Heft 1 / 2001:
Fragwürdige Dienstleistung
Bundeswehr im Umbruch
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Wer Einheitsjurist werden will, krümmt sich beizeiten
Der steinige Weg zum Zweiten Juristischen Staatsexamen
 

Mit der Vereidigung fängt alles an. Sprechen Sie mir nach: "Ich schwöre, dass ich, getreu den Grundsätzen des demokratischen und sozialen Rechtsstaats, meine Kraft dem Volke und dem Lande widmen, das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland und die Niedersächsische Verfassung wahren und verteidigen, in Gehorsam gegen die Gesetze meine Amtspflicht gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde."
Herr A kommt zur Vereidigung im Jackett und mit Schlips und hängt der Eidesformel noch ein kleines "So wahr mir Gott helfe" an. Frau W erklärt, sie verzichte auf die religiöse Beteuerung, und schon ist klar, dass Frau W manchmal Sachen anders macht als andere. Herr G erlaubt sich gar, zur Vereidigung in Jeans zu erscheinen. Anlass genug für den Gerichtspräsidenten, ihn nach der Zeremonie beiseite zu nehmen und mit eindringlichen Worten auf die besondere Würde des Gerichts aufmerksam zu machen, die es zu achten gelte. Zumindest Herr G hat anschließend begriffen, wo er angekommen ist: Im Apparat, oder, moderner: in der Institution. Er ist jetzt Referendar.

Von Station zu Station dem Zweiten Staatsexamen entgegen

Als solcher landet er zuerst in der sogenannten "Zivilstation". Man muss sich das Referendariat vorstellen wie einen Eisenbahnzug, der mit wechselnden Geschwindigkeiten von Station zu Station fährt. Anzahl und Dauer der Stationen unterscheiden sich in den Bundesländern kaum: Ungefähr die ersten anderthalb Jahre fährt der Zug die "Pflichtstationen" ab, soll heißen: Aus- und Umsteigen nicht erlaubt. Alle Referendar/innen müssen eine bestimmte Zeit ans Zivilgericht, zur Staatsanwaltschaft und in die Verwaltung. Jeder Referendar muss bei einem Anwalt oder einer Anwältin arbeiten. Danach hat der Zug einen kurzen Aufenthalt beim Prüfungsamt, denn nach den Pflichtstationen werden die Klausuren für das zweite Staatsexamen geschrieben. Ist diese Hürde genommen, kommt die "Wahlstation". Jetzt fährt jeder noch ein paar Monate in eine selbstgewählte Richtung: Herr A macht Station in der benachbarten Anwaltskanzlei, weil er sich dort nach dem Referendariat eine Anstellung erhofft. Frau W fliegt zur deutschen Botschaft in Schanghai und stellt einreisewilligen Chines/innen Visa aus. Herr G begibt sich in die Rechtsabteilung eines internationalen Multikonzerns und zieht dafür sogar freiwillig ein Jackett an. Die Wahlstation bietet diese und noch viele andere spannende Möglichkeiten. Aber eigentlich ist sie nur ein kleiner individueller Umweg, denn die Endstation ist für alle gleich: Mündliche Prüfung und Entlassung.
Was danach kommt, ist ungewiss, doch interessiert uns der Weg - das Referendariat. Es versucht, zwei Dinge zu vereinbaren, die sich eigentlich gut unter einen Hut bringen lassen müssten: Die Referendar/innen sollen einen Einblick in die verschiedenen juristischen Berufe bekommen, und sie sollen auf das Zweite Staatsexamen vorbereitet werden, das den vielversprechenden Namen "Praxisexamen" trägt. Um diese Verzahnung zu erreichen, haben die Referendar/innen in jeder Station eine Ausbilderin für die Praxiserfahrungen und eine Arbeitsgemeinschaft für den theoretischen Unterricht.

Immerhin nicht Kaffee kochen.

