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Das Richterbild der Zivilgesellschaft   Heft 2/2004
freie Leere
Bildung für den Wettbewerb

Seite 61-65
 
 

Die Auswahl der Projektionsfläche

Die Suche nach einem Richterbild ist auch in Zeiten medialer Abwege wie Court-TV und Barbara Salesch kein nur popkulturelles oder feuilletonistisches Unterfangen: Der JuristInnenausbildung, den Beurteilungsrichtlinien und den Personalentwicklungskonzepten der Justizministerien liegt zumindest stillschweigend ein Richterbild zugrunde, das als letztlich politisches Leitbild über das Handeln der Justizverwaltung u.a. bei Einstellung, Beförderung und Fortbildung in erheblichem Maße den Justizalltag prägt. Unabhängig davon sollte natürlich jede Richterin und jeder Richter über ein gefestigtes Selbstverständnis verfügen, insoweit dient die Debatte über Richterbilder auch der Selbstvergewisserung und der Selbstbewusstseinsbildung im wörtlichen Sinne. Für wie bedeutend letztgenannter Aspekt gehalten wird, zeigt sich am Bemühen von Europarat und Vereinten Nationen, den Bereich richterlichen Handelns jenseits der Bindung an Recht und Gesetz mit ethischen Prinzipien und Kodices zu regeln. Die Vereinten Nationen haben im Rahmen des "Projekts Bangalore" Prinzipien richterlicher Ethik herausgearbeitet, die z.B. die Mitgliedschaft in einer politischen Partei verbieten und Vorgaben für das "korrekte" Verhalten im Privatleben machen; ein moderates Gegenmodell hierzu lieferte im Auftrag des Europarates der "Conseil Consultatif des Juges Europeén".1

Richterbilder entstehen zudem durch gesellschaftliche Projektion. Der Dialog über Fremdbild und Selbstbild der Justiz kann Vorurteile und Missverständnisse abbauen und zu einem aufgeklärten Bild der Dritten Gewalt beitragen. Das Richterbild ist bedingt durch ein Gesellschaftsbild. Die justizpolitische Diskussion ist momentan primär auf die Übertragung wirtschaftswissenschaftlicher Paradigmen beschränkt2 und man scheint sich zu wundern, dass diese Transformation von Ökonomismen auf die Dritte Gewalt eher schief gerät. Demgegenüber soll im Folgenden eine gesamtgesellschaftliche Perspektive eingenommen werden. Hier hält sich seit mehr als zehn Jahren erstaunlich hartnäckig der Begriff der "Zivilgesellschaft", sei es als affirmative Gegenwartsbeschreibung westeuropäischer Gesellschaften im Globalisierungsdruck oder als politisches Ideal.
Mit dem Begriff der Zivilgesellschaft wird versucht, ein freiheitliches Gesellschaftsbild jenseits von klassisch-"bürgerschaftlichem" Liberalismus des 19. Jahrhunderts und neoliberaler Atomisierung zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu entwerfen. Dieser Ansatz beschränkt sich nicht lediglich auf die Frage formaler Staatsfreiheit, sondern bedient sich eines materiellen Freiheits- und Demokratiebegriffes (Selbstverwaltung, Mitbestimmung, "Dritter Sektor" etc.), um den traditionellen liberalen Antagonismus von Staat und Gesellschaft hinter sich zu lassen. Statt sich wirtschaftsliberalem Steuerungsnihilismus hinzugeben, wird die Stärkung und Aktivierung von bourgeois und citoyens für Gemeinwohlbelange in den Blick genommen (z.B. Verbandsklagerechte, Akteneinsichtsrechte, zivilrechtliche Antidiskriminierungsgesetzgebung). Ihre Stärke beziehen die Entwürfe aus dem Umstand, dass in Zeiten, in denen das Vertrauen in die staatliche Steuerung weit gehend aufgezehrt ist und zugleich die Bedrohungen individueller Freiheit durch entfesselte wirtschaftliche Macht Privater zunehmen, der Ruf nach dem Staat ungehört verhallen dürfte. Gefordert ist die Wiederentdeckung der politisch agierenden Bürgerinnen und Bürger sowie deren institutionelle Stärkung (der "Dritte Sektor" - Nichtregierungsorganisationen etc.) als einzig verbliebene Erfolg versprechende fortschrittliche Perspektive. Auf diesen Grundkonsens lässt sich - trotz aller unterschiedlichen Intentionen und Unschärfen von Ulrich Beck über die KommunitaristInnen bis zu Subcommandante Marcos und Gerhard Schröder - die Analyse und das Ideal der Zivilgesellschaft zurückführen.3

