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Das Bundesverfassungsgericht hatte im Organstreitverfahren zwischen zwei
Abgeordneten des Bundestages und dem Bundespräsidenten die Frage zu entscheiden,
ob die Anordnung, den Bundestag aufzulösen, die Rechte der beiden Antragsteller
als Volksvertreter verletzt. Vorausgegangen war eine verlorene Vertrauensfrage
des damaligen Bundeskanzlers, so dass der Bundespräsident im Rahmen des
Art. 68 GG den Bundestag auflöste und den Weg für Neuwahlen freimachte.
Darüber, dass die Vertrauensfrage "absichtlich" verloren wurde, um den
Wählerinnen und Wählern die Möglichkeit der Stimmenabgabe zu ermöglichen,
bestehen keine Zweifel. Fraglich ist jedoch, ob die Voraussetzung für
die Auflösung, nämlich die nicht mehr vorhandene Mehrheit für den Kanzler,
gegeben war. Während sieben Richter des zweiten Senats der Ansicht waren,
es liege im Einschätzungsspielraums des Bundeskanzlers zu entscheiden,
ob eine stetige Mehrheit vorhanden sei, konnte der Verfassungsrichter
Hans-Joachim Jentsch ein Abhandenkommen des Vertrauens nicht feststellen.
Die daraus resultierende sieben zu eins Entscheidung des Gerichts wies
die Anträge der Abgeordneten zurück und bescheinigte dem Bundeskanzler
die vermeintliche Kompetenz, durch eine auflösungsgerichtete Vertrauensfrage
die Zusammensetzung des Bundestages zu ändern. Dieser Schritt ist vom
Kanzler natürlich nicht im Alleingang zu bewältigen, denn sowohl der Bundestag
als auch der Bundespräsident müssen hierzu ihr Einverständnis erklären.
Die Initiative liegt aber allein beim Bundeskanzler. Und gerade bei knappen
Regierungsmehrheiten ist zu befürchten, dass durch dieses Machtinstrument
der Fraktionszwang innerhalb der Regierung stärker ausgeprägt sein wird.
Die Diskussion um ein Selbstauflösungsrecht des Bundestages hat somit
einen neuen Stellenwert bekommen. Während in der Entscheidung von 1983
noch objektive Indizien für die verlorene Mehrheit im Bundestag Voraussetzungen
für eine Auflösung gemäß Art. 68 GG waren, überlässt das Verfassungsgericht
in seinem jetzigen Urteil dem Bundeskanzler diese Entscheidung. Aber ist
dieser Machtzuwachs in der Person der Kanzlers von der Verfassung gewollt?
Da der Bundestag das vom Volk einzige direkt legitimierte Verfassungsorgan
ist, leben wir in einer parlamentarischen Demokratie. In diesem Zusammenhang
scheint es die sauberste Lösung zu sein, dem Bundestag die Möglichkeit
zu geben, sich selbst aufzulösen. Beratungen über die Ausgestaltung eines
Selbstauflösungsrechts begannen schon Mitte der 70er Jahre. Bislang konnten
sich die Parlamentarierinnen und Parlamentarier noch zu keiner Erweiterung
ihrer Stellung durchringen. Es bleibt abzuwarten, ob die derzeitige Bundeskanzlerin
den Zuwachs ihrer Kompetenzen von sich aus wieder rückgängig macht.
Jens Pfanne, Münster
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