Das klingt alles sehr schön, passt jedoch in Wirklichkeit nicht besonders gut zusammen. Denn in der Arbeitsgemeinschaft werden den Referendar/innen viele knifflige, examensrelevante Probleme präsentiert, die sie in der praktischen Ausbildung nur selten wiederfinden. In der Zivilstation lernen sie in der AG beispielsweise den diffizilen Umgang mit dem "Versäumnis-Teilurteil und Schlussurteil" und komplizierte Kostenrechnungen in Fällen, in denen von zahlreichen Parteien nur einige den Rechtsstreit gewinnen, und das auch nur zum Teil. Vor Gericht geht es dann eher um den Verkehrsunfall, bei dem fünf Zeugen fünf unterschiedliche Versionen des Unfallhergangs schildern und der Richter entscheiden muss, wie es denn nun wirklich gewesen sein mag. Darüber wird in der AG nicht gesprochen, wie sie überhaupt nicht der Ort ist, um die Erfahrungen aus der Praxis zu besprechen, zu beleuchten oder nachzuarbeiten.
Niemand wird deswegen nach sechs Monaten Zivilstation oder drei Monaten Verwaltung von sich behaupten können, in dieser Sparte nun "ausgebildet" zu sein in dem Sinne, dass er sogleich ohne weitere Einarbeitung selbst als Richter/in arbeiten könnte. Was die Berufsqualifizierung betrifft, ist das Referendariat kaum nützlicher als ein Praktikum. Zwar müssen die Referendar/innen nicht Kaffee kochen, aber besonders viel selbst machen können sie auch nicht. In der Zivilstation etwa sitzen sie einmal die Woche neben ihrer Ausbilderin auf der Richterbank und gucken beim Verhandeln zu. Sie haben großes Glück, wenn sie in sechs Monaten überhaupt oder gar mehr als einmal selbst eine Verhandlung leiten dürfen. Den Rest ihrer Arbeitszeit verbringen die jungen Jurist/innen vor Akten. In den anderen Stationen sieht es nicht viel besser aus.

Referendar/innen in Robe...

Nur bei den Staatsanwaltschaften müssen die Referendar/innen damit rechnen, wirklich in den laufenden Betrieb eingespannt zu werden: Hier werden sie fast überall regelmäßig, oft sogar wöchentlich, zu sogenannten "Sitzungsvertretungen" herangezogen. Das bedeutet, dass die Referendar/innen die Akten für einen bestimmten Sitzungstag am Amtsgericht bekommen und in diesen Verhandlungen so tun, als wären sie Staatsanwält/innen - sie verlesen die Anklageschrift, hören zu, wie der Richter die Beteiligten vernimmt, halten ein Plädoyer und stellen einen Strafantrag.
Was aber ist das für ein Spiel? Der Richter weiß, dass er eine Referendarin vor sich hat. Die Verteidiger/innen wissen es auch. Die Referendar/innen schwitzen Blut und Wasser und sind froh, wenn sie die Anklageschrift fehlerfrei verlesen können und ihren Einsatz für das Plädoyer nicht verpassen. Kluge Richter/innen leiten die Verhandlung in diesen Fällen so, dass die Referendarin nur körperlich anwesend sein muss und dienen ihr, wenn sie freundlich sind, noch als Stichwortgeber ("diesem Antrag muss die Staatsanwaltschaft zustimmen, haben Sie Bedenken, Frau Staatsanwältin?"). Am Ende stammelt die Referendarin ein paar "Wie halte ich ein Plädoyer" - Textbausteine aus dem entsprechenden JA-Skript herunter und stellt den Antrag, den die Ausbilderin ihr am Tag zuvor empfohlen hat. Entscheiden tut ohnehin der Richter. Eine Farce, die alle Beteiligten durchschauen - mit Ausnahme der Angeklagten, die eine verantwortlichere Behandlung verdient hätten.

