anführen, in den Niederlanden z. B. 1814, nach den napoleonischen Kriegen. Zu einem größeren Grad eigenständige Konzeptionen findet man in einigen skandinavischen Staaten (Finnland, Norwegen). Neben den hier aufgeführten Staaten ist die Wehrpflicht in einigen anderen abgeschafft worden. Zu nennen sind Belgien (1995) und Spanien, wo die seit 180 Jahren bestehende Wehrpflicht aufgrund eines Beschlusses vom August letzten Jahres ebenfalls bis Ende 2002 abgeschafft werden soll. Damit erfüllt die konservative Partei (PP), die seit 1996 regiert, endlich ihr Wahlversprechen. An die Stelle der bisherigen Wehrpflichtarmee soll eine aus ca. 120 000 Personen bestehende Berufsarmee treten. Eine ähnliche Beschlusslage besteht in Portugal. Nimmt man die NATO-Staaten, halten also nur noch fünf (Deutschland, Norwegen, Dänemark, Griechenland, Türkei) an der Wehrpflicht fest.

Niederlande

In einer europäischen Dominokette fällt also die Wehrpflicht und es ist spannend, sich die Begründungen hierfür gerade in den anderen Staaten anzusehen. In den Niederlanden wurde die Wehrpflicht zum 1. 1. 1997 abgeschafft. Grundlage dieser Entscheidung war vor allem eine neue Bewertung der sicherheitspolitischen Lage nach Ende des Kalten Krieges. Dazu ist anzumerken, dass die Idee des Wehrdienstes in den Niederlanden immer eingegliedert war in ein Konzept einer nationalen Dienstpflicht (national service). Dieses Konzept, das auch in den Vereinigten Staaten eine gewisse Relevanz erlangt hat, geht von der Vorstellung aus, dass eine Bürgerpflicht dahin besteht, den Staat in elementaren Fragen zu unterstützen. Die Verteidigung ist dabei nur ein Bestandteil, gleichberechtigt daneben treten Zivil- und Entwicklungsdienst. Fällt die Notwendigkeit einer Verteidigung weg, besser: reduziert sie sich quantitativ, verändert sich hinsichtlich der Notwendigkeit anderer Dienste nichts.
Einen so hohen Grad an Unabhängigkeit haben die einzelnen Pflichten dann allerdings in der politischen Debatte doch nicht, wenngleich dies möglich wäre. Obwohl daher hinsichtlich der Abschaffung des Wehrdienstes ein parteiübergreifender Konsens bestand, herrschte in Bezug auf andere Dienste, insbesondere über den in den Niederlanden bedeutsameren Entwicklungsdienst, größere Unklarheit. Zwar wurden die verschiedenen Arten der nationalen Dienstpflichten weniger als in der Bundesrepublik gegeneinander ausgespielt und die Frage des Personalmangels im Sozialbereich wurden offener diskutiert, dennoch konnte das Parlament sich zu einer sozialen Dienstpflicht nicht entschließen. Damit gehörte es auch zur Ironie dieser Geschichte, dass nachdem die letzten ordentlichen Wehrpflichtigen bereits Mitte 1996 in Breda die Kasernen verließen, nur noch einige Totalverweigerer übrig blieben.
Eine soziale Dienstpflicht wäre im übrigen auch nur um den Preis einer Verfassungsänderung zu haben gewesen. Davor schreckte man aber trotz der notwendigen Mehrheiten zurück. Das Hauptargument war die Möglichkeit, bei veränderten sicherheitspolitischen Konstellationen wieder auf die Wehrpflicht zurückgreifen zu können. Offiziell bleibt daher die Wehrerfassung bestehen und die Verfassung sieht in Art. 97 nach wie vor die Möglichkeit einer Einberufung vor. Im übrigen, dies ist eine niederländische Besonderheit, nicht nur für Staatsbürger des Königreichs, sondern auch für Personen mit permanentem Aufenthaltsrecht. Die ersten Erfahrungen mit den umstrukturierten Streitkräften sind durchaus gut, zumal in diesen Prozess andere Modernisierungsmaßnahmen eingegliedert wurden, wie z. B. die Schaffung eines besonderen Beschwerdeverfahrens in Fällen sexueller Belästigung. Dieses Reformpaket wurde bislang überwiegend positiv aufgenommen.

