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Mechanismen und Techniken einer neuen Sozialkontrolle   Heft 3/2006
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Kriminalpolitik
Seite 86-90
Anmerkungen zu einem Ausschnitt gesellschaftlicher Transformationsprozesse  
 

In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten haben tief greifende gesellschaftliche Transformationsprozesse stattgefunden. Diese manifestieren sich zum einen in einem grundlegenden wirtschaftlichen Wandel. Zum anderen gehen damit wesentliche Veränderungen des sozialen und kulturellen Lebens - vor allem in den Industriestaaten - einher, die zu einer sich verändernden Sozialstruktur führen. Dieser Wandel wirkt sich auch auf die Bedingungen aus, unter denen soziale Kontrolle ausgeübt wird, sowie auf die damit verfolgten Ziele.1 Im Folgenden soll nachgezeichnet werden, inwieweit sich vor diesem Hintergrund neue Mechanismen und Techniken sozialer Kontrolle herausbilden, wie diese klassifiziert werden können und wie sich diese Veränderungen in der Praxis darstellen.
Die Krise der wohlfahrtsstaatlichen Behandlung sozialer Problemfelder, der partielle Wegfall des sozialstaatlichen Integrationsversprechens, die Ökonomisierung, Pluralisierung und Diversifizierung der gesellschaftlichen Lebenswelten und eine veränderte Sicherheitspolitik haben zu einem radikalen Strukturwandel im Bereich sozialer Kontrolle geführt. Diese gesellschaftlichen Veränderungen bedeuten zusammengenommen einen Rückzug der Strukturen, auf die sich Integration und Disziplinierung bislang gestützt hatten.2 Davon waren und sind sowohl die Institutionen der Fabrik, der Schule und der Anstalt betroffen, als auch der Arbeitsmarkt an sich und integrierende formelle und informelle soziale Strukturen. Soziale Kontrolle kann infolgedessen zunehmend weniger auf eine wohlfahrtsstaatliche Integration mittels Disziplinierung, Behandlung und Resozialisierung setzen. Sozialintegrative Strukturen im sozialen Nahraum büßen dadurch an Bedeutung ein. Insbesondere führt der Umbau des Sozial- und Wohlfahrtsstaates zu einem Ausschluss eines Teils der Bevölkerung aus der Erwerbsarbeit und der sozialen Absicherung.3 Gegenwärtige Sozialkontrolle muss diesen Schub sozialer Desintegration und Ausdifferenzierung auffangen und Sicherheitsstrategien zur Verfügung stellen, die gewährleisten, dass die von sozialer Teilhabe Ausgeschlossenen nicht zu einem unbeherrschbaren Risiko werden.4

