In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten haben tief greifende gesellschaftliche
Transformationsprozesse stattgefunden. Diese manifestieren sich zum einen
in einem grundlegenden wirtschaftlichen Wandel. Zum anderen gehen damit
wesentliche Veränderungen des sozialen und kulturellen Lebens - vor allem
in den Industriestaaten - einher, die zu einer sich verändernden Sozialstruktur
führen. Dieser Wandel wirkt sich auch auf die Bedingungen aus, unter denen
soziale Kontrolle ausgeübt wird, sowie auf die damit verfolgten Ziele.1
Im Folgenden soll nachgezeichnet werden, inwieweit sich vor diesem Hintergrund
neue Mechanismen und Techniken sozialer Kontrolle herausbilden, wie diese
klassifiziert werden können und wie sich diese Veränderungen in der Praxis
darstellen. Gesellschaftliche Transformationsprozesse Zugleich wirken sich die beschriebenen soziokulturellen Veränderungen
auch auf die Grundlagen und das Verhältnis von Sozial- und Systemintegration
aus, d.h. auf die Integration des/der Einzelnen in die Gesellschaft im
Verhältnis zum Zusammenhalt und Funktionieren der Gesellschaft insgesamt.5
Insbesondere die Vervielfältigung der sozialen und kulturellen Lebensstile
und die Individualisierung der Lebensweise führen dazu, dass sich die
Individuen nicht mehr durchgängig an einem zentralen und alle gesellschaftlichen
Bereiche umfassenden Normengefüge orientieren.6 Eine präzise Unterscheidung
zwischen normal und anormal ist infolgedessen nur noch bedingt möglich,7
da über fundamentale moralische Grundsätze, die Grundlage eines jeden
Normensystems sind, kein gesellschaftlicher Konsens mehr besteht. Gleichzeitig
bieten technologische Entwicklungen neue Möglichkeiten der Überwachung
und Kontrolle. Vor diesem Hintergrund führt eine sich etablierende Rationalität
der Sicherheit zu einem grundlegend veränderten Bild vom Gegenstand, den
Zielen und Zwecken sozialer Kontrolle. Diese setzt zunehmend weniger auf
die Verantwortlichkeit und Disziplinierung von Individuen, sondern geht
von einer Normalität von Abweichung aus. Infolgedessen rückt die Handhabung
von Risikogruppen Hand in Hand mit einem repressiven Moralismus fundamentalistischer
Prägung in den Vordergrund. Dabei gewinnen die Ideologie des Neoliberalismus
und ein religiös-fundamentalistischer Konservatismus an Einfluss und prägen
die sich herausbildende neue Formation sozialer Kontrolle.8 Anpassung der Mechanismen sozialer Kontrolle Infolge der so gewandelten gesellschaftlichen Bedingungen, Grundlagen und Ziele sozialer Kontrolle unterliegen auch deren Mechanismen und Techniken einer Veränderung. Dies zeigt sich bereits im Aufkommen immer neuer Techniken der Überwachung und Registrierung, lässt sich aber auch bei weniger sichtbaren Mechanismen sozialer Kontrolle beobachten. So kommt es zur Herausbildung von Mechanismen, die das Individuum selbst "befähigen" sollen, sich gemäß den Anforderungen einer flexiblen und mobilen Lebenswelt konform zu verhalten. Diese werden ergänzt durch instrumentelle Kontrolltechniken, die unabhängig vom konkreten Individuum für die Sicherung einer sozialen Ordnung sorgen und sich nicht auf die Feststellung und Kontrolle von abweichendem Verhalten beschränken. Darüber hinaus erfahren Ausschlusstechniken als Mechanismen sozialer Kontrolle eine Renaissance, die als Entsprechung zu sich ausbreitenden Formen sozialer Ausschließung angesehen werden können. Die auf Resozialisierung und Behandlung des/der Delinquenten/in ausgerichtete Disziplinierung, wie sie für die wohlfahrtsstaatliche Sozialkontrolle paradigmatisch war, bleibt daneben teilweise erhalten. Techniken und Prozesse der Selbstführung Der mit der Individualisierung und Flexibilisierung der Lebenswelten
einhergehende Bedeutungsrückgang bürgerlich-gesamtgesellschaftlicher Normen-
und Wertsysteme, der mit dem Rückzug sozialer Strukturen verbundene Verlust
an Kontrolle im sozialen Nahraum und die zunehmende Ökonomisierung des
Sozialen im Rahmen einer kapitalistischen Globalisierung bedingen die
Herausbildung von Selbstführungstechniken, durch die das Individuum ohne
sichtbaren äußeren Zwang dazu angehalten wird, sich normkonform zu verhalten.