Frankreich

Das Ende des Kalten Krieges spielte auch für die Diskussion in Frankreich eine zentrale Rolle. Hervorzuheben ist aber, dass dort weniger pazifistische Argumente, sondern - jedenfalls soweit es die Regierungsparteien betrifft - die Bedeutung Frankreichs angesichts einer veränderten Struktur von NATO und europäischen Verteidigungsinitiativen im Vordergrund stand. Daher wurde die Abschaffung der Wehrpflicht im Zusammenhang mit einer Verbesserung der Einsatzfähigkeit der französischen Streitkräfte geführt. Die Abschaffung der Wehrpflicht ist in Wahrheit zunächst nur eine Suspension im Rahmen eines bis 2002 dauernden Versuchsprojektes zur Professionalisierung der Streitkräfte.
Dabei ist zu bedenken, dass Verteidigungs- und Außenpolitik immer auch Gegenstände des politischen Handlungsspielraumes des Präsidenten sind. Dies gilt erst recht in Kohabitationszeiten. Obwohl die erforderlichen gesetzlichen Änderungen von der sozialistischen Mehrheit mitgetragen wurden, handelte es sich politisch mehr um ein Projekt des neogaullistischen Präsidenten Chirac. Die dargestellten Ergebnisse waren also gerade nicht Resultat einer offenen Debatte über die Wehrstruktur der französischen Streitkräfte, sondern wurden durch eher klandestine Diskurse bewirkt. Dies hängt auch damit zusammen, dass man vor allem in Frankreich gegen den historischen bedingten hohen Stellenwert der Wehrpflicht ankämpfen musste und eine umfängliche Diskussion wahrscheinlich gerade vermeiden wollte. Rechtstechnisch war der eingeschlagene Weg mit dem niederländischen durchaus vergleichbar, wobei die Verfassung die Zusammensetzung der Streitkräfte ohnehin nicht festgelegte. § 116 des Code du Service National sieht weiterhin eine Wehrpflicht für den Verteidigungsfall vor, wobei diese sogar symbolisch in Form eines Wehrdiensttages noch vollzogen wird. Dieser Wehrdiensttag soll dazu dienen, die sonst der Wehrpflicht zugute gehaltene Verbindung zwischen Streitkräften und Bevölkerung aufrecht zu erhalten. Überspitzt könnte man sagen, dass in Frankreich und den Niederlanden Freiwilligenstreitkräfte mit einem Wehrpflicht-Appendix vorgehalten werden, während in der Bundesrepublik an der Wehrpflicht-Armee festgehalten wird, allerdings mit einem funktional bedeutsameren Freiwilligenteil. Derzeit werden deshalb einige Anstrengungen unternommen, um den vom Präsidenten angeordneten Aufbau von Freiwilligenstreitkräften anzugehen.