Gesellschaftliche Transformationsprozesse

Zugleich wirken sich die beschriebenen soziokulturellen Veränderungen auch auf die Grundlagen und das Verhältnis von Sozial- und Systemintegration aus, d.h. auf die Integration des/der Einzelnen in die Gesellschaft im Verhältnis zum Zusammenhalt und Funktionieren der Gesellschaft insgesamt.5 Insbesondere die Vervielfältigung der sozialen und kulturellen Lebensstile und die Individualisierung der Lebensweise führen dazu, dass sich die Individuen nicht mehr durchgängig an einem zentralen und alle gesellschaftlichen Bereiche umfassenden Normengefüge orientieren.6 Eine präzise Unterscheidung zwischen normal und anormal ist infolgedessen nur noch bedingt möglich,7 da über fundamentale moralische Grundsätze, die Grundlage eines jeden Normensystems sind, kein gesellschaftlicher Konsens mehr besteht. Gleichzeitig bieten technologische Entwicklungen neue Möglichkeiten der Überwachung und Kontrolle. Vor diesem Hintergrund führt eine sich etablierende Rationalität der Sicherheit zu einem grundlegend veränderten Bild vom Gegenstand, den Zielen und Zwecken sozialer Kontrolle. Diese setzt zunehmend weniger auf die Verantwortlichkeit und Disziplinierung von Individuen, sondern geht von einer Normalität von Abweichung aus. Infolgedessen rückt die Handhabung von Risikogruppen Hand in Hand mit einem repressiven Moralismus fundamentalistischer Prägung in den Vordergrund. Dabei gewinnen die Ideologie des Neoliberalismus und ein religiös-fundamentalistischer Konservatismus an Einfluss und prägen die sich herausbildende neue Formation sozialer Kontrolle.8
Dieser Wandel sozialer Kontrolle wird am Beispiel der Shopping Mall deutlich. Dort gilt trotz des Anscheins eines öffentlichen Raumes das private Hausrecht. Die in ihnen geltenden Hausregeln und der Grad und Umfang ihrer Durchsetzung variieren je nach Betreiberinteresse. Das Individuum steht daher vor der Aufgabe, sein Verhalten an wechselnden Anforderungen auszurichten. Neben ein Rumpfgerüst aus zentralen sozialen Normen, deren Beachtung durch vorwiegend staatliche Institutionen weitgehend durchgesetzt wird, treten situations- und kontextabhängige Wertprioritäten, die keinen umfassenden Gültigkeitsanspruch erheben. Der Maßstab dieser Verhaltensanforderungen besteht fast ausschließlich in der Absicherung der ökonomischen Interessen des Shopping-Mall-Betreibers. Für deren Sicherheitskonzepte spielen sowohl moralisch-rigide Vorstellungen über Zusammenhänge zwischen sozialer Gruppenzugehörigkeit oder äußerlicher Darstellung und der Bereitschaft zur Abweichung und Störung eine Rolle, als auch Ansätze eines reinen Risikomanagements.

Anpassung der Mechanismen sozialer Kontrolle

Infolge der so gewandelten gesellschaftlichen Bedingungen, Grundlagen und Ziele sozialer Kontrolle unterliegen auch deren Mechanismen und Techniken einer Veränderung. Dies zeigt sich bereits im Aufkommen immer neuer Techniken der Überwachung und Registrierung, lässt sich aber auch bei weniger sichtbaren Mechanismen sozialer Kontrolle beobachten. So kommt es zur Herausbildung von Mechanismen, die das Individuum selbst "befähigen" sollen, sich gemäß den Anforderungen einer flexiblen und mobilen Lebenswelt konform zu verhalten. Diese werden ergänzt durch instrumentelle Kontrolltechniken, die unabhängig vom konkreten Individuum für die Sicherung einer sozialen Ordnung sorgen und sich nicht auf die Feststellung und Kontrolle von abweichendem Verhalten beschränken. Darüber hinaus erfahren Ausschlusstechniken als Mechanismen sozialer Kontrolle eine Renaissance, die als Entsprechung zu sich ausbreitenden Formen sozialer Ausschließung angesehen werden können. Die auf Resozialisierung und Behandlung des/der Delinquenten/in ausgerichtete Disziplinierung, wie sie für die wohlfahrtsstaatliche Sozialkontrolle paradigmatisch war, bleibt daneben teilweise erhalten.