Die konkrete Funktion von Selbstführungstechniken besteht dabei "lediglich"
in der Anleitung zur Selbstregelung des eigenen Lebens und der eher subtilen
und informellen Vermittlung der anzunehmenden Verhaltensstandards und
ihrer Notwendigkeit. Diese Techniken zielen nicht auf die disziplinierende
Vermittlung von Normen, sondern auf eine manipulative Lenkung, wobei die
von jeder/m selbst vollzogene Einsicht in die von strukturellen Rahmenbedingungen
hergestellte Notwendigkeit einen konkreten Zwang und eine obrigkeitsstaatliche
Ordnungsproduktion entbehrlich macht.9 Das eigene Verhalten wird an antizipierte
Standards angepasst, ohne dass es einer expliziten oder aktualisierten
Drohkulisse bedarf. Techniken instrumenteller Kontrolle Ergänzt werden die Selbstführungstechniken durch Mechanismen instrumenteller
Kontrolle.12 Dazu können zunächst die klassischen Strategien der Überwachung
gezählt werden, die sich durch eine asymmetrische Beziehung zwischen zu
Überwachenden und ÜberwacherInnen auszeichnen und damit einen hierarchischen
Charakter aufweisen. Ihr Zweck besteht vor allem in der Feststellung von
Abweichung und der Überführung des/der DelinquentIn. Darüber hinaus haben
sich neue Kontrolltechniken herausgebildet, deren Wirkung unmittelbarer
erfolgt und die direkt auf die Schaffung von Sicherheit im Sinne der (Wieder-)Herstellung
von sozialer Ordnung abzielen.13 Ihr Hauptzweck besteht demnach nicht
mehr in der Überwachung der Einhaltung von Normen und der Bereitstellung
von Informationen für eine Intervention bei Normverstoß. Die neuen Kontrolltechniken
sollen stattdessen die Normübertretung, die Abweichung schon im Vorfeld
verhindern. Disziplinierende Intervention Die Disziplinierung, die als zentrale Technik sozialer Kontrolle des 19. und frühen 20. Jahrhunderts angesehen werden kann, wird von den im Gegensatz dazu allgegenwärtig und manipulativ wirkenden Mechanismen der Selbstführung und den Techniken instrumenteller Kontrolle nicht verdrängt, sondern bleibt als Ergänzung bestehen, verliert aber an Bedeutung. Zentrale Voraussetzung für den Einsatz von Disziplinierungstechniken ist die Überwachung der Einzelnen und die Abgleichung ihres Verhaltens an einer allgemeingültigen Werteskala. Wird eine Normverletzung festgestellt, so führt dies zu einer Sanktionierung, die auf eine Verinnerlichung der Normen abzielt; ein Prozess, der auch als Normierung bezeichnet wird. Durch die Sanktionierung abweichenden Verhaltens konstituiert die Disziplin eine feste Ordnung. Dabei führt nicht schon die Festlegung von Verhaltensregeln durch den Staat zu einer Disziplinierung, sondern erst die Verbindung repressiver Disziplinarmaßnahmen mit der Vermittlung normativer Sittengesetze durch weltliche Obrigkeiten.15 Gewalt, Zwang und ein festes Normensystem sind damit Grundlage der Disziplinierung. Als Disziplinierungstechniken können vor allem die formellen strafrechtlichen Sanktionen, Tadel und Verweise im Schulsystem und die Abmahnung oder Entlassung im Bereich der Lohnarbeit klassifiziert werden. Ausschlussstrategien Neben den Selbstführungs-, Kontroll- und Disziplinierungstechniken kommen
zunehmend Techniken des sicherheitspolitischen Ausschlusses zum Einsatz,
die mit Formen der sozialen Ausschließung und Ausgrenzung korrespondieren.16
Sie zielen vorwiegend darauf ab, den Betroffenen gesellschaftliche Partizipationsmöglichkeiten
vorzuenthalten oder Personen(-gruppen) aufgrund ihrer Klassifizierung
