Heft 4 / 2002:
Aus dem Westen was Neues
Interessenpolitik durch Rechtsexport
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Jean-Claude Alexandre Ho Zum ersten Artikel des Schwerpunkts Zum ersten Artikel des Forums Zur Rubrik Recht kurz Zum Sammelsurium Zur Rubrik Politische Justiz Zur BAKJ-Seite
Die Rezeption fremder Rechte in Vietnam
 

"Auf Ausdrücke fremder Herkunft zurückzugreifen erscheint mir nicht besonders extravagant. Wir haben Dollar, okay, garei entlehnt und dann vietnamisiert: dô la, ô kê, nhà ga. Diese Anleihen haben die vietnamesische Sprache nur bereichert."ii Was der vietnamesische Anwalt am Pariser Berufungsgericht Nguyên Gia Khan über die vietnamesische Sprache sagt, kann teilweise auch auf das vietnamesische Recht übertragen werden.
Das Land in Südostasien war tausend Jahre chinesischer Kolonisation ausgesetzt und stand nach einer Zeit in Unabhängigkeit noch hundert Jahre lang unter französischer Kolonialherrschaft. Dann wurde der Kommunismus dominierend und muss sich heute gegen die Globalisierung behaupten. All diese Einflüsse haben sich mehr oder weniger stark sowohl in der Sprache als auch im Recht niedergeschlagen.

Die konfuzianische Ethik nach tausend Jahren chinesischer Herrschaft

111 v. Chr. unterwarf das chinesische Kaiserreich seinen südlichen Nachbarn Vietnam. Blieb es anfangs noch bei einem Protektorat, wobei die lokalen Institutionen und Bräuche respektiert wurden, so kam Vietnam nach Aufständen von 40 bis 43 n. Chr. unter direkte chinesische Verwaltung. Die vietnamesische Oberschicht wurde daraufhin sinisiert.
Im Zuge dieser Assimilationspolitik wurde die chinesische Schrift (chu Han) eingeführt, die bis zum 13. Jahrhundert allein vorherrschend blieb. Erst dann entwickelte das vietnamesische Volk auf der Grundlage der vietnamesischen Sprache eine eigene nationale Schrift (chu Nôm), die sich an die chinesischen Schriftzeichen anlehnte. Beide Schriftsysteme wurden bis zum 20. Jahrhundert parallel benutzt. Chinesisch war in erster Linie Schriftsprache in Literatur und Wissenschaft, ferner war es bis Mitte der 1920er Jahre Verwaltungssprache. Die Exemplare früher vietnamesischer Kodices wurden von den Chinesen nach China geschafft und dort zerstört, um das rechtskulturelle Erbe Vietnams zu vernichten und so die Assimilation zu vollenden.
Vor allem ist aber der Einfluss der konfuzianischen Ethik hervorzuheben, den China zur Beherrschung des Landes ausnutzte. Der Konfuzianismus mit seiner patriarchalischen Herrschaftsstruktur ersetzte die ursprünglichen, eher matriarchalischen Sitten und Gebräuche. Noch bis heute wirkt diese Doktrin unterschwellig fort.