Mit dem Anspruch zivilgesellschaftlicher Rechtspolitik wird versucht, anstelle der strikten Trennung der Sphären von Staat und Gesellschaft das Dreieck Bürger/-in - Staat - Bürger/-in in die rechtliche Steuerungsperspektive zu rücken. Letztlich geht es dabei immer um die Frage, mit welchen Steuerungsinstrumenten des Rechts die individuelle Freiheit einschließlich der Voraussetzungen der Ausübung individueller Freiheit gegenüber dem Staat einerseits und strukturell mächtigen Privaten andererseits zu sichern sind. Dabei werden die Steuerungsmöglichkeiten in Grenzbereichen zwischen Staat und Gesellschaft erweitert, sei es mit der Übertragung staatlicher Aufgaben an autonome Gemeinwohl orientierte Institutionen außerhalb der genuin staatlichen Sphäre oder aber durch die materiell-rechtliche Aufladung des Privatrechts (z.B. Diskriminierungsschutz).
Die strikte Trennung von Staat und Gesellschaft wird durch Zwischenformen quasi-staatlicher/gesellschaftlicher Selbstorganisation aufgelöst. Die Zivilgesellschaft identifiziert sich mit ihrer politischen Organisation, hat an der staatlichen Sphäre durch Assoziation und Koordination teil, ohne totalitär im Staate aufzugehen.4 Grundrechtstheoretisch wird die staatliche Aufgabe des Schutzes der Voraussetzungen des Freiheitsgebrauchs, die "soziale Interdependenz der Grundrechte" und die Bedeutung des Grundrechtsgebrauchs für die Verwirklichung der Demokratie einer vorrechtlich verstandenen Freiheit gegenübergestellt.5 Es verschwindet die Trennschärfe der traditionellen Abgrenzung zwischen privatem und öffentlichem Recht samt rechtspolitischer Ableitung ("Soviel Staat wie nötig - so wenig Staat wie möglich" etc.). Die Frage nach materiellen Gehalten des Demokratieprinzips, vormals: "Demokratisierung der Gesellschaft", stellt sich neu.6
Hierdurch wird auch das Verständnis des "klassischen" Staatshandelns berührt, so dass zivilgesellschaftliche Erwartungen das Richterbild zunehmend prägen werden. Im Folgenden soll herausgearbeitet werden, dass den zivilgesellschaftlichen Analysen und Modellen ein kooperatives Richterbild im Hinblick auf die gesellschaftliche Selbstorganisation der Streitbeilegung entnommen werden kann. Richterinnen und Richtern kommt - mehr als bislang - eine (auch präventiv) kontrollierende "Sachwalterrolle" bei der Wahrung rechtlich geschützter Interessen zu. Die Zivilgesellschaft erwartet zudem ein pluralistische, selbstreflexive und selbstverwaltete Justiz, die ihre Rolle als Staatsgewalt eigenständig nach außen verkörpert, den kritischen Dialog mit gesellschaftlichen Kräften nicht scheut und sich nicht als außerhalb des politischen Diskurses stehend begreift.

Richterin oder Mediator?

