Heft 2 / 2002:
Wach- und Schließgesellschaft
Konsequenzen der Kriminalisierungspolitik
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Susanne Benöhr 1 Zum ersten Artikel des Schwerpunkts Zum ersten Artikel des Forums Zur Rubrik Ausbildung Zur Rubrik Recht kurz Zum Sammelsurium Zur Rubrik Politische Justiz Zur BAKJ-Seite
Rezension
 

Diana Schulle:
Das Reichssippenamt. Eine Institution nationalsozialistischer Rassenpolitik,
Logos-Verlag, Berlin 2001, Euro 40,50

Bereits das Eingangskapitel in Diana Schulles Studie über "Das Reichssippenamt" lässt aufmerken. In der Tat untersucht die Autorin nicht nur die Struktur eines Amtes, dessen Aufgabe darin bestand, die nationalsozialistische Rassenpolitik umzusetzen. Es gelang ihr darüber hinaus, den ersten Amtsleiter zu befragen. So ist ein überaus aufschlussreiches Portrait der Gedankenwelt eines Intellektuellen aus gutem Hause entstanden, der sich auf seine Art mit dem Judentum beschäftigte.

Das "Reichssippenamt" und seine Vorläuferbehörden, das Amt des "Sachverständigen für Rasseforschung beim Reichsminister des Innern" und die "Reichsstelle für Sippenforschung" sind in der Vergangenheit kaum erforscht worden. 2 Über die Gründe kann man spekulieren, sicher spielt jedoch das schwierige Konglomerat aus staatsorganisatorischen, verwaltungsrechtlichen, beamtenrechtlichen, politischen und nicht zuletzt historischen Fragen eine Rolle. Diana Schulles Analyse umfasst hauptsächlich die Entstehung, die Querverbindungen, den Aufgabenkreis, die Arbeitsorganisation, die ideologische Motivation und nicht zuletzt die Hauptakteure der bezeichneten Ämter. Demzufolge wird derjenige nicht fündig, der eine detaillierte Schilderung des pseudowissenschaftlichen Procedere der nationalsozialistischen "Rassendiagnostik" sucht.

Der Zuständigkeitsbereich des "Sachverständigen für Rasseforschung beim Reichsminister des Innern" ergab sich zunächst aus § 3 des "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums", wonach ein Beamter "nicht arischer" Abstammung in den Ruhestand zu versetzen sei. Folglich erstreckte sich die Tätigkeit im wesentlichen darauf, die staatstragende Beamtenschicht und ab Sommer 1933 auch ihre Ehepartner auf "fremdblütige Bestandteile" zu kontrollieren, was mit Hilfe von Ahnenlisten geschah. 3 Gegenstand des Interesses waren in erster Linie die Beschäftigten der Stammbehörde, des "Reichsministeriums des Innern". Andere Ämter sollten nur in Zweifelsfällen Abstammungsgutachten einholen.

Angesichts der zunehmenden Bedeutung der Sippenforschung für die "Ariergesetzgebung" vergrößerte sich der Aufgabenbereich entsprechend. Die Dienststelle stieg u.a. zur allein zuständigen Stelle bei der Durchführung der "Nürnberger Gesetze", der Überprüfung von NSDAP-Mitgliedern, für Zweifelsfälle über die rassische Einordnung sowie für Entscheidungen hinsichtlich der Abstammung nach rassekundlichen Untersuchungen bei anthropologischen Untersuchungen empor. 4 Im Zuge der Konstitution des "Reichssippenamtes" im Jahre 1939 erfolgte schließlich der Aufbau von "Gau- und Landessippenämtern". Ferner wurden Zweigstellen in Wien, Prag und Luxemburg eingerichtet. Bis zum Ende des Krieges ist das "Reichssippenamt" eine funktionsfähige Behörde gewesen, was allein die Erstellung von 525 Gutachten im Jahre 1945 unter Beweis stellt. 5