Die Unabhängigkeit von China errangen die VietnamesInnen schließlich 939 n. Chr, auch wenn die vietnamesischen Herrscher formell lehnspflichtig blieben und der Einfluss Chinas nicht unterbrochen wurde. So hat die Dynastie der Lê (1428 - 1788) von den chinesischen Ming-Kaisern unter anderem den zentralen Staatsaufbau und die neokonfuzianische Staatsdoktrin übernommen, um nach deren Vorbild ihre Herrschaft zu konsolidieren.iii Augenfälliges Merkmal ist dabei die Rekrutierung der Beamten (Mandarine) aufgrund einer literarischen Auswahlprüfung, bei der die Lehren des Konfuzius abgefragt und Gedichte gefordert wurden. Erst unter der französischen Kolonialherrschaft sollten diese Wettbewerbe abschafft werden.
Außerdem ließen die vietnamesischen Herrscher verschiedene Gesetzeswerke entwickeln, die mehr oder weniger von China beeinflusst waren. Während der Kodex der Lê (1468) sich zwar in gewissem Maße an den chinesischen Kodex der Tang (653) anlehnte, aber doch eigenständige Elementen enthielt, war der Kodex der Nguyen (1813) eine an vietnamesische Verhältnisse angepasste Kopie des chinesischen Kodex der Tsing (1646/1740). So taucht beispielsweise die vorteilhafte Stellung der Frau im ersten Kodex im späteren nicht mehr auf.
Die Kodices der Tang und der Lê enthielten trotz ihrer Benennung als Strafgesetzbücher Regeln anderer Rechtsgebiete und sind so als allgemeine Gesetzbücher anzusehen,iv vergleichbar der deutschen Carolina, der Strafprozessordnung von Karl V. Der Kodex der Nguyen oder auch Code Gia-Long wurde schließlich unter der französischen Kolonisation 1880 vom Code pénal und 1883 vom Code civil Frankreichs ersetzt.
Trotz der gescheiterten Assimilation hat sich der chinesische Einfluss - wie gezeigt - halten können, was sich als verhängnisvoll erweisen sollte. Gerade das Beharren der Nguyen-Kaiser auf dem Konfuzianismus und der damit einhergehende Rückzug auf sich selbst nach dem Vorbild Chinas beraubte Vietnam wirksamer Verteidigungsmöglichkeiten gegen die Franzosen. Mitte des 19. Jahrhunderts kam es in Vietnam zu einem Verbot der christlichen Religion, weil sie die Fundamente der konfuzianischen Moral- und Sozialordnung, und damit die Autorität des Kaisers zu untergraben drohte. Außerdem waren die Christen der Parteinahme für Frankreich verdächtig. Die Christenverfolgung nahm Frankreich als Anlass, die Religionsfreiheit durchzusetzen, und als Vorwand, um schrittweise ihre Herrschaft in Vietnam zu konsolidieren.

Die zivilisatorische Mission der französischen Kolonialisation

Den Anfang der französischen Kolonisation markiert ein Protektoratsvertrag, doch schon ein paar Jahre später, 1883, stand Vietnam teilweise unter direkter französischer Herrschaft.
Der chinesische Einfluss in Recht und Kultur wurde durch den französischen abgelöst. Schon vor Beginn der französischen Kolonisation hatte sich der französische Einfluss in der Sprache niedergeschlagen. Denn die vietnamesische Sprache verdankt ihre Transkription in lateinische Schrift dem französischen Jesuiten Alexandre de Rhodes (1593-1660), der dabei auf die Arbeit seiner portugiesischen Missionarskollegen Gaspar de Amaral und Antonio de Barbosa zurückgreifen konnte. 1651 veröffentlichte er das "Dictionnarium annamiticum, lusitanum et latinum". Die Nationalschrift (Quoc ngu) sollte in erster Linie der Verbreitung des Katholizismus in Vietnam dienen, aber das vietnamesische Volk ist de Rhodes heute noch dankbar dafür, denn ohne diesen Missionar wäre es schwierig gewesen, sich von der chinesischen kulturellen Umklammerung zu lösen. Das lateinische und damit französische Alphabet wurde freiwillig rezipiert, quasi als Kontrapunkt zur Jahrtausende alten Domination durch China. Doch erst 1945 sollte die Nationalschrift offiziell zur vietnamesischen Schrift erklärt werden. Die Einfachheit der Schrift ermöglicht das schnelle Erlernen der Sprache und transportiert so Wissen. Damit spielt es eine wichtige Rolle für die nationale Einheit. v
Für die Frankreich war die Sprache zunächst Bestandteil seiner Assimilationspolitik. In den Schulen wurde Vietnamesisch nicht mehr mit den sino-vietnamesischen Schriftzeichen unterrichtet, sondern durch das latinisierte Vietnamesisch (Quoc ngu) ersetzt. Französisch wurde neues Schulfach. Während der gesamten Kolonialzeit war Französisch die Sprache der Verwaltung.

