Heft 2 / 2002:
Wach- und Schließgesellschaft
Konsequenzen der Kriminalisierungspolitik
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Zur sozialen Konstruktion von Kriminalität und Strafrecht
 

Recht ist im modernen Leben allgegenwärtig - vom einfachen Brötchenkauf, einem Blechschaden im Straßenverkehr bis hin zu einem Banküberfall: alles unterliegt rechtlichen Vorgaben und Abläufen. Das soziale Leben ist jedoch zu komplex, um immer gleich auf das Recht zurückgreifen zu können. Wer macht sich schon Gedanken darüber, wie viele einzelne Rechtsgeschäfte zum Beispiel der Brötchenkauf in sich birgt ? Das soziale Leben ist auch zu komplex, als daß alle denkbaren Ereignisse im Vorfeld durch entsprechende rechtliche Vorgaben geregelt werden könnten. Im Zivilrecht wird in Zweifelsfällen mit Analogien gearbeitet: Verträge werden ausgelegt; Richter bilden mit ihrer Rechtsprechung das Recht fort. Im Strafrecht geht dies aufgrund der einschneidenden Folgen, die mit Strafandrohung und Strafe verbunden sind nicht. So heißt es in § 1 StGB "Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde." (Grundsatz: Nulla poena sine lege - keine Strafe ohne Gesetz).

Das Strafrecht hat - JurastudentInnen erfahren dies in der Regel schon im ersten Semester im Rahmen der Einführungsveranstaltungen - fragmentarischen Charakter 1. Es gibt Lücken im Strafgesetz, die entweder vom Gesetzgeber bewußt offen gelassen, oder die einfach übersehen wurden. Einer der bekanntesten Fälle ist der des "Stromdiebstahls". Das Reichsgericht verneinte seinerzeit die Möglichkeit, den Täter zu verurteilen, mit der Begründung, daß es an einer gesetzlichen Regelung fehlte. Strom sei keine Sache im Sinne des § 242 StGB - und damit könne man daran keinen Diebstahl begehen 2. Was daraus folgte war neben dem Freispruch des Täters in diesem Anklagepunkt die spätere Einführung des § 248c StGB, um die aufgedeckte Gesetzeslücke zu schließen.

Im Strafgesetzbuch werden sehr unterschiedliche Tatbestände aufgeführt. Es geht von eher abstrakten Delikten, wie dem Landesverrat über Eigentumsverletzungen bis hin zu schwersten Angriffen auf einen Menschen in Gestalt der Sexualstraf- und Tötungstatbestände.

Schon daraus wird deutlich, daß eine Auswahl getroffen wurde, die uns, die wir mit dem Recht umgehen, selbstverständlich richtig erscheint. Ein uneingeweihter Beobachter - z. B. der für solche Fälle oft zitierte Außerirdische - könnte diese Auswahl jedoch als völlig willkürlich wahrnehmen. Das, was zum Beispiel im deutschen Strafrecht verboten ist, muß nicht in allen Rechtssystemen verboten sein - und einige Taten, die bei uns erlaubt sind, mögen in anderen Ländern unter strengste Strafen gestellt sein.

Bestimmte Taten werden - so meint man - von allen Völkern und zu allen Zeiten als strafwürdige Taten begriffen. Schon dies ist ein Trugschluß.
Zwei bewußt sehr gegensätzliche Beispiele sollen dies erläutern.

Eigentums- und Vermögensdelikte

Heute ist es in den meisten Gesellschaften selbstverständlich, daß Eigentums- und Vermögensschädigungen (schon die Unterscheidung zwischen Eigentum und Vermögen ist nicht natürlich, sondern konstruiert !) strafwürdige Handlungen darstellen.

Damit Eigentumsverletzungen als Straftaten begriffen werden können, müssen jedoch zwei Voraussetzungen erfüllt sein. Zum einen muß es überhaupt so etwas wie "Eigentum" in der entsprechenden Gesellschaftsordnung geben und zum anderen muß ein Eingriff in das Eigentum als Rechtsgutsverletzung verstanden werden. Beides ist nicht selbstverständlich.