Techniken und Prozesse der Selbstführung

Der mit der Individualisierung und Flexibilisierung der Lebenswelten einhergehende Bedeutungsrückgang bürgerlich-gesamtgesellschaftlicher Normen- und Wertsysteme, der mit dem Rückzug sozialer Strukturen verbundene Verlust an Kontrolle im sozialen Nahraum und die zunehmende Ökonomisierung des Sozialen im Rahmen einer kapitalistischen Globalisierung bedingen die Herausbildung von Selbstführungstechniken, durch die das Individuum ohne sichtbaren äußeren Zwang dazu angehalten wird, sich normkonform zu verhalten. Die konkrete Funktion von Selbstführungstechniken besteht dabei "lediglich" in der Anleitung zur Selbstregelung des eigenen Lebens und der eher subtilen und informellen Vermittlung der anzunehmenden Verhaltensstandards und ihrer Notwendigkeit. Diese Techniken zielen nicht auf die disziplinierende Vermittlung von Normen, sondern auf eine manipulative Lenkung, wobei die von jeder/m selbst vollzogene Einsicht in die von strukturellen Rahmenbedingungen hergestellte Notwendigkeit einen konkreten Zwang und eine obrigkeitsstaatliche Ordnungsproduktion entbehrlich macht.9 Das eigene Verhalten wird an antizipierte Standards angepasst, ohne dass es einer expliziten oder aktualisierten Drohkulisse bedarf.
Eine deutliche Ausprägung von Selbstführungstechniken besteht im steigenden Zwang zur individuellen Abarbeitung komplizierter werdender Handlungsanforderungen zur Sicherung des eigenen Überlebens. Den Einzelnen stehen zwar mehr Freiräume offen; gleichzeitig wird ihnen aber ein hohes Maß an Flexibilität zugunsten wirtschaftlicher Verwertbarkeit abverlangt. Sie müssen zwischen verschiedenen Identitäten wechseln und sich auf wandelnde Situationen und Kontexte einstellen. Wer diesen Anforderungen nicht gerecht wird, ist von Ausgrenzung und Scheitern in wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Prozessen bedroht. In Verbindung mit Autonomie, Entsolidarisierung und Verlagerung von Verantwortung auf den/die EinzelneN schreibt sich die marktwirtschaftliche Risikologik unmittelbar in das Handeln und Denken der Individuen ein.10 Wichtiges Mittel zur Führung und Kontrolle ist dabei der interne Wettbewerb, der zu einem ständigen Zwang zur Modulation des eigenen Lebens und einem Streben nach Optimierung der eigenen Verwertungschancen führt. Gerade im flexiblen Unternehmen, wo die Notwendigkeit der Leistungs- und Produktivitätssteigerung verinnerlicht ist, nutzt der Zwang zur Flexibilität einerseits die Angst vor dem sozialen Abstieg aus, wie er andererseits auch selbst neue Verunsicherung hervorruft.11 Selbstführungstechniken werden aber auch sichtbar in dem Zwang zum lebenslangen Lernen und dem ständigen Streben nach Optimierung der eigenen Verwertungschancen. Techniken der Selbstführung werden aber vor allem auf der Ebene des Alltags wirksam, wenn es darum geht, Verhaltens-, Konsum- und Kleidungskodizes zu antizipieren, die besondere Anforderungen an den/die EinzelneN stellen, da sie nicht mehr universell aufgestellt werden, sondern je nach Kontext enorm voneinander abweichen können.

Techniken instrumenteller Kontrolle

Ergänzt werden die Selbstführungstechniken durch Mechanismen instrumenteller Kontrolle.12 Dazu können zunächst die klassischen Strategien der Überwachung gezählt werden, die sich durch eine asymmetrische Beziehung zwischen zu Überwachenden und ÜberwacherInnen auszeichnen und damit einen hierarchischen Charakter aufweisen. Ihr Zweck besteht vor allem in der Feststellung von Abweichung und der Überführung des/der DelinquentIn. Darüber hinaus haben sich neue Kontrolltechniken herausgebildet, deren Wirkung unmittelbarer erfolgt und die direkt auf die Schaffung von Sicherheit im Sinne der (Wieder-)Herstellung von sozialer Ordnung abzielen.13 Ihr Hauptzweck besteht demnach nicht mehr in der Überwachung der Einhaltung von Normen und der Bereitstellung von Informationen für eine Intervention bei Normverstoß. Die neuen Kontrolltechniken sollen stattdessen die Normübertretung, die Abweichung schon im Vorfeld verhindern.
Paradigmatisch hierfür stehen situative Kontrolltechniken. Sie verändern räumlich-zeitliche Situationen derart, dass die Wahrscheinlichkeit unerwünschter Handlungen minimiert wird. Sie zielen demnach nicht mehr auf die Verinnerlichung von Normen und Werten ab, sondern auf die Gewährleistung einer Anpassung an variierende Verhaltensstandards.14 Dazu gehören Techniken wie die Videoüberwachung, bestimmte Einsatzformen von RFID-Chips und des Global Positioning Systems (GPS), Verdachts unabhängige Personen- und Zutrittskontrollen, automatisierte Gesichtserkennung, algorithmengestützte Alarmierung bei Szenen abweichenden Verhaltens, elektronische Fußfesseln, Einzäunungen und die Einschreibung von Sicherheitsanforderungen in Gebäude und Räume. Sie können, wie beispielsweise die Videoüberwachung und die Zutrittskontrollen, auch zur Detektion von Abweichung und damit zur Überwachung eingesetzt werden. Ihr Hauptzweck ist aber proaktiv statt reaktiv: Die Veränderung der Umwelt nach sicherheitstechnischen Parametern und die damit verbundene Sicherstellung der Beherrschung von Räumen und Personen.
Voraussetzung für ihre Anwendung ist der Einsatz moderner Formen der Datenverarbeitung, mit denen Risikoträger und risikoträchtige Parameter identifiziert werden können und die selbst der Verhaltenskontrolle dienen, indem sie durch die Generierung von Risikowissen in Form von personenbezogenen Daten den Betroffenen ein Gefühl der umfassenden Kontrolle vermitteln und damit die Bereitschaft zur Normkonformität erhöhen. Grundlage ihrer Konzeption ist die Annahme einer Allgegenwart von Risiko und Delinquenz, deren Ursachen nicht in einer individuellen Pathologie zu verorten sind, sondern sich als Ausdruck eines rationalen Nutzen-Kosten-Kalküls im Sinne der ökonomischen Verhaltenstheorie darstellen.