Beherrscht wurde das Wirtschaftsleben von einigen zehntausend Europäern, die zusammen mit der Verwaltung das Land regierten und sich alle Entscheidungen vorbehielten. Die Verwaltung diskriminierte die einheimische Bevölkerung. Frankreich, nach eigenem Anspruch der Champion der Menschenrechte, verweigerte dem vietnamesischen Volk jene Grundrechte, die es seiner eigenen Bevölkerung gewährte. Es herrschte eine Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit, obwohl die Franzosen neben ökonomischen Gründen gerade eine vorgebliche zivilisatorische Mission zur Kolonisation trieb. So besteht noch heute die Aufgabe des "Service des Affaires étrangères et internationales"vi im Bereich der juristischen Kooperation darin, den Einfluss des französischen Rechts zu verteidigen und sein Ausstrahlen zu fördern.
Frankreich stieß aber keineswegs auf vom Recht unberührtes Land, sondern auf eine Tradition des geschriebenen Rechts. Das erleichterte eine Rezeption des französischen Rechts. In den afrikanischen Kolonien beispielsweise konnte die französische Verwaltung, anders als in Vietnam, die Kodifikation des Rechts nur begrenzt durchsetzen, was auf die mehr gewohnheitsrechtliche und mündliche Rechtstradition Afrikas zurückgeführt werden kann.
Für die Kodifikationspolitik hatten die Franzosen in ihren Kolonien das Strafgesetzbuch als trojanisches Pferd vorgesehen, um ihr Recht durchzusetzen. Nach einem anonymen Bericht der französischen Kolonialverwaltung "bestand zu allen Zeiten der erste Akt der Eroberung darin, dem Besiegten das Strafgesetz des Siegers aufzuzwingen. Der Eroberer muss Herr über die Strafjustiz sein, um seine Sicherheit zu gewährleisten und seine Herrschaft durchzusetzen."vii Außerdem zieht der Erlass des Strafgesetzes den Erlass anderer Gesetzbücher mit sich.
Verschiedene Versuche scheiterten, den Code Gia Long einfach durch den französischen Code pénal zu ersetzen. Waren die Kolonialherren anfangs noch der Ansicht, dass das Moralgesetz für alle Länder gleich ist,viii setzte sich Schritt für Schritt die Erkenntnis durch, dass man eben doch die örtlichen Gegebenheiten berücksichtigen und das fremde Gesetz daran anpassen muss.
Ein Graben trennte Rechtsinstitute und Rechtsverständnis in Frankreich und in Vietnam. Unterschiede sind beispielsweise im strafrechtlichen Verständnis der Täterschaft zu sehen. Die AnnamitInnen (so wurden die VietnamesInnen in der damaligen Zeit genannt) sahen es zum Beispiel als unmöglich an, den ältesten Sohn als Mittäter an der Tat seines Vaters zu werten, da der Sohn eine Gehorsamspflicht dem Vater gegenüber hat.
Augenfällig ist vor allem die Forderung der vietnamesischen Bevölkerung, doch mehr mit "Herz" zu urteilen und weniger nach dem Gesetzbuch. Diese vietnamesische Tradition der patriarchalischen Gerechtigkeit stößt mit der westlichen Konzeption zusammen, die im gesetzten Strafrecht eine Schranke gegen Willkürherrschaft sieht. Ein Affront gegen den "nulla poena sine lege" - Grundsatz, Errungenschaft der französischen Revolution und heute unbestritten von Verfassungsrang.
Auch im Bereich des Zivilprozesses sollte die Implementierung westlicher Ideen mit den althergebrachten einheimischem Mechanismen, gerade im Verhältnis zwischen den Rechtsuchenden und den Richtern, kollidieren. Schließlich erschien es den Kolonialherren auch für die Sicherheit ihrer Herrschaft empfehlenswert, alles so weit möglich beim alten zu lassen.ix Doch das sollte nichts nutzen, denn 1954 endete definitiv die französische Kolonialherrschaft nach dem Fall der französischen Festung Dien Bien Phu im Norden Vietnams.