Italien

Einen noch größeren Zeitrahmen hat man sich in Italien gesetzt. Nach einem relativ langwierigen Vorlauf hat die italienische Regierung am 26.10. letzten Jahres die stufenweise Abschaffung der Wehrpflicht beschlossen. Dieses schrittweise Vorgehen hängt damit zusammen, dass man die Abschaffung des Wehrdienstes in den Prozess der Truppenreduzierung auch zeitlich eingliedern möchte. Bis Ende 2006 sollen die italienischen Streitkräfte von 260.000 Mann auf 190.000 Soldaten reduziert werden, wobei ein Großteil (ca. 50 %) dieses Kontingentes dann auf die Wehrpflichtigen entfallen.
Kennzeichnend für die italienische Debatte ist, und darin bestehen Parallelen zur deutschen Diskussion, die Normalität, die von offizieller Seite in Bezug auf die Veränderung der Wehrstruktur herausgestellt wird. Anders als in Frankreich und den Niederlanden schälte sich kein Hauptargument heraus, sondern Verteidigungsminister Mattarala spricht von allgemeinen Reformen der Streitkräfte, zu denen auch die Eingliederung der bewaffneten Polizei gehört. Die Regierung macht also aus der Wehrpflicht kein eigenständiges Thema. Stattdessen wurde mit der Eingliederung in multinationale Verbände, aber auch mit Kostengesichtspunkten argumentiert. Demgegenüber hielten andere Gruppierungen, die für die Abschaffung der Wehrpflicht mehr aus der Sicht der Wehrpflichtigen votierten, die unter dem Gesichtspunkt der beruflichen Entwicklung als nachteilig angesehen wurde, es für nicht mehr zumutbar, den jungen Männern eine Verschwendung von 10 Monaten ihres Lebens in Form der bei Armeen vorzufindenden konzentrierten Langeweile aufzuerlegen, nachdem sich die sicherheitspolitische Lage in Europa derart geändert habe. Schließlich wurde auch die Benachteiligung der Frauen in den Streitkräften angeführt: Im Unterschied zu Deutschland ist die verfassungsrechtliche Situation weniger problematisch, da Art. 52 der italienischen Verfassung nur von "Bürgern" spricht. Hier war es immer so, dass verschiedene Vorfälle von Diskriminierungen weiblicher Soldaten in den Streitkräften ganz grundsätzliche Zweifel an der Möglichkeit einer Gleichberechtigung in der Armee aufkommen ließen. Um dieser Frage wenigstens in Bezug auf die unterschiedliche Behandlung bei der Wehrpflicht entgehen zu können, wurde deren Aufhebung vorgeschlagen.
So weit man dies bislang sagen kann, werden alle größeren Parteien den Ausstieg aus der Wehrpflicht mittragen. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass Verteidigungsminister Mattarala parteipolitisch wenig gebunden ist und so mit allen Gruppen in einen Diskurs treten konnte. Es sollte freilich auch nicht verschwiegen werden, dass Bestandteil der Diskussion eine stärkere Berücksichtigung italienischer Vertreter auf europäischer Kommandoebene war, weil man der Ansicht ist, mit einer reformierten Armee mit den anderen Staaten wieder mithalten zu können. Zudem ist bei aller Steigerung der Effektivität jedenfalls mittelfristig eine Erhöhung des Verteidigungsetats angestrebt.
Verfassungsrechtlich sieht es in Italien gegenwärtig so aus, als würde Art. 52 der italienischen Verfassung, der die "heilige Pflicht des Bürgers" festlegt, unverändert bleiben, um im Krisenfall wieder auf Wehrpflichtige zurückgreifen zu können. Da sich die Vorgänge noch denen der parlamentarischen Beratungen befinden, kann zu der endgültigen Umsetzung noch wenig gesagt werden. Im Grunde wird meist nur von einer Verkleinerung der Streitkräfte gesprochen; dass hiervon vor allem die Wehrpflichtigen betroffen sein werden, lässt sich nur mittelbar erschließen. Aus einigen der wiedergegebenen Äußerungen kann man aber entnehmen, dass diese Abschaffung der Stärkung des italienischen militärischen Potentials dienen soll.