Wie aus der Ethnologie ist bekannt, gibt es Gesellschaften, in denen persönliches Eigentum völlig fremd war bzw. ist. Jedes Mitglied eines Dorfes nimmt sich, was es gerade braucht und gibt es weiter, wenn jemand anders diesen Gegenstand benötigt. Ein "Diebstahl" (im rechtstechnischen wie im untechnischen Sinn) ist schon begrifflich ausgeschlossen, wenn jeder über alle Sachen frei verfügen kann. Möglich ist dies indes nur in sehr kleinen abgeschlossenen Einheiten, in denen es maßgeblich auf das Mit- nicht Gegeneinander ankommt.

Auch in größeren Gesellschaftsstrukturen, die das persönliche Eigentum kennen, muß die Wegnahme einer Sache jedoch nicht zwangsläufig eine Straftat sein. Das Strafrecht selbst ist alles andere als selbstverständlich. Vielmehr ist letztes Mittel wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind und die Beteiligten sich auf anderem Wege nicht mehr einigen können. Wenn das Strafrecht - also der Staat - erst einmal bemüht werden muß, ist es schwierig, einen Streit wieder zu befrieden 3.

Frühe Kulturen kamen in den meisten Fällen sehr gut ohne ein Strafrecht, d.h. ohne den Eingriff einer höheren Instanz aus. Eigentumsverletzungen wurden "zivilrechtlich" gelöst. Wer eine Sache wegnahm ohne zu bezahlen, mußte den Kaufpreis entrichten, wenn er entdeckt wurde. Wer eine Sache beschädigte, mußte sie ersetzen und ggf. zusätzlichen Schadenersatz leisten.

Mord und Totschlag

Die Tötung eines Menschen ist der schwerste denkbare Eingriff in das Recht eines anderen. Aus diesem Grunde stellte sie schon die frühen Gesellschaften vor große Probleme 4. Es war die einzige nicht wieder gut zu machende Tat, da das Menschenleben für immer und unwiederbringlich verloren war. Gleichwohl haben frühe Kulturen auch hier den "zivilrechtlichen" Weg gesucht: indem der Täter Ersatzleistungen, in Form von eigener Arbeit für die Familie des Getöteten, oder in Form von materiellen Entschädigungen beibringen mußte.

In frühen Kulturen spielte immer auch die Religion eine große Rolle. Die Tötung eines Menschen wurde mithin immer auch als Frevel gegen die Gottheit begriffen. Schon in der Bibel taucht daher immer wieder auch die Blutrache auf. Angehörige eines Getöteten mußten (dies wurde als göttliches Gebot begriffen) den Täter oder einen seiner Angehörigen töten, um das Unrecht zu sühnen. Dies artete mitunter aus und entwickelte sich zu Fehden oder gar Kriegen. Staatliches Strafrecht entstand, wo versucht wurde, die Blutrache einzudämmen. Bei Tötungsdelikten wurde verstärkt darauf gedrängt, ein staatliches (oder vielmehr: "objektives") Urteil herbeizuführen. Die Entwicklung zu einem staatlichen Strafrecht hatte im übrigen noch einen anderen, weit pragmatischeren Grund: früher hielten die Familienverbände und Dorfgemeinschaften eng zusammen. Die ganze Sippe kam dafür auf, wenn einer der Ihren Jemanden verletzt oder getötet hatte. Hinter dem Täter stand mithin eine leistungsfähige Gemeinschaft. Diese engen Familienbande ließen jedoch bald nach und es konnte passieren, daß die Geschädigten bei einem nicht leistungsfähigen Täter leer ausgingen. Deutlich wird hieraus: selbst die Tötung ist nicht immer als Straftat nach heutiger Vorstellung verstanden worden. Es geht jedoch noch weiter: nicht immer stellte (oder stellt) die Tötung ein Unrecht dar.