Spätestens seit die Streit schlichtende Funktion der Justiz bereits auf dem Weg "zurück in die Gesellschaft" verortet wird7, steht die Frage nach staatlichen Alternativangeboten zum überkommenen Gerichtsverfahren auf der rechtspolitischen Agenda - auch um das durch lange Verfahrensdauer und (vermeintlich) starre Verfahrensregeln geprägte, angegraute Bild der Dritten Gewalt zu kolorieren.
Ermutigende Erfahrungen aus anderen Staaten, insbesondere mit "Alternative Dispute Resolution" (ADR) bei den Gerichten in den USA, ließen auch in Deutschland Projekte einer "gerichtsnahen Mediation" mit Richtermediatorinnen und -mediatoren entstehen.8 In Zeiten, in denen das traditionelle Streitentscheidungsangebot der Justiz - insbesondere der Zivil-, Arbeits-, Sozial- und Verwaltungsjustiz - immer weniger den Erwartungen einer pluralistischen, in eigene (Teil-) Lebenswelten segmentierten und vernetzten Gesellschaft gerecht wird, in denen das Recht mehr denn je der sozialen Wirklichkeit hinterher hinkt und Konflikte immer seltener auf eine rein bipolare Beziehung Kläger/-in - Beklagte/-r zurückgeführt werden können9, sind solche Projekte notwendig. So fördert der kooperative Staat gesellschaftliche Selbsthilfe bei der Konfliktlösung, ohne sich aus der Verantwortung zurückzuziehen. Das Verhältnis zwischen Richter/-in und Mediator/in ist damit noch nicht geklärt: Die Mediation ist ein Konfliktlösungsmodell zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation, das Gerichtsverfahren und die gerichtliche Entscheidung bleiben Urformen staatlicher Herrschaftsausübung. Während die Mediatorinnen und Mediatoren in erster Linie eine unparteiische Kommunikations(-dienst-)leistung kraft Vereinbarung erbringen, erwarten die Parteien von Richterinnen und Richtern unparteiische Rechtsgewähr kraft gesetzlicher Ermächtigung. Die Mediation erfolgt ergebnisoffen, die Gerichtsverhandlung will Entscheidungsreife am Maßstab eines feststehenden rechtlichen Programms herbeiführen.

Trotz aller Unterschiede, denen bei der Konzeption der gerichtsnahen Mediation Rechnung zu tragen ist,10 ist die Vernetzung mit den traditionellen Angeboten der Justiz geboten. Dies entspricht der Notwendigkeit eines Dialoges, der Notwendigkeit einer rechtlichen "Schnittstelle" zwischen genuin staatlichen AkteurInnen und zivilgesellschaftlicher Sphäre. Gegenwärtig beschränkt sich z.B. im Zivilprozess diese Schnittstelle im Wesentlichen auf § 278 Abs. 5 ZPO, wonach das Gericht eine außergerichtliche Streitschlichtung vorschlagen und das Verfahren insoweit zum Ruhen bringen kann.
Für einen reibungslosen Wechsel vom Gerichtsverfahren zur Mediation - und erforderlichenfalls zurück - ist mehr zu regeln: Gefordert ist eine Harmonisierung des Rechts der Gerichts- und Anwaltskosten ebenso wie die Wahrung von Klage- und Verjährungsfristen durch den Abschluss einer Mediationsvereinbarung. Nur so kann ein kohärentes Miteinander von Mediation und Gerichtsverfahren ermöglicht werden. Die erforderliche Öffnung der Justiz hin zu genuin zivilgesellschaftlichen Streitschlichtungsmodellen bewirkt eine Rückkopplung zur Selbstwahrnehmung der Justiz: So wird auch das Richterbild durch den genannten Dialog geprägt, da Richter/-in und Mediator/-in schließlich den Umgang mit Konflikten Dritter gemein haben und um die Vorteile und Nachteile des eigenen Verfahrens wissen. Gefordert ist insoweit ein kooperatives Richterbild. Richtermediatorinnen und -mediatoren (auch wenn man sie nicht so nennen muss) können die Akzeptanz der Mediation gerade aus Sicht der Justiz fördern und damit zu einem solchen kooperativen Richterbild wie zu einem kooperativen Justizselbstverständnis beitragen.

RichterInnen als kontrollierende SachwalterInnen rechtlich geschützter Interessen

In den Medien und wohl auch in den Vorurteilen von weiten Teilen der Bevölkerung dominiert das Richterbild des verurteilenden Strafrichters. Indes arbeiten über die letzten Jahrhunderte und Jahrzehnte gesehen zumindest prozentual immer weniger Richterinnen und Richter in dieser Funktion. Der Justiz sind zunehmend neue Aufgaben übertragen worden oder in ihrer Bedeutung gewachsen, die weder den strafenden noch den/die im engeren Sinne Streit schlichtenden oder Streit entscheidenden RichterIn fordern, sondern eine Funktion betreffen, die hier als Rolle des kontrollierenden "Sachwalters" rechtlich geschützter Interessen bezeichnet werden soll - womit betont wird, dass einem "Sachwalter" eine über den "klassischen" Rechtsschutzauftrag hinaus gehende, aktivere Funktion bei der Rechtsverwirklichung zugewiesen ist.