als unerwünscht oder potenziell "gefährlich" von bestimmten Orten und
Räumen fernzuhalten. Der Ausschluss kann permanent erfolgen, beispielsweise
durch lebenslanges Wegschließen oder das Einsperren in Lager. Er kann
aber auch zeitlich und örtlich begrenzt werden, indem beispielsweise für
bestimmte Räume Betretungsverbote verhängt werden. Funktion und Zusammenspiel Obwohl sich diese alten und neuen Techniken sozialer Kontrolle in ihrer
Konzeption und Wirkungsweise deutlich unterscheiden, wirken sie doch funktional
zusammen und gehen ineinander über. Sie lassen sich so als Mechanismen
einer neuen Formation sozialer Kontrolle begreifen, die mit dem beschriebenen
gesellschaftlichen Wandel korrespondieren. Selbstführungstechniken als eine erste Stufe sozialer Kontrolle richten sich vor allem an diejenigen, die sich als integrierter Teil der Gesellschaft begreifen oder sich zumindest noch eine Chance auf Integration ausrechnen. Techniken instrumenteller Kontrolle setzen demgegenüber zwar auch grundsätzlich die Fähigkeit bzw. den Willen des Individuums voraus, sich konform zu verhalten; sie funktionieren aber eher als Fremdführung, indem sie durch Kontrolle und situative Manipulation das Befolgen von Verhaltensanforderungen sicherstellen. Sie sind Ausdruck einer allumfassenden Risikologik und eines darauf fußenden generellen Misstrauens. Die westlichen Gesellschaften sind gegenwärtig aber nur zum Teil in der Lage, ihren Mitgliedern die Grundlage für ein den Verhaltensanforderungen gemäßes selbstkontrolliertes Handeln zu bieten, da ein größer werdender Teil der Bevölkerung ökonomisch ausgeschlossen und sozial desintegriert ist. Dieser Teil ist nur begrenzt für die Versprechen einer neoliberal geprägten Wirtschaftsordnung empfänglich und daher nur bedingt dazu in der Lage bzw. bereit, sich ökonomischen Verwertungszwängen zu unterwerfen und damit verbundenen sozialen Verhaltensanforderungen zu entsprechen. Können Selbstführungs- und instrumentelle Kontrolltechniken die Normeinhaltung nicht gewährleisten, wird bei Feststellung von Verstößen interveniert. Die Reaktion variiert dabei je nach DelinquentIn und der Art und Häufigkeit der Regelverletzung. Handelt es sich um eine Person, die als gesellschaftlich integriert angesehen wird und bei der vorausgesetzt werden kann, dass sie die gesellschaftliche Ordnung und die ihr zugrunde liegenden Werte anerkennt, so wird eher mit Mitteln der Disziplinierung und Besserung reagiert, da in diesem Fall der/die DelinquentIn als anpassungsfähig angesehen wird. Handelt es sich dagegen um jemanden, dem verschiedene Risikofaktoren zugeschrieben werden und der deswegen als "gefährlicher Überflüssiger" klassifiziert wird, so werden Techniken des Ausschlusses eingesetzt, die die Betroffenen fernhalten und ausgrenzen.23 Komplementäres Zusammenwirken Dieses Zusammenspiel der einzelnen Mechanismen lässt sich wiederum am
Beispiel der Shopping Mall verdeutlichen. Grundsätzlich sind Individuen
an solchen Orten dazu angehalten, sich selbst den aufgestellten situationsabhängigen
Anforderungen entsprechend zu verhalten. Zur Verdeutlichung und situationsabhängigen
Durchsetzung dessen werden Kontrolltechniken installiert, die abweichendes
Verhalten verunmöglichen oder zumindest erschweren sollen. Dazu gehören
die Beschränkung der Möglichkeiten des Rauchens und des Sitzens, helle
Ausleuchtung der Räume, eine übersichtliche Raumgestaltung, die Installierung
von Videokameras und das Patrouillieren eines privaten Sicherheitsdienstes.