Bis heute gibt es Ausnahmen vom Tötungsverbot: das Töten in einer Notwehrsituation, das in allen Rechtssystemen bekannt - und straffrei - ist. Das Töten im Krieg, das besonderen Ausnahmeregelungen unterliegt. Oder das staatliche Töten in Form der Todesstrafe, die bekanntlich bis heute in mehr als hundert Staaten, darunter auch in Teilen der USA vollstreckt wird 5.

Dies läßt sich im Übrigen auch mit dem christlichen Glauben vereinbaren: das biblische Gebot "Du sollst nicht töten" (2. Mose 20, 13), ist unzutreffend übersetzt. Richtiger müßte es heißen, "Du sollst nicht ungerechtfertigt töten" 6. Auch das Christentum kennt die Notwehr. Legitimiert ist ebenso das gerechtfertigte Töten in einem Krieg 7.

Der labeling-Ansatz

Nicht nur das (Straf-)Recht selbst unterliegt einem beständigen Wandel. Das Gleiche gilt auch für das Verständnis von Kriminalität. Gesellschaftliche Veränderungen zeigen sich nicht zuletzt auch in den wissenschaftlichen Erklärungsversuchen, den Kriminalitätstheorien.

Eine der bekanntesten und lange Zeit auch umstrittensten Kriminalitätstheorien ist der labeling (Etikettierungs-) Ansatz, der aus den USA kommend in den späten 60er Jahren von Fritz Sack in die deutsche Kriminologie eingeführt wurde 8.

Der labeling-Ansatz weist deutliche Parallelen zu konstruktivistischen Ideen auf, auch wenn sich z.B. Hess und Scheerer in ihrer "konstruktivistischen Kriminalitätstheorie" sehr kritisch gegenüber dieser Theorie äußern 9.

Sack geht davon aus, daß es so etwas wie "Kriminalität" objektiv nicht gibt, sondern es sich hierbei um einen Zuschreibungsprozeß handelt. Kriminalität wird als eine Art negatives Gut verstanden, daß ähnlich wie andere Güter (Besitz, Geld, Privilegien) verteilt wird. Niemand ist kriminell, sondern er oder sie wird von Dritten zu einem/ einer Kriminellen gemacht. Es handelt sich dabei um eine Interaktion zwischen dem als kriminell Begriffenen und den staatlichen Behörden. Die kriminologische Forschung hat hierbei besonders zwei Gruppen herausgegriffen: die Polizei, die selektiv ermittelt und damit schon durch ihre Ermittlungen bestimmt, wer in das Schema "kriminell" fällt 10 und die Gerichte, die das Geschehen bewerten und letztenendes das Etikett "kriminell" vergeben 11.

Das Strafrecht ist lückenhaft; doch nicht nur dieses. Auch die Strafverfolgungsbehörden arbeiten "lückenhaft", nämlich selektiv. Neben dem "Kernstrafrecht" gibt es immer wieder Delikte, die besonders in das Blickfeld der Öffentlichkeit geraten und die dann verstärkt verfolgt werden. Zur Veranschaulichung mag hierzu die Drogenpolitik dienen:

In regelmäßigen Abständen wird in Deutschland vor "neuen" Drogen gewarnt. Nach LSD und Ecstasy ist dies in jüngster Zeit insbesondere Crack. Fahndungsmaßnahmen der Polizei werden an den vermeintlichen Umschlagplätzen verstärkt.