Mythos Richtervorbehalt

Als erstes Beispiel für das Phänomen soll die verstärkte Normierung von Richtervorbehalten angeführt werden: Die Palette reicht von der Ausweitung von Überwachungsmaßnahmen im Bereich von sog. organisierter Kriminalität und Terrorismusbekämpfung nach dem 11. September 200111 über die Diskussion um die Entscheidung zu rechtmäßiger Sterbehilfe12, die Neuregelung oder Präzisierung unterschiedlichsten Formen der Freiheitsentziehung in den letzten Jahrzehnten, betreuungsrechtliche oder verwandte polizeirechtliche Formen der Freiheitsentziehung aus psychiatrisch-medizinischen Gründen, bis zur Abschiebehaft. Immer intensivere Grundrechtseingriffe werden über die präventive Mitwirkung der Justiz legitimiert.
Man mag hierin eine Krise des demokratischen Rechtsstaates sehen, deren Ursache nur bedingt zivilgesellschaftlichen Spezifika zuzurechnen ist. Zivilgesellschaftliche Phänomene begünstigen aber die Verschiebung der Grenzen zwischen den Staatsgewalten: Die Steuerung durch Recht befindet sich in der Krise, da gleichzeitig die Herausforderungen an das Recht durch neue, komplexe Risiken (und deren höchst subjektive Wahrnehmung) steigen und wegen der Pluralisierung und Segmentierung der Zivilgesellschaft die Konsensbildung schwieriger wird.

Mit dem Richtervorbehalt kapituliert die Legislative dann häufig vor der Regelungskomplexität der Materie, die als Gemengelage zwischen öffentlichen Interessen und subjektiven Rechten in multilateralen Rechtsverhältnissen gekennzeichnet ist. Zuweilen flüchtet sie aber auch nur vor klaren - politisch aber nicht durchsetzbaren - Begrenzungen staatlicher Eingriffsbefugnisse. Letztlich dient die Richterschaft aber immer den "checks and balances" und unterliegt kraft Regelungstechnik einer besonderen Form des verfassungsrechtlichen Rechtsschutzauftrages. Der "Vollzug" einer staatliche Aufgabe (Gefahrenabwehr, Strafverfolgung etc.) im Einzelfall wird auf zwei Staatsgewalten verteilt. Den Richterinnen und Richtern wird zum Vollzug des Richtervorbehalts allerdings selten ein rein konditional gestricktes Normprogramm an die Hand gegeben, es dominieren unbestimmte Rechtsbegriffe und Abwägungsgebote. Damit ist ein Ausgleich von öffentlichem Interesse und Grundrechtsposition schon auf der Primärebene zu leisten: Die regelmäßig von der Exekutive angestoßene Gestaltung eines Rechtsverhältnisses wird erst durch die richterliche Entscheidung wirksam. Richterinnen und Richter sind nicht nachgeordnete Rechtsschutzorgane, sondern "Eingriffsrichter(-innen)". Die Einrichtung eines Richtervorbehalts ist zugleich Grundrechtsschutz durch Verfahren. Richterliche Tätigkeit ist dabei nicht rechtsstreitorientiert, sondern vor allem präventiv kontrollierend und den Eingriff mit verantwortend, insoweit "sachwaltend".