Disziplinierende Intervention

Die Disziplinierung, die als zentrale Technik sozialer Kontrolle des 19. und frühen 20. Jahrhunderts angesehen werden kann, wird von den im Gegensatz dazu allgegenwärtig und manipulativ wirkenden Mechanismen der Selbstführung und den Techniken instrumenteller Kontrolle nicht verdrängt, sondern bleibt als Ergänzung bestehen, verliert aber an Bedeutung. Zentrale Voraussetzung für den Einsatz von Disziplinierungstechniken ist die Überwachung der Einzelnen und die Abgleichung ihres Verhaltens an einer allgemeingültigen Werteskala. Wird eine Normverletzung festgestellt, so führt dies zu einer Sanktionierung, die auf eine Verinnerlichung der Normen abzielt; ein Prozess, der auch als Normierung bezeichnet wird. Durch die Sanktionierung abweichenden Verhaltens konstituiert die Disziplin eine feste Ordnung. Dabei führt nicht schon die Festlegung von Verhaltensregeln durch den Staat zu einer Disziplinierung, sondern erst die Verbindung repressiver Disziplinarmaßnahmen mit der Vermittlung normativer Sittengesetze durch weltliche Obrigkeiten.15 Gewalt, Zwang und ein festes Normensystem sind damit Grundlage der Disziplinierung. Als Disziplinierungstechniken können vor allem die formellen strafrechtlichen Sanktionen, Tadel und Verweise im Schulsystem und die Abmahnung oder Entlassung im Bereich der Lohnarbeit klassifiziert werden.