Kommunismus und Globalisierung (die " Doi Moi "-Politik)

Zwei Staaten entstanden auf dem Territorium Vietnams: Während der Norden unter sowjetischem und volkschinesischem Einfluss stand, war im Süden amerikanischer Einfluss vorherrschend. Maßgeblich war der politische und militärische Einfluss der USA. Denn rechtlich gesehen wurde zwar eine Verfassung nach amerikanischem Vorbild 1956 verabschiedet, doch war Süd-Vietnam mit dem Segen der USA ein autoritärer Staat. Wie schon bei Frankreich ist eine Diskrepanz zwischen Anspruch ("Verteidigung der freien Welt") und Wirklichkeit festzustellen.
Nach dem Sieg des Nordens über den Süden wurde Vietnam 1975 unter dem Zeichen des Kommunismus vereinigt. Schon vorher hatte der Norden ein kommunistisches Staats- und Rechtssystem. Unter volkschinesischem Einfluss wurde 1954 in Nord-Vietnam eine Agrarreform durchgeführt, die Güter und Produktionsmittel wurden verstaatlicht. Dieses sozialistische Wirtschaftssystem beruhte vor allem auf Staatsbetrieben und Kooperativen, die nach Jahresplänen arbeiteten. Nach der Wiedervereinigung wurde vor allem sowjetischer Einfluss vorherrschend, da die Beziehungen zu China sich verschlechtert hatten.
Der Kommunismus chinesischer und sowjetischer Prägung äußerte sich darin, dass die Kommunistische Partei Vietnams (KPV) gemäß der Verfassung die allein maßgebliche Kraft in ganz Vietnam war; die von ihr ausgeübte "Diktatur des Proletariats" wurde als Grundsatz der politischen Willensbildung in der Verfassung verankert. Staatsdoktrin war der Marxismus-Leninismus. Genuin nach dem chinesischen Modell des nationalen Volkskongresses wurde das Parlament ausgerichtet.

Drei Jahre nach Ende des Vietnam-Krieges 1975 war eine gewisse Liberalisierung zu beobachten: Die Warenverkehrsfreiheit kehrte zurück, es durfte wieder auf den Märkten gekauft und verkauft werden. Ein Vertragssystem wurde eingeführt, es wurde erlaubt, nach Ablieferung einer bestimmten Produktionsquote den Überschuss auf dem freien Markt zu verkaufen. Diese Liberalisierung nahm mehr und mehr zu. Dabei wurde aber versucht, dieses Ziel unter Beibehaltung der Vorherrschaft der kommunistischen Partei zu erreichen.

Das Ende des Kalten Krieges und die mit ihm einhergehende Globalisierung führte zu einer Neuorientierung in der Politik. Im Zuge dieser sogenannten "Doi Moi" (Erneuerung) - Politik kam es zur einer vorsichtigen wirtschaftlichen Öffnung, unter Beibehaltung der politischen Vorherrschaft der kommunistischen Partei.
Zeichen der Öffnung zur westlichen Welt hin war dann die Aufnahme zahlreicher Kooperationen auch im juristischen Bereich. Gerade mit Frankreich herrscht neben anderen Gebieten gerade im Recht ein besonderes Kooperationsverhältnis, was sich auch gerade in der Einweihung des vietnamesisch-französischen Haus des Rechts 1993 ausdrückt. Zwei Aufgaben sind hervorzuheben: die Veranstaltung von Seminaren, die begleitend zur Gesetzgebungskommissionen stattfinden und die Aus- und Fortbildung von vietnamesischen Studenten und Juristen im französischen Recht und in der französischen Rechtsprache.
Folge dieser Politik war vor allem die Verabschiedung zahlreicher wirtschaftlich bedeutsamer Gesetze. Zunächst wurde 1992 die Verfassung reformiert, wirtschaftliche Freiheiten wurden verankert. Es folgten wichtige Wirtschaftsgesetze, so das Gesetz über Investitionen von Ausländern, oder etwa das Handelsgesetz. 1995 trat als Dreh- und Angelpunkt einer Marktwirtschaft der vietnamesische "Code civil" in Kraft.