Ausweitung der Inhaltskontrolle von Verträgen

Eine in anderer Weise individuell steuernde - wenngleich nicht präventive - Rolle kommt dem/der Streit entscheidenden ZivilrichterIn bei der Inhaltskontrolle von Verträgen und demnächst beim zivilrechtlichen Diskriminierungsschutz zu. Dabei handelt es sich eigentlich um nichts Neues, bereits Max Weber diagnostizierte die "Entformalisierung" des Privatrechts u.a. über Generalklauseln.13 Relativ neu ist aber die Ausdifferenzierung und Ausweitung der gerichtlichen Inhaltskontrolle: Neben den altbekannten Generalklauseln ist das inzwischen in das BGB integrierte Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen hinzugetreten, Sonderrechtsgebiete wurden z.B. mit dem Verbraucherschutzrecht neu geschaffen und erweitert.
Eine qualitativ wirklich neue Dimension im Verhältnis von Privatautonomie zu zwingendem Recht liefert der europarechtliche Diskriminierungsschutz14. Ging es früher "nur" um die Beseitigung gesellschaftsstrukturbedingter Ungleichgewichte in unmittelbarer Beziehung zum Vertragsgegenstand15, werden in Zukunft eine Vielzahl von Rechtsgütern geschützt, die mit dem zugrunde liegenden Rechtsgeschäft nur mittelbar in Zusammenhang stehen. Sichtbar wird hier das zivilgesellschaftliche Konzept der Aktivierung des/der Einzelnen zur Verwirklichung (auch) öffentlicher Interessen. Das Privatrecht wird stärker denn je zum Instrument einer umfassenden gesellschaftspolitischen Steuerung, die nicht nur den unmittelbaren Interessenausgleich, sondern auch die Ausbalancierung von öffentlichen Interessen zum Gegenstand hat - und die Justiz hat die Feinsteuerung auch in diesem Bereich zu übernehmen, was zwangsläufig die zivilrichterliche Tätigkeit verändern wird. Diese kann als "Sachwalterrolle" verstanden werden, da es bei der Inhaltskontrolle u.a. um den Schutz des/der strukturell unterlegenen Vertragspartners/-in vor sich selbst geht, beim Diskriminierungsschutz auch um die Aufladung des Zivilprozesses mit öffentlichen Belangen, die das Gericht zu beachten hat. Weitere Annäherungen des Zivilprozesses an öffentlich-rechtliche Verfahrensarten sind so vorprogrammiert (z.B. Amtsermittlung).

Das Richterindividuum in der Zivilgesellschaft

Dass das Richteramt für eine Vielzahl von sich durch Biographie, politische Anschauung, soziales und kulturelles Selbstbild unterscheidende Juristinnen und Juristen zugänglich sein sollte, gebietet unabhängig vom Grundgesetz auch der Befund einer maximalen Pluralisierung und Segmentierung der Zivilgesellschaft. Die Zivilgesellschaft hat ein pluralistisches Richterbild.
In der medienvermittelten Wahrnehmung ist dies noch nicht angekommen: Beliebt ist es, auf die verstaubte Justiz zu schimpfen und gleichzeitig den hierarchisch-autoritären Richtertypus als Richtungsgeber in der wertelosen Gesellschaft einzufordern. Wer nachmittags den Fernseher einschaltet, wird häufig ebenfalls mit einem eher autoritären bis priesterhaften, etwas weltfremden Richterbild konfrontiert, an dem die Aufklärungsbemühungen um eine Entmystifizierung der Justiz spurlos vorbeigegangen sind; bestenfalls wird noch die Familienrichterin als Laienpsychologin und der Amtsrichter als mit Stammtischthemen beschlagener Kumpel zumindest in der Nähe der gesellschaftlichen Realität verortet. Die soziologische Analyse bestätigt das Medienbild: Richterinnen und Richter seien in der gesellschaftlichen Wahrnehmung systemkonform, autoritär und elitär,16 wären also kaum ein Abbild der Gesellschaft.