Je stärker die Polizeimaßnahmen, desto eher werden auch Fahndungserfolge erzielt. Drogenkriminalität ist eines der wenigen "opferlosen" Verbrechen. Bestraft werden hier nicht nur die Händler, sondern auch die KonsumentInnen. In den USA rief man zu Zeiten der Reagan-Regierung gar einen "war on drugs" aus, mit der Konsequenz, daß die Inhaftiertenzahlen in den USA in unglaubliche Höhen geschnellt sind 12. In den Gefängnissen aller westlichen Industrienationen befinden sich zu einem überwiegenden Teil Menschen, die dort aufgrund von Drogenkontakten (Handel, Gebrauch, Besitz) inhaftiert sind. Drogenstraftaten werden als Delikte gegen die Allgemeinheit begriffen. Die Frage ist dabei jedoch

1. Wer wird eigentlich geschädigt?
und
2. Stehen die Strafandrohungen bei Drogendelikten im Verhältnis zu anderen Straftaten?

Gerade im Bereich der Drogenkriminalität und ihrer Verfolgung zeigen sich die konstruktivistischen Ansätze sehr deutlich. Es wird jeder kriminalisiert, der oder die mit Drogen in irgendeiner Form zu tun hat. Die Liste der verbotenen Substanzen wird beständig erweitert. Viele heute als "harte Drogen" verfolgte Substanzen waren noch bis in das frühe 20. Jahrhundert hinein als Medizin gebräuchlich. Dies gilt insbesondere für Kokain und Opiate, aber auch für die "weiche" Droge Cannabis. Schon diese Einteilung in harte und weiche Drogen entbehrt jeder wissenschaftlichen Grundlage: sie ist konstruiert, um die Gefährlichkeit bestimmter Substanzen zu betonen und das Drogenstrafrecht - nebst kostenintensiver Ermittlungstätigkeit - zu legitimieren.

Der Strafrahmen des Betäubungsmittelgesetz ist im Vergleich zu Straftaten aus dem allgemeinen Strafrecht deutlich überhöht. Dies signalisiert den Anspruch des Staates, hart gegen die Drogenkriminalität durchzugreifen und macht gleichzeitig die besondere Gefährlichkeit der Drogen schwarz auf weiß sichtbar.

Labeling und Konstruktivismus

Das Verhältnis von Labeling Ansatz und Konstruktivismus (bzw. konstruktivistischer Kriminalitätstheorie) ist seit der Kontroverse um den Text von Hess/Scheerer 13 in der Kriminologie höchst umstritten. Hier stehen sich jedoch zwei Theorien "feindlich" gegenüber, die sich im Grunde sehr ähnlich sind und einander ergänzen können.

Beide Theorien verfolgen dasselbe Ziel: Kriminalität nicht als etwas vorgegebenes, sondern als etwas (von der Gesellschaft) Geschaffenes zu begreifen. Niemand ist - quasi von Natur aus - kriminell, sondern wird doch Normen, Gesetze oder die gesellschaftlichen Umstände zu einem Kriminellen gemacht. Dabei begreift der Labeling Ansatz die Kriminalität als Etikett, während der Konstruktivismus noch einige Schritte weitergeht und auch den gesellschaftlichen Rahmen als etwas konstruiertes versteht.

Konstruierte Kriminalität?

Der Konstruktivismus tritt in vielen verschiedenen Varianten auf, die sich oftmals nur marginal unterscheiden. Hierbei kommt es nicht zuletzt auch darauf an, welcher Wissenschaft der oder die VertreterIn des Konstruktivismus sich ursprünglich zurechnet. Knorr-Cetina 14 faßt in ihrem Aufsatz drei große Richtungen des Konstruktivismus zusammen, es gibt jedoch noch mehr. Am bekanntesten ist dabei wohl der radikale Konstruktivismus in der Anwendung von Ernst von Glasersfeld 15 oder auch Paul Watzlawick 16.

Zusammengefasst läßt sich festhalten: der radikale Konstruktivismus geht davon aus, das es eine objektive Wirklichkeit nicht gibt. Alles, was der Mensch wahrnimmt und als "Wirklichkeit" versteht ist durch seine Wahrnehmung, seine Erfahrungen und seinen individuellen Hintergrund geprägt 17.