Der heutige Einfluss fremder Rechte am Beispiel des vietnamesischen Code civilx

Unter den konsultierten europäischen RechtsexpertInnen haben vor allem die französischen an der Elaboration des Code civil vietnamien mitgewirkt. Der Grund dafür liegt unter anderem darin, dass in den in den Gesetzgebungsprozess einbezogenen vietnamesischen Ministerien die Verantwortlichen in Frankreich studiert haben. Neben diesen auf der persönlichen Ebene liegenden Gründen könnte man aber auch noch rechtstechnische und ideologische Gründe anführen, so die Auswahl für ein dirigistisches System wie in Frankreich, wo der Staat eine starke Rolle spielt.
Eine Bevormundung beim Gesetzgebungsprozess ist eher schwer vorstellbar: Zum einen haben die beteiligten RechtsexpertInnen versucht, den VietnamesInnen keine heimischen Konzepte aufzudrücken. Zum anderen wurden die vietnamesischen JuristInnen im Laufe der Ausarbeitung immer kompetenter und fordernder. Sie unterstrichen dabei immer wieder, dass sie die am besten geeigneten Rechtsquellen suchen, unabhängig davon, in welchen Rechtssystemen sie beheimatet sind.xi Dieses Vorgehen steht in der vietnamesischen Politik-Tradition, den Handlungsspielraum zu erhalten und zu erweitern.
Bei der jüngsten Reform des vietnamesischen Code civil war denn auch der Anteil Frankreichs eher bescheiden, dagegen ist viel auf die Hilfe der JapanerInnen zurückgegriffen worden. Japan hat, ähnlich wie Vietnam, seine eigenen Gesetze dadurch geschaffen, dass es die Gesetze der westlichen Staaten für die eigenen Bedürfnisse abgeändert hat und dabei auf möglichst viele verschiedene Quellen zurückgegriffen hat. So ist das japanische Bürgerliche Gesetzbuch dem Inhalt nach französisch, im Aufbau folgt es dem deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch,xii ähnlich wie der vietnamesische Code civil.

Unabhängig davon, welche Rechtssysteme gerade den stärkeren Einfluss im vietnamesischen Recht haben, stellt der hohe französische Richter und Vietnam-Experte Pierre Bézard fest, dass überkommene Gewohnheiten sich hartnäckig halten und viel Widerstand zu überwinden bleibt.xiii Es reicht eben nicht, dass die Gesetze geändert werden, sondern es müssen sich auch diejenigen ändern, die sie anwenden. So bietet das "Maison du Droit vietnamo-française" auch Fortbildungen an für RichterInnen, BeamtInnen und AnwältInnen.
Doch mitunter stehen sozialistische Konzeptionen selbst im Gegensatz zu den neuen Bestimmungen. Dies gilt beispielsweise für das Eigentumsrecht an Grundstücken. Während es sich um ein Grundprinzip in westlichen Rechtssystemen handelt, kennt das sozialistische vietnamesische Recht nur ein Nutzungsrecht über fünfzig Jahre, das Eigentum verbleibt im Prinzip beim Staat.xiv Doch muss das schon als wichtige Fortentwicklung angesehen werden.xv In diesem speziellen Punkt ist also der vietnamesische Code civil, der den Schutz des Privateigentums ausspricht, aus ideologischen Gründen nicht anwendbar.xvi

Rechtsrezeption und Rechtsimperialismus in Vietnam

Kolonialismus kann man mit Imperialismus schlechthin gleichsetzen.xvii Kann aber Kolonialismus mit Rechtsimperialismus gleichgesetzt werden ?
Die Rezeption fremder Rechte in Vietnam stellt sich in der chinesischen und der französischen Kolonialepoche als der Versuch fremder Mächte dar, das Land mittels des Rechts zu beherrschen. Auch wenn es den Chinesen nicht gelang, und ihre Assimilationspolitik ebenso wie die der Franzosen fehlschlug, so stellt sich Kolonialismus als Rechtsimperialismus dar.