Ausschlussstrategien

Neben den Selbstführungs-, Kontroll- und Disziplinierungstechniken kommen zunehmend Techniken des sicherheitspolitischen Ausschlusses zum Einsatz, die mit Formen der sozialen Ausschließung und Ausgrenzung korrespondieren.16 Sie zielen vorwiegend darauf ab, den Betroffenen gesellschaftliche Partizipationsmöglichkeiten vorzuenthalten oder Personen(-gruppen) aufgrund ihrer Klassifizierung als unerwünscht oder potenziell "gefährlich" von bestimmten Orten und Räumen fernzuhalten. Der Ausschluss kann permanent erfolgen, beispielsweise durch lebenslanges Wegschließen oder das Einsperren in Lager. Er kann aber auch zeitlich und örtlich begrenzt werden, indem beispielsweise für bestimmte Räume Betretungsverbote verhängt werden.
Mit dem Ausschluss sollen - ebenso wie mit den Kontrolltechniken - keine Einstellungs- oder Verhaltensänderungen hervorgerufen werden. Er dient vorwiegend der Risikoabwehr, der Vorbeugung und der Vergeltung. Damit sollen die gravierenden Folgen der ökonomischen Transformationsprozesse, die vor allem in einer neuen Unterklasse, verarmten MigrantInnen und gefährlichen Jugendlichen personifiziert werden, ferngehalten werden. Darüber hinaus sind sie Ausdruck moralisch-fundamentalistischer Gesellschaftsvorstellungen und dienen insofern einerseits zur Umsetzung repressiver Sicherheitskonzepte und andererseits der Absicherung der Funktionsfähigkeit von Kontroll- und Selbstführungsmechanismen.17
Am deutlichsten zeigt sich der Ausschluss im Umgang mit MigrantInnen an den EU-Außengrenzen und an der Südgrenze der USA sowie in den Konzepten der Incapacitation18 und der Sicherungsverwahrung. Incapacitation ("Unschädlichmachung") ist Folge eines Funktionswandels der Freiheitsstrafe, die vor allem in den USA nicht mehr auf eine Resozialisierung und Besserung setzt, sondern sich in dem reinen Wegsperren der "Gefährlichen" erschöpft. Diese Tendenz ist auch in Deutschland zu beobachten, wie sich an den gestiegenen Gefangenenzahlen und einer neuen Strafhärte ablesen lässt,19 wenngleich sie in Qualität und Quantität nicht mit der US-amerikanischen Entwicklung gleichgesetzt werden kann. Auch die Sicherungsverwahrung als schärfste Sanktion und quasi institutionalisierter Ausschluss wurde in Deutschland - parallel zur Wiederentdeckung der "Karrierekriminellen" und "gefährlichen Triebtäter" durch die Kriminologie - im vergangenen Jahrzehnt in der gesetzlichen Ausgestaltung und der praktischen Anwendung deutlich ausgeweitet: Die Zahl der Sicherungsverwahrten stieg von 184 im Jahr 1993 auf 324 im Jahre 2004.20
Räumlich spezifiziert und zeitlich begrenzt erfolgt ein sicherheitspolitischer Ausschluss beispielsweise über Gefahrenabwehrverordnungen, die soziale Randgruppen ausgrenzen, indem sie bestimmte Verhaltensweisen wie Nächtigen, Alkoholkonsum, Betteln und teilweise auch die Ausübung von Sportarten (Skaten) kriminalisieren. In diese Kategorie gehören ebenso Ausgangssperren, Betretungs- und Aufenthaltsverbote. Die Privatisierung von öffentlichen Räumen und der Einsatz von privaten Sicherheitsdiensten forcieren dabei Ausgrenzungstendenzen.

Funktion und Zusammenspiel

Obwohl sich diese alten und neuen Techniken sozialer Kontrolle in ihrer Konzeption und Wirkungsweise deutlich unterscheiden, wirken sie doch funktional zusammen und gehen ineinander über. Sie lassen sich so als Mechanismen einer neuen Formation sozialer Kontrolle begreifen, die mit dem beschriebenen gesellschaftlichen Wandel korrespondieren.
Aus dieser Perspektive können Selbstführungs- und instrumentelle Kontrolltechniken als Ausdruck eines ökonomischen Menschenbildes betrachtet werden. Dies schlägt sich beispielsweise im steigenden Einfluss der Rational Choice-Theorie in Kriminologie und Kriminalpolitik nieder, die Parallelen zur einflussreichen neoliberalen Ideologie aufweist.21 Während mit dieser Theorie der Rationalen Wahl eher grundsätzlich amoralische Kontrolltechniken begründet werden, die jedeN EinzelneN als potentielle Gefahr und als DelinquentIn ansehen und daher auch potentiell alle erfassen wollen, basieren Ausschlussstrategien vornehmlich auf religiös-moralischen Gesellschaftsvorstellungen eines neuen Konservatismus und Fundamentalismus. Diese machen vor allem die soziokulturellen Veränderungen seit den 1960er Jahren für steigende Kriminalitätsraten und einen allgemeinen Werteverfall verantwortlich und propagieren eine Renaissance von Werten und Institutionen wie Religiosität, Familie, Ehre und Vaterland zur Bearbeitung gesellschaftlicher Konflikte. Ein derart moralisch-religiöser Konservatismus verlangt damit einerseits die Ausgrenzung der "gefährlichen Überflüssigen", die sich nicht an den propagierten Wertekodex halten, um damit andererseits zugleich den (noch) gesellschaftlich Integrierten ihre Zugehörigkeit zur Mehrheitsgesellschaft zu versichern.22 Obgleich sich die vorgebliche Amoralität und Wertneutralität neoliberaler Inhalte und ein religiös fundierter Konservatismus zu widersprechen scheinen, ergänzen sich ihre Konzepte und verschiedenen Mechanismen im Bereich sozialer Kontrolle, da die einzelnen Maßnahmen auf jeweils andere Situationen und Personengruppen ausgerichtet sind.