Richterindividuum und JuristInnenausbildung

Die Realität sieht zum Glück besser aus - und "schuld" daran dürfte eine "Dysfunktionalität" im System der deutschen JuristInnenausbildung sein: Die Richterfixierung im Ausbildungsleitbild hat dazu geführt, dass Juristinnen und Juristen zwar bereits in der Ausbildung eine harte Schule an berufsorientierter Sozialisation durchlaufen müssen, da aber das Ausbildungsziel "fertige" Richterinnen und Richter sind, fehlt in der Bundesrepublik weitgehend eine Selektion in der an die Ausbildung anschließenden ersten Berufsphase und - zumindest beim Eingangsamt noch weit gehend - eine Auswahl nach politischen Gesichtspunkten. Insoweit steht es um eine zivilgesellschaftliche Permissivität beim Zugang zum Richteramt gar nicht einmal schlecht - wenn man von der momentanen Haushaltskrise der Länder einmal absieht.
Dass dies noch nicht in der gesellschaftlichen Wahrnehmung angekommen ist, mag an der fehlenden Bereitschaft vieler Richterinnen und Richter liegen, sich offensiv in der Öffentlichkeit zu ihrer Rolle zu bekennen, man übt sich in Zurückhaltung. Schwer dürfte auch die "Schere im Kopf" wiegen, nämlich dass die meisten Kolleginnen und Kollegen nicht ganz zu Unrecht vermuten, dass ein Bekenntnis zur eigenen Richterindividualität, zum "zoon politikon" auch als RichterIn, gar nicht erwünscht ist. Hier zeigen sich Probleme der Justizverwaltung, primär aber Mängel der JuristInnenausbildung, die eben die Selbstreflexion und die Erkenntnis des auch politischen Wirkens des Richterdaseins nur unzureichend behandelt - was in Forum Recht in vielen Beiträgen immer wieder zu Recht kritisiert wurde.

Die Debatte um den politischen Richter

Während das Leitbild einer politischen Richterin früher eher unter dem Gesichtspunkt der Gesetzesbindung oder des Berufsrechts (Mäßigungsgebot) und Prozessrechts (Befangenheit) diskutiert wurde,17 ist für das Richterbild der Zivilgesellschaft der/die politische RichterIn bereits funktional unabdingbar: Auch die Dritte Gewalt hat sich mit den politischen Erwartungen an sie auseinander zu setzen (was natürlich nicht heißt, ihnen immer zu folgen) und dabei Kritikverträglichkeit und Dialogfähigkeit heraus zu bilden. Bedeutsam sind zwei Ebenen des Politischen: Die Selbstwahrnehmung der "natürlichen" Richterperson als politisch denkender und handelnder Teil der Gesellschaft und der politische Gehalt des Handelns im Richteramt. Der/die politische RichterIn ist daher keinesfalls als IdeologIn, sondern vielmehr als selbstreflexiveR RichterIn gefordert: Nur wer seine Richterrolle in der staatlichen Sphäre und im Wechselspiel mit den politischen Erwartungen an das Staatshandeln analysiert, die Unmöglichkeit unpolitischen Richtens erkannt hat und sich mit seinen subjektiven Erwartungen als Auch-StaatsbürgerIn abgleicht, kann das Richteramt verantwortungsvoll ausüben. Befürchtet werden müssen also keine machtherrlichen Selbstverwirklichungsexzesse. Anzuerkennen ist schlicht die gesellschaftlichen Realität, in der die Richterperson - ohne die das Richteramt ja nicht denkbar ist - lebt und wirkt.

Zur Selbstverwaltung der Dritten Gewalt

Die Zivilgesellschaft spiegelt ihre Pluralität in einer Vielfalt von Organisationsformen, der eine Netzwerkstruktur der Machtausübung und -verteilung (und damit einer Selbstverwaltungsstruktur) eher entspricht als ein hierarchisches Modell. Nähert man sich von einem zivilgesellschaftlichen Rechtsstaats- und Demokratieverständnis den Anforderungen an die Verwaltung der Justiz, so stellt sich die Frage der Unabhängigkeit der Justiz nicht primär als Frage nach subjektiven Rechten der Richterinnen und Richter, sondern folgt aus dem Anspruch der Bürgerinnen und Bürger auf eine von Einfluss- und Parteinahme unabhängige und möglichst unmittelbar legitimierten Rechtsprechung. So bedarf es zumindest nicht primär wehrfähiger Positionen der einzelnen Richterinnen und Richter als vielmehr einer strukturellen Absicherung der Unabhängigkeit, die konsequent nur durch eine Selbstverwaltung gewährleistet werden kann. Dazu muss man den Demokratiebegriff gar nicht einmal "zivilgesellschaftlich" - d.h. materiell - aufladen: Die Legitimationskette vom Parlament über das Exekutivorgan Justizministerium ist schlicht ein Glied zu lang, wenn z.B. RichterInnenwahlausschüsse der Landesparlamente in einigen Landesrichtergesetzen gänzlich fehlen.