...und was aus ihnen wird

Interessant ist an dieser Praxis aber nicht nur, ob Angeklagte verschaukelt werden oder nicht. Fast noch interessanter ist, was diese Pflichtübung aus den Referendar/innen macht. Die meisten von ihnen gehen recht unkritisch an die Sache heran und versuchen, sie "gut" zu machen. "Gut" bedeutet in diesem Falle: so, dass Richter und Ausbilderin zufrieden sind. Ihre einzigen Vorbilder für diese Arbeit sind: Richter und Ausbilderin. Um also die Sache möglichst "gut" zu machen, ahmen die Referendar/innen in erster Linie die anderen Beteiligten in diesem Spiel nach. Spätestens hier wird klar, wie sich der typisch juristische Stil von Generation zu Generation weitergibt: Die jungen Jurist/innen werden in ein Autoritätsverhältnis gesteckt, und ihnen wird im Rahmen dieses Verhältnisses eine Aufgabe zugeteilt, die nicht ohne Wichtigkeit und Verantwortung ist. Die einzigen, die darüber befinden, wie die Referendar/innen ihre Arbeit bewältigen, sind die Vorgesetzten selbst, die schon seit Jahren in diesem Beruf arbeiten. Was liegt da näher, als sich bestmöglich an die Vorgabe zu halten? Nur so lässt es sich erklären, dass auch schon die Grünschnäbel in Robe so auftreten und reden, als kennten sie die einzig vertretbare Lösung, wie Jurist/innen es nun einmal tun und von ihresgleichen erwarten. Und wenn es in dem betreffenden Gerichtsbezirk üblich ist, Totalverweigerer ohne Bewährung einzusperren, dann beantragen die Referendar/innen eben die entsprechende Freiheitsstrafe.
Wer mit offenen Augen und einer gewissen kritischen Distanz durch das Referendariat geht, kann so am eigenen Leibe erfahren, wie die Justiz an ihm feilt und ihm die herrschenden Meinungen und gängigen Verhaltensweisen als die einzig möglichen und richtigen nahelegt. Die meisten Referendar/innen aber, wie gesagt, setzen sich diesem Problem gar nicht erst aus. Sie gehen davon aus, dass ihnen am Ende um so bessere Noten winken, je mehr sie sich bemühen, dem Leitbild zu entsprechen. Was natürlich nicht unbedingt funktioniert, aber die Examensangst ist nicht immer die beste Ratgeberin.

Examensvorbereitung und kein Ende

Überhaupt, das Examen. Die Klausuren werden, wie schon erwähnt, nicht am Ende der Ausbildungszeit geschrieben, sondern so früh, dass sie schon nach einigen Monaten gefährlich nahe rücken. Das wäre halb so schlimm, wenn irgendwo auf der Strecke auch ein angemessener Aufenthalt eingeplant wäre, den die Referendar/innen zur Prüfungsvorbereitung nutzen könnten. Dem ist aber nicht so. Statt dessen gibt es die illegale, aber sehr verbreitete Einrichtung der "Tauchstation": Viele freundliche Anwält/innen schreiben für die Anwaltsstation wohlwollende Zeugnisse und lassen die Referendar/innen ansonsten in Ruhe die Tücken der ZPO studieren. Dabei steht für die meisten Referendar/innen fest, dass sie den Anwaltsberuf ergreifen werden - weil sie es schon immer wollten oder weil sie nicht mit so guten Noten rechnen, dass sie auf eine Stelle im Staatsdienst hoffen könnten. Doch gerade die Arbeit in einer Anwaltskanzlei kommt für die meisten während des Referendariats zu kurz.
Noch eine zweite Folge hat der Umstand, dass im Rahmen der Ausbildung keine Zeit für die Prüfungsvorbereitung eingeplant ist: Prüfungsämter und AG-Leiter/innen pflegen die Illusion, dass im zweiten Staatsexamen ("Praxisexamen") eigentlich nur wirklich praxisrelevante Dinge abgefragt werden. Was natürlich ebenso gelogen ist, wie die schon während des Studiums verbreitete Behauptung, letzten Endes ließe sich jeder Fall mit ein bisschen Grundwissen, logischem Denken und gesundem Menschenverstand lösen. In Wirklichkeit ist es so, dass im zweiten Staatsexamen das Wissen aus dem ersten Staatsexamen vorausgesetzt wird, und dann kommt noch das ganze Prozessrecht dazu. Der durchschnittliche Referendar kann vor dieser Stofffülle nur tun, was er im Zweifel schon vor dem ersten Staatsexamen getan hat: kapitulieren. Er unterstreicht die jeweilige h.M. im Kommentar und nimmt seine miesen Klausurergebnisse mit einem Achselzucken hin. Wer das erste Staatsexamen schon erlebt hat, sieht nun: Eigentlich verändert sich nichts. Weder werden die Referendar/innen selbstbewusster gegenüber ihrer Materie, noch ändert sich etwas daran, dass all ihr Streben letzten Endes auf das Examen und nur das Examen gerichtet ist, noch können sie für dieses Streben am Ende eine wohlwollende Beurteilung erwarten. Es dürfte ein einmaliges Charakteristikum der juristischen Ausbildung sein, dass die meisten Auszubildenden bis zum Ende ihrer Lehrzeit das Gefühl nicht loswerden, eigentlich nichts gelernt und verstanden zu haben. Während der ganzen langen juristischen Ausbildung gibt es keinen Raum, in dem die Auszubildenden mit den juristischen Begriffen und Auslegungsmethoden einmal so kreativ umgehen könnten, wie es BGH-Richter/innen tun, ohne dafür Verständnislosigkeit zu ernten. Im Gegenteil wird die Möglichkeit, sich zwischen verschiedenen Lehrmeinungen zu entscheiden, für die Referendar/innen immer kleiner: Während die Dozent/innen an der Universität noch Wert darauf legen, dass die Student/innen umstrittene Fragen differenziert diskutieren können, geht es im Referendariat um den praxisgerechten, "eintütbaren" Entwurf, und das bedeutet: Wir machen es wie der BGH, denn damit sind wir auf der sicheren Seite.