Selbstführungstechniken als eine erste Stufe sozialer Kontrolle richten sich vor allem an diejenigen, die sich als integrierter Teil der Gesellschaft begreifen oder sich zumindest noch eine Chance auf Integration ausrechnen. Techniken instrumenteller Kontrolle setzen demgegenüber zwar auch grundsätzlich die Fähigkeit bzw. den Willen des Individuums voraus, sich konform zu verhalten; sie funktionieren aber eher als Fremdführung, indem sie durch Kontrolle und situative Manipulation das Befolgen von Verhaltensanforderungen sicherstellen. Sie sind Ausdruck einer allumfassenden Risikologik und eines darauf fußenden generellen Misstrauens. Die westlichen Gesellschaften sind gegenwärtig aber nur zum Teil in der Lage, ihren Mitgliedern die Grundlage für ein den Verhaltensanforderungen gemäßes selbstkontrolliertes Handeln zu bieten, da ein größer werdender Teil der Bevölkerung ökonomisch ausgeschlossen und sozial desintegriert ist. Dieser Teil ist nur begrenzt für die Versprechen einer neoliberal geprägten Wirtschaftsordnung empfänglich und daher nur bedingt dazu in der Lage bzw. bereit, sich ökonomischen Verwertungszwängen zu unterwerfen und damit verbundenen sozialen Verhaltensanforderungen zu entsprechen. Können Selbstführungs- und instrumentelle Kontrolltechniken die Normeinhaltung nicht gewährleisten, wird bei Feststellung von Verstößen interveniert. Die Reaktion variiert dabei je nach DelinquentIn und der Art und Häufigkeit der Regelverletzung. Handelt es sich um eine Person, die als gesellschaftlich integriert angesehen wird und bei der vorausgesetzt werden kann, dass sie die gesellschaftliche Ordnung und die ihr zugrunde liegenden Werte anerkennt, so wird eher mit Mitteln der Disziplinierung und Besserung reagiert, da in diesem Fall der/die DelinquentIn als anpassungsfähig angesehen wird. Handelt es sich dagegen um jemanden, dem verschiedene Risikofaktoren zugeschrieben werden und der deswegen als "gefährlicher Überflüssiger" klassifiziert wird, so werden Techniken des Ausschlusses eingesetzt, die die Betroffenen fernhalten und ausgrenzen.23