Im sozialen Konstruktivismus/ Konstruktionismus (bekannt geworden vornehmlich durch Berger und Luckmann 18) geht man ebenfalls davon aus, daß es eine objektive Wirklichkeit nicht gibt. Hier ist es jedoch die Gesellschaft (also das soziale Umfeld) durch die eine kollektive Wirklichkeit erschaffen wird 19.

Für die Kriminalität bedeutet dies : kriminell ist das, was wir mit unserer Wahrnehmung dazu machen (siehe dazu auch den Satz "nullum crimen sine lege" = kein Verbrechen ohne Gesetz). Es gibt keine Taten, die von vornherein als kriminell klassifiziert werden könnten, ja nicht einmal Taten, die grundsätzlich als "abweichend" zu gelten hätten. Wo es z.B. kein Eigentum gibt, ist es normal, einem anderen eine Sache "wegzunehmen", wenn man sie braucht, und sie sich dann wieder "wegnehmen" zu lassen.

Das Etikett "kriminell" beinhaltet eine Wertung. Kriminalität ist (ebenso wie abweichendes Verhalten) etwas Schlechtes. Das Etikett dient dazu, die betroffene Person aus- und uns von ihr abzugrenzen.

Hanak, Stehr und Steinert 20 haben in ihrer Untersuchung festgestellt, daß es auch heute eine Vielzahl von Ereignissen gibt, die objektiv unter einen Straftatbestand zu subsumieren wären, die von den Betroffenen jedoch nicht als Straftat wahrgenommen werden. Zu einer kriminellen Handlung wird ein Ereignis jedoch nur dann, wenn es als solches erkannt wird. Am deutlichsten wird dies, wenn man sich den weiteren Verfahrensablauf ansieht: nur eine Tat, die als kriminell wahrgenommen wird, wird angezeigt und gelangt den staatlichen Behörden zur Kenntnis. Diese wiederum setzen daraufhin Ermittlungen in Gang, die im weiteren Verlauf zu Anklage, Verurteilung und Vollstreckung führen können. Erst dann "paßt" auch das Etikett: mit der Verurteilung wird aus dem Täter ein "Krimineller". Er wird fortan als solcher begriffen und über die Tat definiert: als Mörder, als Dieb, als Kinderschänder usw. Die Grafik mag diesen Prozeß der Konstruktion von Kriminalität veranschaulichen.

Die gesellschaftliche Bedeutung der Kriminalität

Kriminalität hat für die Gesellschaft mehrere Bedeutungen:
Die Konstruktion von Kriminalität konstruiert auch Integration und Ausschließung. Die Gesellschaft kann mit dem Begriff "Kriminalität" nach altmodischem Muster in zwei Kategorien - schwarz und weiß, kriminell und nicht-kriminell - unterschieden werden. Der soziale Ausschluß ist für eine Gesellschaft aus mehreren Gründen bedeutsam 21:

- die Existenz von "Ausgeschlossenen" stärkt den Zusammenhalt der Gruppe. Man grenzt sich von anderen ab und schafft dadurch ein Wir-Gefühl derjenigen, die dazugehören.
- Indem es "Ausgeschlossene" gibt, schafft man sich eine Gruppe, der man die Schuld an Mißständen, Ungerechtigkeiten und ähnliches zuschieben kann. Die Ausgeschlossenen fungieren als eine Art "Sündenbock".
- Der soziale Ausschluß dient auch dazu, knappe Ressourcen zu verteilen: diejenigen, die dazugehören haben teil daran, während die Ausgeschlossenen von den gesellschaftlichen Gütern ferngehalten werden.

Kriminelle werden aus der Gemeinschaft ausgeschlossen, während diese ihnen gegenüber enger zusammenhält. Am deutlichsten wird diese Ausgrenzung durch den Einschluß: die Inhaftierung Straffälliger, ist das sicherste Mittel, sie (vorübergehend) aus der Gesellschaft und von der Teilnahme an ihren Ressourcen auszuschließen 22.