Damit wird einerseits die Möglichkeit störenden Verhaltens minimiert,
etwa in Form eines längeren, nicht konsum-orientierten Aufenthaltes in
der Shopping Mall auf einer Sitzbank. Andererseits wird der/dem BesucherIn
kommuniziert, dass Störungen sofort entdeckt werden. Ist dies der Fall,
wird die betreffende Person seitens des Sicherheitsdienstes zunächst ermahnt
in der Erwartung, dass sie sich zukünftig konform verhält. Bei schweren
oder wiederholten Verstößen kann sodann eine Sanktionierung erfolgen.
Gehört die/der Betroffene einer Risikogruppe an - ist sie/er etwa JugendlicheR,
AngehörigeR einer ethnischen Minorität, offensichtlich arm oder gehäuft
als "StörerIn" identifiziert - kann ein Ausschluss beispielsweise durch
Erteilung eines Hausverbots erfolgen. Die Grenzen zwischen Ausschluss
und Integration werden dabei ständig neu geschrieben. Dies wird schon
daran deutlich, dass einige Shopping Malls in ihren Hausordnungen einen
"unnötigen" Aufenthalt untersagen, ohne diesen näher zu spezifizieren.
Eine neue Sozialkontrolle Soziale Kontrolle hat sich grundlegend gewandelt. Dies betrifft ihre gesellschaftlichen Bedingungen als Grundlagen und ihre Ziele ebenso wie die daraus entstehenden Mechanismen. Neben die bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts dominante Disziplinierung treten Selbstführungstechniken, Techniken instrumenteller Kontrolle und Strategien des Ausschlusses. Diese sind zwar keine vollständig neuen Erscheinungen, sie gewinnen jedoch gegenüber der Disziplinierung und der strafenden Wohlfahrt an Bedeutung, ohne diese vollständig zu verdrängen. Die somit gegenwärtig zu beobachtenden teilweise widersprüchlichen und mit konträren Zielsetzungen verbundenen Mechanismen sozialer Kontrolle ergeben in ihrer Zusammenschau ein recht kohärentes Zusammenspiel, in dem die einzelnen Strategien zwar unterschiedliche Bereiche abdecken, aber trotzdem aufeinander aufbauen, so dass von einem sich ergänzenden Zusammenwirken von Selbstführung, Kontrolle, Disziplinierung und Ausschluss gesprochen werden kann. Diese gleichwohl von Brüchen und Widersprüchen gekennzeichneten neue Formation sozialer Kontrolle ist Ausdruck der gesellschaftlichen Transformationsprozess der vergangenen Jahre und Jahrzehnte und nur vor diesem Hintergrund zu verstehen. Hieran müssen sich auch Strategien politischer Intervention orientieren, die auf lange Sicht nur erfolgreich sein können, wenn sie anstatt einzelnen Verschärfungen im Sicherheitsbereich deren gesellschaftliche Grundlagen thematisieren. Peer Stolle war Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Dresden und ist derzeit Rechtsreferendar in Berlin. Tobias Singelnstein ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter und promoviert an der Freien Universität Berlin. Von den Autoren ist im Februar 2006 zum Thema das Buch "Die Sicherheitsgesellschaft. Soziale Kontrolle im 21. Jahrhundert." beim VS Verlag (Wiesbaden) erschienen. Anmerkungen: 1 Vgl. Singelnstein / Stolle 2006, 25 ff. Literatur: Garland, David, The Culture of Control, 2001. ( Bei dem Artikel handelt es sich um die überarbeitete Version eines Beitrages, der im Sommer 2006 in dem Sammelband Zurawski, Nils (Hrsg.), "Sicherheitsdiskurse. Angst, Kontrolle und Sicherheit in einer ‚gefährlichen' Welt" im Peter Lang Verlag erscheint.
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