Komplementäres Zusammenwirken

Dieses Zusammenspiel der einzelnen Mechanismen lässt sich wiederum am Beispiel der Shopping Mall verdeutlichen. Grundsätzlich sind Individuen an solchen Orten dazu angehalten, sich selbst den aufgestellten situationsabhängigen Anforderungen entsprechend zu verhalten. Zur Verdeutlichung und situationsabhängigen Durchsetzung dessen werden Kontrolltechniken installiert, die abweichendes Verhalten verunmöglichen oder zumindest erschweren sollen. Dazu gehören die Beschränkung der Möglichkeiten des Rauchens und des Sitzens, helle Ausleuchtung der Räume, eine übersichtliche Raumgestaltung, die Installierung von Videokameras und das Patrouillieren eines privaten Sicherheitsdienstes. Damit wird einerseits die Möglichkeit störenden Verhaltens minimiert, etwa in Form eines längeren, nicht konsum-orientierten Aufenthaltes in der Shopping Mall auf einer Sitzbank. Andererseits wird der/dem BesucherIn kommuniziert, dass Störungen sofort entdeckt werden. Ist dies der Fall, wird die betreffende Person seitens des Sicherheitsdienstes zunächst ermahnt in der Erwartung, dass sie sich zukünftig konform verhält. Bei schweren oder wiederholten Verstößen kann sodann eine Sanktionierung erfolgen. Gehört die/der Betroffene einer Risikogruppe an - ist sie/er etwa JugendlicheR, AngehörigeR einer ethnischen Minorität, offensichtlich arm oder gehäuft als "StörerIn" identifiziert - kann ein Ausschluss beispielsweise durch Erteilung eines Hausverbots erfolgen. Die Grenzen zwischen Ausschluss und Integration werden dabei ständig neu geschrieben. Dies wird schon daran deutlich, dass einige Shopping Malls in ihren Hausordnungen einen "unnötigen" Aufenthalt untersagen, ohne diesen näher zu spezifizieren.
Das komplementäre Zusammenwirken der beschriebenen einzelnen Techniken manifestiert sich schließlich auch darin, dass die Wirksamkeit von Selbstführungs- und instrumentellen Kontrolltechniken wesentlich auf der expliziten oder impliziten Drohung mit sozialer Ausgrenzung und sicherheitspolitischem Ausschluss aufbaut. Die "Einsicht in die Notwendigkeit" und die antizipierte Befolgung von Verhaltensanforderungen funktionieren aufgrund der Drohkulisse eines möglichen gesellschaftlichen Ausschlusses. In umgekehrter Richtung begünstigen aber Selbstführungstechniken auch die Praxis sozialer Ausschließung. Denn sie befähigen nicht nur einen wesentlichen Teil der Bevölkerung dazu, die aufgestellten Anforderungen zu erfüllen und sich entsprechend zu verhalten, sondern führen auch zu einer Verengung der Gemeinschaft. Diejenigen, die sich zur "wohlanständigen" Mehrheit zählen (können), wollen nicht der wachsenden Minderheit der "RisikoträgerInnen" zugerechnet werden, und sind an deren Ausgrenzung aktiv beteiligt.

Eine neue Sozialkontrolle

Soziale Kontrolle hat sich grundlegend gewandelt. Dies betrifft ihre gesellschaftlichen Bedingungen als Grundlagen und ihre Ziele ebenso wie die daraus entstehenden Mechanismen. Neben die bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts dominante Disziplinierung treten Selbstführungstechniken, Techniken instrumenteller Kontrolle und Strategien des Ausschlusses. Diese sind zwar keine vollständig neuen Erscheinungen, sie gewinnen jedoch gegenüber der Disziplinierung und der strafenden Wohlfahrt an Bedeutung, ohne diese vollständig zu verdrängen. Die somit gegenwärtig zu beobachtenden teilweise widersprüchlichen und mit konträren Zielsetzungen verbundenen Mechanismen sozialer Kontrolle ergeben in ihrer Zusammenschau ein recht kohärentes Zusammenspiel, in dem die einzelnen Strategien zwar unterschiedliche Bereiche abdecken, aber trotzdem aufeinander aufbauen, so dass von einem sich ergänzenden Zusammenwirken von Selbstführung, Kontrolle, Disziplinierung und Ausschluss gesprochen werden kann. Diese gleichwohl von Brüchen und Widersprüchen gekennzeichneten neue Formation sozialer Kontrolle ist Ausdruck der gesellschaftlichen Transformationsprozess der vergangenen Jahre und Jahrzehnte und nur vor diesem Hintergrund zu verstehen. Hieran müssen sich auch Strategien politischer Intervention orientieren, die auf lange Sicht nur erfolgreich sein können, wenn sie anstatt einzelnen Verschärfungen im Sicherheitsbereich deren gesellschaftliche Grundlagen thematisieren.

Peer Stolle war Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Dresden und ist derzeit Rechtsreferendar in Berlin. Tobias Singelnstein ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter und promoviert an der Freien Universität Berlin. Von den Autoren ist im Februar 2006 zum Thema das Buch "Die Sicherheitsgesellschaft. Soziale Kontrolle im 21. Jahrhundert." beim VS Verlag (Wiesbaden) erschienen.