Bürgerpflichten ohne Dienstpflicht

Die meisten anderen westeuropäischen Staaten, die die Wehrpflicht bislang beibehalten, beschränken sich - vergleicht man dieses mit internationalen Maßstäben - auf einen äußerst fragmentarischen Wehrdienst, der mit Ausnahme von Griechenland der Idee einer allgemeinen Wehrpflicht kaum noch entspricht. Gründe dafür sind die den veränderten Aufgabenstellungen entgegenstehenden rechtlichen und tatsächlichen Hindernisse beim Einsatz von Wehrpflichtigen. Rechtlich ist bereits auf die bei Blauhelm-Einsätzen auftretende Probleme hingewiesen worden, tatsächlich nimmt die für die Ausbildung zur Verfügung stehende Zeit immer mehr ab, so dass Wehrpflichtige entweder nur auf Grund ihrer Vorbildung eingesetzt werden können oder Funktionsdienstposten, d. h. im Grunde voraussetzungslose Dienste wie Wache oder Transport, zu versehen haben. Hier erinnert bereits vieles wieder an das preußische Krümpersystem mit seinen sehr oberflächlichen Ausbildungsbemühungen.
Betrachtet man diese Entwicklungen, so ergeben sich ganz verschiedene Beobachtungen: Die erhöhte Motivation von Wehrpflichtarmeen gegenüber Freiwilligenstreitkräften hat sich geradezu in ihr Gegenteil verkehrt. Dies gilt genauso für die physische Ebene. Während traditionelle Armeen im wesentlichen durch die Personalstärke gekennzeichnet waren, ergibt sich heute ein deutliches Übergewicht der technischen Kampfmittel. Außer auf den Funktionsdienstposten wird ein Soldat aus militärischer Sicht erst im Zusammenhang mit der Bedienung des technischen Kampfmittels wertvoll. Demgegenüber hat sich an der Parallelität von Bürgerrechten und Verteidigungspflichten eigentlich nichts geändert und die Verfassungen betonen diesen Zusammenhang nach wie vor. Hier ist es mehr dem Umstand geschuldet, dass die zu erwartenden militärischen Auseinandersetzungen außerhalb dieses Synallagmas liegen, dass es zu einem Bewertungswandel gekommen ist. Allen Staaten gemeinsam ist, dass es an einem klaren Bekenntnis zum Wechsel der Wehrstruktur bislang noch fehlt. Hier wäre in Deutschland eine grundsätzlichere Diskussion anzumahnen, als sie z. B. in Frankreich unternommen wurde. Hybride Konstruktionen wie Freiwillig Länger Dienende oder der Wehrdiensttag sind Kennzeichen einer "militärischen Transformationszeit". Diese Unsicherheiten sind nicht zuletzt bedingt durch den Wertewandel, den die Wehrpflicht durchgemacht hat. Die Dienstfahrt bei Böll endet mit der Verbrennung eines Bundeswehrfahrzeugs, wobei niemand weiß, ob es sich um Sachbeschädigung oder Kunst in Form eines Happenings handelt. Das Ende der Dienstpflicht scheint ebenso unklar zu sein. Von einem Symbol der Gleichberechtigung, das noch in der Diskussion um die Wehrgerechtigkeit seine Kraft entfaltet, hat sie sich zu einer kaum noch zu legitimierenden Freiheitsbeschränkung entwickelt. Umgekehrt sind die Freiwilligenstreitkräfte den Ruch der Söldnerheere los geworden und haben sich stattdessen zu einem Markenzeichen von Professionalität und Effektivität entwickelt. Anzumerken ist hier freilich, das einige der traditionellen Freiwilligenstreitkräfte in der Beachtung von Rechtspositionen der Soldaten/innen kein durchweg positives Bild bieten. Auch dies sollte in der Debatte eine Rolle spielen, bevor man das Rad der Geschichte ein Stück weit rückwärts dreht.
Ein wenig scheint es so, als habe man sich bei dem Versuch, die Streitkräfte der veränderten politischen Lage in Europa anzupassen, die wenig widerstandsfähige Wehrpflicht ausgesucht. Dies hat politische und rechtliche Facetten, da von Seiten der Wehrpflichtigen selbst kein Widerstand zu erwarten war und grundlegendere Reformen innerhalb der bestehenden Verfassungssysteme in Europa nicht möglich waren. Die dahinter verborgene Gefahr besteht darin, dass ein kritisches Potential, das sich aus und gegen die Wehrpflicht mobilisieren ließ, zu verschwinden droht und nicht mehr als Ausgangspunkt einer grundsätzlichen Wehrkritik genutzt werden kann. Will man eine Position gegen militärische Potentiale führen, ist die Wehrpflicht dazu ein eher ungeeignetes Objekt. In diesem Sinne macht die von der Wehrstrukturkommission angeregte Rumpfwehrpflicht dann wieder Sinn, da scheinbare Sinnlosigkeit oft das Sinnvollere ist.
Zudem hat die Wehrpflicht immer auch eine gewisse Offenheit der Streitkräfte gegenüber gesellschaftlichen Entwicklungen mit sich gebracht. Negativ, wenn man an das Problem des Rechtsextremismus in der Bundeswehr denkt, positiv, wenn man die graduelle Ausgestaltung eines soldatischen Personalvertretungsrechtes im Blick hat. Nur wenn diese Offenheit durch eine entsprechende Fluktuation bei den kürzeren Zeitverträgen ausgeglichen wird, kann einer Isolation von der Bevölkerung vorgebeugt werden. Die Gefahr hierzu besteht im übrigen bereits bei einer derart selektiven Einberufungspraxis, die einen Bürger, der gezogen wird, von allen anderen nur mit Mitleid versehen werden lässt.

Thilo Tetzlaff ist Assessor in Berlin und hat eine wehrrechtliche Dissertation publiziert.

Anmerkungen:

1 H. Böll, Ende einer Dienstfahrt (München 1997), S. 170.
2 Vgl. 4. Buch Moses (Numeri), 1, 2-3, sowie 1. Chronik, 21, 2-5; Samuel, 24 (2-9).
3 Im einzelnen Opitz, Allgemeine Wehrpflicht in Deutschland, in: Groß/Lutz, Wehrpflicht ausgedient, S. 105.

Literatur:

Allgemein:
Fröhler, Grenzen legislativer Gestaltungsfreiheit in zentralen Fragen des Wehrverfassungsrechts (1995);
Groß/Lutz (Hrsg.), Wehrpflicht ausgedient (1998.)
Niederlande:
Soetendal, Van dienstplichtwet naar kaderwet dienstplicht, Militair Rechtelijk Tijdschrift 1997, S. 345 ff.;
Flinterman, Modernisering van defensiebepalingen, Nederlandse Jurisprudentie 1998, S. 232 ff.
Frankreich:
Ribouillaut, Le service militaire (1998) ; Centre d'études en sciences sociales de la défense, Les Jeunes et la défense (1997)
Italien:
Homepage des italienischen Verteidigungsministeriums: http://www.difesa.it.