Kriminalität ist gerade in der jüngsten Zeit zu einem wichtigen politischen Thema geworden. Jede Partei wirft der anderen vor, zu "lasch" im "Kampf" gegen die Kriminalität zu sein und geht damit auf Stimmenfang unter den WählerInnen. Die Ergebnisse der letzten Wahl in Hamburg zeigen sehr deutlich, daß dies ein Konzept ist, das aufgeht. Kriminalität ist in der öffentlichen Diskussion ein allgegenwärtiges Thema. Gerade dadurch, daß viele Menschen mit der wirklich schweren Kriminalität gar nicht in Berührung kommen, wird eine irrationale Angst gefördert.

Kriminalität erfüllt - dies macht ein Blick in die USA deutlich - noch einen anderen wichtigen Zweck: sie ist ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. Kriminalität produziert Kriminalitätsfurcht 23. Hieraus folgt ein erhöhtes Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung. Und diese wiederum bringt eine ganze Industrie zutage: von privaten Sicherheitsunternehmen über Firmen, die Überwachungstechnik herstellen und montieren bis hin zu großen Konzernen, die ganze Haftanstalten bauen und privat betreiben. Firmen wie die "Corrections Corporation of America" (CCA) oder "Wackenhut" errichten in den USA (vornehmlich in ländlichen Gegenden) hochmoderne, große Haftanstalten und vermieten - wie ein Hotel - Zellen an die Vollzugsbehörden. Von der Errichtung der Haftanstalten bis hin zu Betrieb untersteht alles der Leitung dieser Firmen. Der Staat hat keine Probleme beim Bau von Haftanstalten, er hat damit nichts zu tun; die Gegenden, in denen sie errichtet werden, erleben eine regelrechten wirtschaftlichen Boom durch Hunderte von Vollzugsmitarbeitern, die herziehen, Besucher, die übers Wochenende kommen um inhaftierte Angehörige zu besuchen usw. Lange Zeit galten die entsprechenden Firmen auf den Aktienmärkten als Geheimtipp (mittlerweile hat auch in diesem Bereich die Börsenrezession eingesetzt). Kriminalität ist auf diese Weise zu einem wichtigen Motor der Gesellschaft geworden und erscheint unverzichtbar.

Fazit

Das Konzept der sozialen Konstruktion kann auch für die Kriminologie wertvolle Impulse geben. Recht ist ebenso wie die Kriminalität sozial konstruiert, d.h. von der Gesellschaft nach ihren Bedürfnissen (um nicht zu sagen: nach ihrem Bild) erschaffen. Dies ist Ausgangspunkt einer Reihe kriminologischer Theorien, die größten Teils der "kritischen Kriminologie" zuzurechnen sind.

Erschwert wird eine sachliche Diskussion jedoch zum einen durch eine unnötige Kontroverse zwischen Vertretern des Labeling Ansatzes und der Konstruktivistischen Theorie 24. Beide sind sich viel zu ähnlich, als daß hier tatsächlich Raum für einen theoretischen Disput ist. Vielmehr können - ja müssen - sich die unterschiedlichen kriminologischen Theorien an diesem Punkt ergänzen.

Zum anderen erschwert der Konstruktivsmus selbst jedoch die Diskussion. Er ist zwischenzeitlich, wie z.B. Hacking 25 darlegt, zu einer "Kampfvokabel in den Wissenschaften" geworden, der als "neue Theorie" überall eingesetzt wird. Hierbei darf nicht übersehen werden, daß der Konstruktivismus tatsächlich in den meisten Wissenschaften - so auch in der Kriminologie - produktiv eingebracht werden kann.

Kai Bammann ist Diplom-Kriminologe und Jurist sowie wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni Bremen.