Dies ist jedoch nur der vordergründige Eindruck. Diana Schulle zeigt in ihrer Analyse, dass sich das "Reichssippenamt" in dem bereits von Fraenkel 6 dargestellten doppelstaatlichen Geflecht verfing. Im Laufe der Jahre hatte sich eine wahre "Rasseforschungshysterie" herauskristallisiert, in der jeder eigenmächtig agierte. In einem Durcheinander von Kompetenzen auf staatlicher, parteilicher und nicht zuletzt kirchlicher Führungsebene wurde zum Teil in Zweifelsfällen selber geurteilt bzw. das "Reichssippenamt" gar nicht informiert. Dies war nicht zuletzt auch deswegen möglich, weil das "Sippenamtsgesetz" 1937 per Führerbefehl zurückgezogen wurde. 7 Das Amt bewegte sich damit im gesetzlosen Raum. Trotz dieses Zustandes dürfte die Zusammenarbeit zwischen kirchlichen, staatlichen und parteilichen Stellen reibungslos funktioniert haben, wie insgesamt 151.898 Abstammungsbescheide in zwölf Jahren belegen. 8 Nach der Reichspogromnacht vom 9. November 1938 ergab sich außerdem die Gelegenheit, das Gesamtarchiv der deutschen Juden zu nutzen. Nunmehr konnte die Gegenkontrolle durchgeführt werden. Wer in den Kirchenbüchern nicht geführt wurde, war höchstwahrscheinlich in den Unterlagen der jüdischen Gemeinde verzeichnet. Spätestens nach der Wannseekonferenz wurde das "Reichssippenamt" zu einem ausgesprochen effektiven Zuarbeiter für die Vernichtungsmaschinerie. Dabei galt bis zum Kriegsende den jüdischen Registern die ganze Aufmerksamkeit. Mit Hilfe von Mikroverfilmungen, also modernster Technik, wurde ihrer Fixierung Priorität eingeräumt.

Diana Schulles Buch ist aufschlussreich, faktenreich und angesichts der eher spröden Materie sehr eingängig geschrieben. Die Autorin seziert exakt Schicht für Schicht das Innenleben des "Reichssippenamts" und seiner Vorläufer. Dennoch bleiben Fragen. Und nicht zuletzt das Schlusswort sorgt für einen dissonanten Klang. Der Leser bleibt ratlos zurück, wenn die letzte Passage in diesem wichtigen Buch dem Leiter des "Reichssippenamtes" gewidmet ist. Was mag sich die Autorin gedacht haben, als sie konstatiert, dass dieser im Mai 1945 erkannte, "dass sich seine Erwartungen, Wünsche und Ziele abrupt in Nichts auflösten. Alles wofür er gekämpft und gelebt hatte, war schlagartig bedeutungslos, mehr noch es kehrte sich gegen ihn." 9 Ganz davon einmal abgesehen, dass dieses Schicksal Millionen Menschen traf, deren Unheil unter einem anderen Vor-"Zeichen" stand, so war es sein vornehmliches Lebensziel der nationalsozialistischen Rassenpolitik zum Erfolg zu verhelfen.

Susanne Benöhr ist promovierte Staats- und Verwaltungsrechtlerin. Sie lebt und arbeitet in Bremen.

Anmerkungen:

1 Erstveröffentlichung in www.eforum-zeitgeschichte.at im November 2001.
2 Vgl. Seidler, Horst/Andreas Rett: Das Reichssippenamt entscheidet. Rassenbiologie im Nationalsozialismus, Wien 1982.
3 Schulle 2001, S. 9, 74, 376.
4 Schulle 2001, S. 163, 164.
5 Schulle 2001, S. 373.
6 Fraenkel, Ernst: Der Doppelstaat, Frankfurt/Main-Köln 1974.
7 Schulle 2001, S. 272.
8 Schulle 2001, S. 272.
9 Schulle 2001, S. 170.
10 Schulle 2001, S. 382,383.