Die postkoloniale Rezeption fremder Rechte in Vietnam ist dagegen eher als eine Verteidigung gegen jeglichen Rechtsimperialismus zu sehen. In Vietnam wird das zu rezipierende Recht nach machtpolitischen Gesichtspunkten ausgesucht, wie man am Beispiel des Code civil sehen kann. Die Staaten des ehemaligen Warschauer Pakts kamen trotz der langjährigen Verbundenheit nicht in Frage, mussten diese doch selbst ihr Recht umstellen. China wäre ein Kooperationspartner gewesen, war dort doch die Umstellung von Planwirtschaft auf Marktwirtschaft in vollem Gange. Die lange Abhängigkeit, aber vor allem politische Spannungen ließen diese Wahl jedoch nicht zu. Probleme psychologischer Art hinderten die offizielle Kooperation mit den USA, der Vietnam-Krieg lag ja noch nicht lange zurück. Blieben also nur die europäischen Staaten. Frankreich hatte wegen seiner historischen Bindungen großes Interesse bekundet, doch die Vietnamesen luden auch noch deutsche, norwegische, australische und japanische Rechtsexperten und -expertinnen hinzu.
Außerdem zeigt eine nähere Analyse des vietnamesischen Code civil, dass durchaus noch ursprüngliche Konzepte enthalten sind. Diese Bestimmungen zementieren weiterhin die ideologische Vorherrschaft der Kommunistischen Partei, was bedauernswert ist. Die weitergehende Rezeption wäre durchaus eine Bereicherung gewesen. Es scheint wenig wünschenswert, eine Rezeption abzulehnen, die sich gegen den patriarchalischen status quo der Kommunistischen Partei richtet und sich dabei auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte stützen kann.
Diese postkommunistische Phase der Rechtsrezeption ist also vom "Verkauf" des fremden Rechts geprägt. Neben den schon genannten öffentlichen Akteuren sind es private Konkurrenten, die um den Einfluss auf das vietnamesische Recht kämpfen, insbesondere amerikanische Kanzleien. Es wird hier um die Gunst der vietnamesischen Gesetzgeber gekämpft, also mitunter Lobby-Arbeit betrieben.
Drei Gründe lassen sich dafür nennen: neben dem juristischen Motiv gelten, wenn auch etwas abgeschwächt, die kulturellen und ökonomischen Motive. Auch wenn der wirtschaftliche Nutzen kurzfristig nicht ersichtlich ist, so kann man sich vorstellen, dass auf längere Sicht durchaus Vorteile für die Wirtschaft des Rechtsexport-Staates entstehen, wenn sie beim Handel auf ein ähnliches Rechtssystem trifft. Der Graben verläuft hier vor allem zwischen dem anglo-amerikanischen Recht und dem germano-romanischen Recht, zwischen einem mehr auf Case Law basierenden Recht und einem, dessen Grundlage in erster Linie Gesetze sind.
Für Vietnam gilt hier nicht das Prinzip "Divide et impera" (Teile und herrsche), sondern "Teile, um nicht beherrscht zu werden".

Jean-Claude Alexandre Ho studiert Jura und lebt in Paris.

Anmerkungen

i Französisch für Bahnhof.
ii *NGUYEN G. Kh., Avant-Propos, Lexique juridique & administratif français-viêtnamien, Paris 2000, S. 6. Die mit * gekennzeichneten Texte sind vom Autor übersetzt.
iii LI Ma, in: DURAND, B. / LANGLET, Ph. / NGUYEN Ch. T., Histoire de la Codification juridique au Vietnam, Montpellier 2001 (im folgenden: Codification juridique), S. (59) 69f.
iv NGUYEN, Ch. T., Codification juridique, S. (185) 207f.
v http://www.limsi.fr/Recherche/CIG/europeen.htm.
vi Abteilung für Europäische und Internationale Angelegenheiten im französischen Justizministerium.
vii * Zitiert nach DE MARI, E., Codification juridique, S. (257) 258, Fn. 5.
viii DE MARI, E., Codification juridique, S. (257) 263, Fn. 27.
ix DURAND, B., Codification juridique, S. (283) 312.
x Zur französischen Beteiligung, cf. BEZARD, P., Codification juridique; zur japanischen, cf. SAWAJI, O., Vietnam Law, www.jica.go.jp/english/nezs/2000/10-01.html.
xi PEZARD, Alice, Un droit des affaires dans le Sud-Est asiatique ? , in : Petites Affiches 1994, Nr. 122, S. 21.
xii ISHIMOTO Masao, L'influence du Code civil français sur le droit civil japonais, in : Centre français de droit comparé/ Société de législation comparée, Etudes de droit japonais, France 1989, S. (63) 66f.
xiii BEZARD, P., a.a.O., S. (379) 395.
xiv BEZARD, P., a.a.O.; TSUBOI, Y., La Réforme administrative au Vietnam, in : Revue française d'administration publique 2001, S. (301) 308.
xv BEZARD, P., a.a.O., S. (379) 393.
xvi TSUBOI, a.a.O.
xvii S. dazu auch Elsenhans, H., Imperialismus/ Imperialismustheorien, in: Nohlen, D. (Hrsg.), Wörterbuch Staat und Politik, Bonn 1998.