Die Unmündigkeit der Jung-Jurist/innen

Hinzu kommt, dass die Referendar/innen aus jeder Station mit zwei Zeugnissen entlassen werden: eines von der praktischen Ausbilderin und eines vom AG-Leiter (eine rühmliche Ausnahme bildet hier Bremen, wo die Mitarbeit in der Arbeitsgemeinschaft nicht benotet wird). Diese Zeugnisse beruhen nicht auf anonymisierten Beurteilungen, wie es aus gutem Grund in den Staatsexamina der Fall ist. Im Gegenteil wird eine Beurteilung der "persönlichen Eigenschaften (Bereitschaft zur Mitarbeit, Arbeitszuverlässigkeit und Sorgfalt, Ausgeglichenheit, Kontaktfähigkeit, Durchsetzungsfähigkeit und Belastbarkeit)" ausdrücklich gefordert. Die Justiz prüft also gründlich, ob die Jung-Jurist/innen auch zu ihr passen. "Herr G versteht, Sachverhalte kritisch zu hinterfragen" steht da dann womöglich hübsch verklausuliert oder: "Herr A brachte unerklärlicherweise recht wechselhafte Leistungen" oder: "Frau W scheint sehr intelligent zu sein". Dass diese Formulierungen (wie im übrigen jede geglücktere auch) mehr darüber aussagen, ob sich Ausbilderin und Referendar verstanden haben, und dass nicht alle Ausbilder/innen die Menschenkenntnis mit Löffeln gefressen haben, versteht sich eigentlich von selbst, wird aber nicht hinterfragt.
Für die jungen Jurist/innen, die in den Staatsdienst übernommen werden, geht diese Abhängigkeit noch weiter: Sie verbringen die ersten Jahre ihrer Berufstätigkeit als Richter/Staatsanwälte auf Probe und werden von Vorgesetzten regelmäßig "überhört", wie es so schön heißt. "Überhören" bedeutet, dass die Dienstälteren sich in die Verhandlungen der Assessor/innen setzen und anschließend deren Entscheidungen prüfen und bewerten. Bis Richter/innen wirklich unabhängig sind, haben sie also viele Jahre der Abhängigkeit zu durchlaufen. Das ist für die jungen Jurist/innen frustrierend, aber für die Justiz ganz nützlich. Denn wirklich exotische Meinungen vertreten nach dieser Ausbildung nur noch die ganz Hartgesottenen.

Versöhnliches Schlusswort mit eindeutigem Appell

Man verstehe mich nicht falsch. Der Apparat feilt unablässig, doch ist er nicht entfernt so repressiv, wie es in so manchem Fachschaftsgruppenraum kolportiert werden mag. Der größte Druck entsteht durch die Sorge um Zeugnisse und Examensnoten, doch hängen letztere gerade nicht davon ab, wie sich die Referendar/innen in den Monaten zuvor benommen haben. Es ist erstaunlich, dass sich dennoch so viele der jungen Jurist/innen in vorauseilendem Gehorsam üben und sich willig zu "berufsfähigen Einheitsjuristen" formen lassen, wie das Leitbild der Ausbildung so treffend heißt. Aber wichtig zu wissen ist auch dies: Es haben Leute ihr zweites Staatsexamen bestanden, die mit buntgefärbten Haaren im Gerichtssaal aufgetreten sind, und es wird niemand aus dem Dienst entfernt, der im Falle des Totalverweigerers oder der Haschischraucherin einen Freispruch fordert. Auch das Versäumnis-Teilurteil und Schlussurteil ist nicht wirklich wichtig. Denn irgendwann ist das Referendariat auch wieder vorbei. Wer sich dann nicht wiedererkennt, ist selber schuld.

Friederike Wapler ist dem Referendariat kurz vor der Endstation in den Erziehungsurlaub entflohen. Sie lebt in Berlin. Ihre Abrechnung mit dem ersten Staatsexamen erschien in der Zeitschrift "Faust", Ausgabe 2/98.