Anmerkungen:

1 Naucke Strafrecht 2001, § 2 Rz. 13.
2 Vgl. dazu RGSt 29, S. 111, 116 und RGSt 32, S. 165, 186 f.
3 Röhl/ Röhl DRiZ 1979, S. 33 ff.; Vgl. auch Christie 1995.
4 Vgl. hierzu und zum Folgenden Bammann 2002 m.w.N.
5 Vgl. Müller, Streitfall Todesstrafe 1998.
6 Vgl. Wolbert Du sollst nicht töten, 2000, S. 8 ff.
7 Vgl. Wolbert ebd., S. 25 ff., 62 ff.
8 Sack 1968, Vgl. auch Lamnek, Theorien abweichenden Verhaltens 1, 1993, S. 216 ff., kritisch Fischer KrimJ 2001, S. 102 ff.
9 Hess/ Scheerer 1997.
10 z. B. Feest/ Blankenburg Die Polizei, 1975.
11 z. B. Löschper, Bausteine für eine psych. Theorie richterlichen Urteilens, 1995.
12 Vgl. hierzu auch das Beispiel bei Hallinan Going up the River, 2001, S. 39 ff.
13 Hess/ Scheerer 1997; vgl auch die folgenden Hefte des KrimJ 1997.
14 Knorr-Cetina 1989.
15 Glaserfeld 1985, ders. 1987, ders. 1995.
16 Watzlawick 1985.
17 Vgl. auch in komprimierter Darstellung Tomaschek 1999.
18 Berger/ Luckmann 1980.
19 Vgl. auch Knorr-Cetina, 1989, S. 82 f.
20 Hanak/ Stehr/ Steinert, Ärgernisse und Lebenskatastrophen 1989.
21 Vgl. dazu Bammann 2001; Bammann KrimJ Heft 2/2002, im Erscheinen.
22 Bammann, in Reindl/ Nickolai; Vgl. auch die weiteren Beiträge in diesem Sammelband.
23 Vgl. Boers, Kriminalitätsfurcht 1991.
24 Vgl. dazu die Hefte des KrimJ aus 1997.
25 Hacking, Soziale Konstruktion von was? Frankfurt 2000.

Literatur:

Bammann, Kai: Im Bannkreis des Heiligen. Freistätten und kirchliches Asyl als Geschichte des Strafrechts, Münster und Hamburg 2002, im Druck.
Berger, Peter L./ Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a. M. 1980 (Original: New York 1966)
Christie, Nils: Konflikte als Eigentum, in: ders.: Grenzen des Leids, 2. Aufl., Münster 1995, S. 131-152
Glasersfeld, Ernst von: Konstruktion der Wirklichkeit und des Begriffs der Objektivität, in: Einführung in den Konstruktivismus, München 1985
Glasersfeld, Ernst von: Wissen, Sprache und Wirklichkeit, Braunschweig 1987
Glasersfeld, Ernst von: Radical Constructivism. A way of Knowing and Learning, London 1995
Hess, Henner/ Scheerer, Sebastian: Was ist Kriminalität? Skizze einer konstruktivistischen Kriminalitätstheorie, in: Kriminologisches Journal 1997, S. 83-155
Knorr-Cetina, Karin: Spielarten des Konstruktivismus. Einige Notizen und Anmerkungen, in: Soziale Welt 1989, S. 81-96
Nickolai/ Werner/ Reindl, Richard: Sozialer Ausschluß durch Einschluß. Strafvollzug und Straffälligenhilfe zwischen Restriktion und Resozialsierung, Freiburg i. Br. 2001
Sack, Fritz: Neue Perspektiven in der Kriminologie, in: ders./ König, Rene: Kriminalsoziologie, Frankfurt a. M. 1968, S. 431-475
Tomaschek, Nino: Der Konstruktivismus. Versuch einer Darstellung der Konstruktiv(istisch)en Philosophie, Regensburg 1999
Watzlawick, Paul: Wirklichkeitsanpassung oder angepaßte "Wirklichkeit"? Konstruktivismus und Psychotherapie, in: Einführung in den Konstruktivismus, München 1985