Mit Blick auf die Gewaltenteilung erwartet die Zivilgesellschaft von der Richterschaft, dass sie sich nicht hinter der Justizverwaltung versteckt. Kritikverträglichkeit und Dialogfähigkeit können nur herausgebildet werden, wenn sich die Justiz selbst in die Auseinandersetzung mit den anderen beiden Gewalten begibt. Selbstverwaltung kann somit sowohl Rechenschaft als auch Transparenz fördern. Ein vom Parlament und/oder der Richterschaft gewählter "Gerichtsbarkeitsrat" wäre - wie etwa von der Neuen Richtervereinigung (NRV) gefordert - unmittelbar gegenüber dem Parlament haushaltsverantwortlich. Der Blick über die Grenzen zeigt, dass die Selbstverwaltung der Dritten Gewalt keine Utopie ist: In Italien, Portugal und Spanien entscheiden Justizverwaltungsräte, in denen vom Parlament oder der Richterschaft gewählte Richterinnen und Richter jeweils die Mehrheit stellen, über jede Ernennung, Versetzung und Beförderung.

Ausblick

Auch auf der Folie der Zivilgesellschaft - so komplex und zuweilen diffus dieses Gesellschaftsbild sein mag - bleiben Fragen aktuell, die seit Jahrzehnten aus anderen Blickwinkeln im Mittelpunkt der justizpolitischen Diskussion standen, sei es "der politische Richter" oder die Forderung nach mehr Selbstverwaltung der Justiz. Deutlich wird auch, dass sich die Erwartungen der bourgeois und citoyens der Zivilgesellschaft deutlich von bislang unterstellten Bedürfnissen der Nachfragerinnen und Nachfrager eines Produkts "Justizdienstleistung" unterscheiden. Die Potentiale einer zivilgesellschaftlichen Justizpolitik bestehen gerade darin, dass sie den ökonomistischen Ansätzen bereits wegen der breiteren Perspektive überlegen ist, aber zugleich die Herausforderung der dort sog. "Output-Orientierung" annimmt - nämlich der simplen Frage, welche Justiz gerade die Bürgerinnen und Bürger der Zivilgesellschaft wollen. Damit kann die zuweilen in der auch progressiven Justizpolitik anzutreffende Tendenz zur Selbstbespiegelung überwunden und der Weg zu neuen Allianzen geebnet werden. Die justizpolitische Diskussion verspricht jedenfalls spannend zu bleiben - sicherlich auch in den nächsten zwanzig Forum Recht-Jahrgängen.

Frank Schreiber ist Richter in Darmstadt und Redakteur von Betrifft JUSTIZ. Er war von 1994 bis 2000 Redakteur von Forum Recht.

Anmerkungen:

1 Vgl. Horst Häuser, Vorfragen (passim); CCJE-Entwurf: www.drb/ccje-richterethik.pdf.
2 Barbara Kramer, Modernisierung der Justiz: Das Neue Steuerungsmodell; in: Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 2001, 3449 ff; Olaf Gurzan, Justiz in der Krise - Was darf Recht kosten; in: Forum Recht (FoR) 1997, 42 ff und Hanno Wilk, Überforderte Justiz in der Dauerkrise; in: FoR 1997, 51 ff.
3 Stefan May, Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (KritV) 1997, 306 (309 ff); vgl. ferner: Ulrich Beck, Mehr Zivilcourage bitte; in: DIE ZEIT Nr. 22/2000; ders. (Hg.), Perspektiven der Weltgesellschaft, 1998; ders., Das Demokratie-Dilemma im Zeitalter der Globalisierung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) B 38/98; Warnfried Dettling, Bürgergesellschaft - Möglichkeiten, Voraussetzungen und Grenzen; in: APuZ B 38/98; Marcos, Botschaften aus dem Lakandonischen Urwald, 1996; Gerhard Schröder, Im Schatten des Gesetzes; in: Süddeutsche Zeitung (SZ) v. 04.04.2001, S. 17; vgl. Günter Frankenberg, S. 42 f.
4 Frankenberg, S. 43.
5 Rupp, Juristenzeitung (JZ) 2001, 271 ff.
6 May a.a.O.; Dieter Grimm, Reformalisierung des Rechtsstaats als Demokratiepostulat?, in: Juristische Schulung (JuS) 1980, 704-709.
7 So Ernst-Hasso Ritter, NJW 2001, 3440 (3443) unter Hinweis auf Uwe Wesel.
8 Freya Entringer / Katja Josephi / Kalle de Witt, Projekt "Gerichtsnahe Mediation in Niedersachsen" (Teil I); in: Betrifft JUSTIZ 2003, 24 ff.; Freya Entringer / Carolin Vogelei, Teil II; in: Betrifft JUSTIZ 2003, 180.
9 Ritter, NJW 2001, 3440 (3443 ff.) m.w.N.
10 Frank Schreiber, Wie "gerichtsnah" kann Mediation funktionieren? (Erscheint in: Betrifft JUSTIZ, Heft 77 [März 2004]).
11 OLG Frankfurt, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ) 2002, 626 und OLG Frankfurt, NVwZ 2002, 627; Bernd Asbrock, Zum Mythos des Richtervorbehalts; in: KritV 1997, 255; Martin Kutscha, Rechtsschutzdefizite bei Grundrechtseingriffen von Sicherheitsbehörden, in: NVwZ 2003, 1296.
12 Vgl. OLG Frankfurt, NJW 1998, 2747 (Vormundschaftsrichterliche Genehmigung des Behandlungsabbruchs).
13 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, zitiert nach der 5. Aufl. 1976, Kapitel VII § 8; Suzanna Cerina, Generalklauseln: Königliche Paragraphen oder Allgemeinplatz? In: FoR 1997, 49 f.
14 Richtlinien 43/00/EG, 73/02/EG und 78/00/EG; Doris König, Antidiskriminierungsrichtlinien vor der Umsetzung in: Zeitschrift für Rechtspolitik (ZRP) 2003, 315; Thomas Wölfl, Vernunft statt Freiheit! - Die Tugendrepublik der neuen Jakobiner; in: ZRP 2003, 297 m.w.N.; vgl. auch Iris Muth, Frauenparadies Europa?, in: FoR 1998, 84.
15 Peter Derleder, Unterlegenenschutz im Vertragsrecht; Kritische Justiz (KJ) 1995, 320.
16 Vgl. Häuser, Rundbrief der Neuen Richtervereinigung, m.w.N., die wohl auch heute noch Gültigkeit beanspruchen können.
17 Josef Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1970; Helmut D. Fangmann / Ulrich Zachert, Gewerkschaftliche und politische Betätigung von Richtern, 1986. Horst Sendler, Was dürfen Richter in der Öffentlichkeit sagen?, in: NJW 1984, 689 ff.; Christoph Strecker, Politischer Richter - garstiger Richter; in: ZRP 1984, 122 ff.

Literatur

Günter Frankenberg, Die Verfassung der Republik - Autorität und Solidarität in der Zivilgesellschaft, Frankfurt 1997; insb. 41-55, 150-236.
Horst Häuser, Zum Richterbild der Neuen Richtervereinigung; in: NRV-Rundbrief Nr. 70 (10/2001), 49 ff.
ders., Vorfragen richterlicher Ethik, in: Betrifft JUSTIZ 2003, 186 ff.
Stefan May, Zivilgesellschaft als Demokratietheorie - Überlegungen zu einer aktuellen Debatte; in: KritV 1997, 306 ff.
Regina Ogorek, Recht, Moral, Politik: Zum Richterbild in der Mediengesellschaft; in: KritV 1997, 5 ff.
Ernst-Hasso Ritter, Justiz - verspätete Gewalt in der Wettbewerbsgesellschaft; in: NJW 2001, 3440 ff.
Hans-Heinrich Rupp, "Dienende" Grundrechte, "Bürgergesellschaft", "Drittwirkung" und "soziale Interdependenz" der Grundrechte; in: JZ 2001. 271 ff.
Uwe Volkmann, Solidarität - Programm und Prinzip der Verfassung, Berlin 1998.