Anmerkungen:

1 Vgl. Singelnstein / Stolle 2006, 25 ff.
2 Vgl. Rehbinder, Manfred, Rechtssoziologie, 5. Aufl. 2003, 116.
3 Garland 2001; Singelnstein / Stolle 2006, 17 ff.
4 Nogala 2000, 77 f.
5 Albrecht, Peter-Alexis, Kriminologie, 3. Aufl. 2005, 139 f.
6 Vgl. Hassemer, Winfried, Sicherheitsbedürfnis und Grundrechtsschutz: Umbau des Rechtsstaats?, Strafverteidiger-Forum 2005, 312 (315 f.).
7 Frehsee, Detlev, Der Rechtsstaat verschwindet. Strafrechtliche Kontrolle im gesellschaftlichen Wandel von der Moderne zur Postmoderne, 2003, 254 ff., 341 ff.
8 Singelnstein / Stolle 2006, 33 ff., 43 ff.
9 Lemke, Thomas, Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität, 1997, 186 f.
10 Schmidt-Semisch, Henning, Risiko, in: Bröckling, Ulrich / Krasmann, Susanne / Lemke, Thomas (Hrsg.): Glossar der Gegenwart, 2004.
11 Lindenberg / Schmidt-Semisch 2000.
12 Singelnstein / Stolle 2006, 58 ff.
13 Legnaro 1997, 272.
14 Krasmann, Susanne, Gefährdungsausweitung - Die Kriminologie und die Transformation des Sozialen, in: Pieper, Marianne / Guitiérez Rodríguez, Encarnación (Hrsg.): Gouvernementalität - Ein sozialwissenschaftliches Konzept im Anschluss an Foucault, 2003.
15 Hillebrandt, Frank, Disziplinargesellschaft, in: Kneer, Georg / Nassehi, Armin / Schroer, Markus (Hrsg.), Soziologische Gesellschaftsbegriffe. Konzepte moderner Zeitdiagnosen, 1997, 104, 119.
16 S. bereits Steinert, Heinz, Soziale Ausschließung - Das richtige Thema zur richtigen Zeit, Kriminologisches Journal 1995, 82 ff.
17 Singelnstein / Stolle 2006, 64 ff.
18 Kunz, Karl-Ludwig, Kriminologie, 3. Aufl. 2001, 353 f.
19 Suhling, Stefan / Schott, Tilmann, Der Anstieg der Gefangenenzahlen in Deutschland - Folge der Kriminalitätsentwicklung oder wachsender Strafhärte?, 2001, 51 ff.
20 Vgl. Eisenberg, Kriminologie, 6. Aufl. 2005, S. 449 ff.; Strafvollzugsstatistik (Statistisches Bundesamt [Hrsg.]: Fachserie 10, Rechtspflege, Reihe 4, Strafvollzug), Tab. 5, Stichtag 31.3.
21 Kunz, Karl-Ludwig, Kriminologie, 3. Aufl. 2001, 197 ff.
22 Singelnstein / Stolle 2006, 69 ff.
23 Lindenberg / Schmidt-Semisch 2000, 307.

Literatur:

Garland, David, The Culture of Control, 2001.
Legnaro, Aldo, Konturen der Sicherheitsgesellschaft. Eine polemisch-futurologische Skizze, Leviathan 1997, 271 ff.
Lindenberg, Michael / Schmidt-Semisch, Henning, Komplementäre Konkurrenz in der Sicherheitsgesellschaft. Überlegungen zum Zusammenwirken staatlicher und kommerzieller Sozialer Kontrolle, Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 2000, 306 ff.
Nogala, Detlef, Gating the Rich - Barcoding the Poor: Konturen einer neoliberalen Sicherheitskonfiguration, in: Ludwig-Mayerhofer, Wolfgang (Hrsg.): Soziale Ungleichheit, Kriminalität und Kriminalisierung, 2000.
Singelnstein, Tobias / Stolle, Peer, Die Sicherheitsgesellschaft. Soziale Kontrolle im 21. Jahrhundert, 2006.

( Bei dem Artikel handelt es sich um die überarbeitete Version eines Beitrages, der im Sommer 2006 in dem Sammelband Zurawski, Nils (Hrsg.), "Sicherheitsdiskurse. Angst, Kontrolle und Sicherheit in einer ‚gefährlichen' Welt" im Peter Lang Verlag erscheint.