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Geburt einer Kanzlerdemokratie?   Heft 1/2006
Medien und Meinungsmacht

Seite 31
 
 

Das Bundesverfassungsgericht hatte im Organstreitverfahren zwischen zwei Abgeordneten des Bundestages und dem Bundespräsidenten die Frage zu entscheiden, ob die Anordnung, den Bundestag aufzulösen, die Rechte der beiden Antragsteller als Volksvertreter verletzt. Vorausgegangen war eine verlorene Vertrauensfrage des damaligen Bundeskanzlers, so dass der Bundespräsident im Rahmen des Art. 68 GG den Bundestag auflöste und den Weg für Neuwahlen freimachte.
Darüber, dass die Vertrauensfrage "absichtlich" verloren wurde, um den Wählerinnen und Wählern die Möglichkeit der Stimmenabgabe zu ermöglichen, bestehen keine Zweifel. Fraglich ist jedoch, ob die Voraussetzung für die Auflösung, nämlich die nicht mehr vorhandene Mehrheit für den Kanzler, gegeben war. Während sieben Richter des zweiten Senats der Ansicht waren, es liege im Einschätzungsspielraums des Bundeskanzlers zu entscheiden, ob eine stetige Mehrheit vorhanden sei, konnte der Verfassungsrichter Hans-Joachim Jentsch ein Abhandenkommen des Vertrauens nicht feststellen. Die daraus resultierende sieben zu eins Entscheidung des Gerichts wies die Anträge der Abgeordneten zurück und bescheinigte dem Bundeskanzler die vermeintliche Kompetenz, durch eine auflösungsgerichtete Vertrauensfrage die Zusammensetzung des Bundestages zu ändern. Dieser Schritt ist vom Kanzler natürlich nicht im Alleingang zu bewältigen, denn sowohl der Bundestag als auch der Bundespräsident müssen hierzu ihr Einverständnis erklären. Die Initiative liegt aber allein beim Bundeskanzler. Und gerade bei knappen Regierungsmehrheiten ist zu befürchten, dass durch dieses Machtinstrument der Fraktionszwang innerhalb der Regierung stärker ausgeprägt sein wird. Die Diskussion um ein Selbstauflösungsrecht des Bundestages hat somit einen neuen Stellenwert bekommen. Während in der Entscheidung von 1983 noch objektive Indizien für die verlorene Mehrheit im Bundestag Voraussetzungen für eine Auflösung gemäß Art. 68 GG waren, überlässt das Verfassungsgericht in seinem jetzigen Urteil dem Bundeskanzler diese Entscheidung. Aber ist dieser Machtzuwachs in der Person der Kanzlers von der Verfassung gewollt?
Da der Bundestag das vom Volk einzige direkt legitimierte Verfassungsorgan ist, leben wir in einer parlamentarischen Demokratie. In diesem Zusammenhang scheint es die sauberste Lösung zu sein, dem Bundestag die Möglichkeit zu geben, sich selbst aufzulösen. Beratungen über die Ausgestaltung eines Selbstauflösungsrechts begannen schon Mitte der 70er Jahre. Bislang konnten sich die Parlamentarierinnen und Parlamentarier noch zu keiner Erweiterung ihrer Stellung durchringen. Es bleibt abzuwarten, ob die derzeitige Bundeskanzlerin den Zuwachs ihrer Kompetenzen von sich aus wieder rückgängig macht.

Jens Pfanne, Münster