Heft 2/2000:
Mächtig organisiert - Die neue Weltordnung
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Zwischen Seattle und Montreal
Krise des Welthandelsrechts
 

Die Reaktionen hätten kaum ähnlicher, die Anlässe kaum unterschiedlicher sein können: Jubel bei zahlreichen Nichtregierungsorganisationen aus dem Umwelt- und Entwicklungsbereich sowohl über das Ende der WTO-Ministerkonferenz von Seattle am 3. Dezember 1999, als auch über das Ende der UN-Konferenz über biologische Vielfalt von Montreal am 29. Januar 2000. In Seattle begann keine neue Runde von Handelsliberalisierungen; in Montreal einigten sich die Vertragsparteien auf Beschränkungsmöglichkeiten des Handels mit gentechnisch veränderten Organismen.1 Ergebnisse und Begleitumstände beider Konferenzen werfen ein Licht auf die zunehmende Akzeptanzkrise, in die das Regime der weltweiten Handelsliberalisierung geraten ist.

Die WTO als Weltwirtschaftsverfassung?

Am 15. April 1994 wurde in Marrakesch (Marokko) von den Mitgliedstaaten des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (GATT) die Welthandelsorganisation (WTO) gegründet. Sie bildet den organisatorischen Rahmen des neu gefaßten GATT 1994, des allgemeinen Dienstleistungsabkommens (GATS), des Abkommens über handelsbezogene Aspekte des geistigen Eigentums (TRIPs) und zahlreicher Nebenabkommen.2 Ihre institutionelle Besonderheit ist der integrierte Streitschlichtungsmechanismus. Da dessen Entscheidungen nur durch einen Konsens aller WTO-Mitglieder abgelehnt werden können, erlangen sie praktisch automatisch Rechtskraft. Die unterlegenen Staaten werden nicht selten gezwungen, Handelsschranken, die auf nationalen Umwelt- und Gesundheitsschutzgesetzen beruhen, aufzugeben. Zu den spektakulärsten Fällen in diesem Sinne zählten das EG-Importverbot für hormonbehandeltes Rindfleisch und die Weigerung der USA, Krabbenprodukte zu importieren, die mit Methoden gefangen wurden, bei denen Meeresschildkröten zu Tode kamen.3
Die Veränderungen des Welthandelsrechts durch die Gründung der WTO haben verschiedene AutorInnen dazu veranlaßt, in der WTO eine neue "Weltwirtschaftsverfassung" zu sehen.4 Dies wurde in erster Linie mit der Verrechtlichung der internationalen Handelsbeziehungen begründet. Auch wenn die WTO auf Rechtsregeln und nicht auf bloßer Machtpolitik beruht (rule versus power oriented), kann sie trotzdem nicht als Weltwirtschaftsverfassung angesehen werden. Sie ist einseitig auf die Reduzierung von Handelshemmnissen ausgerichtet und verfügt über keine Mechanismen, in denen andere Ziele der internationalen Gemeinschaft (Umweltschutz, Entwicklungspolitik, Schutz sozialer Standards) mit dem Ziel der Handelsliberalisierung im Sinne einer "praktischen Konkordanz" in Einklang gebracht werden könnten.5

Demokratische Legitimation der WTO-Rechtssetzung

Die materiellen Regeln der WTO und die verbindliche Streitbeilegung haben in Teilbereichen der internationalen Wirtschaftsbeziehungen inzwischen eine derartige Bedeutung entfaltet, daß die WTO-Rechtssetzung als dritte Ebene neben die nationale und die europäische Rechtssetzung tritt und diese teilweise überlagert. Dies wirft die Frage nach der Legitimation des WTO-Rechts auf.
Nach traditioneller Auffassung werden völkerrechtliche Verträge durch die Zustimmung des Parlaments zu einem Vertrag und die parlamentarische Kontrolle der Außenpolitik legitimiert. Diese Legitimation weist jedoch aus demokratietheoretischer Sicht strukturelle Defizite auf. Die Parlamente können an dem Vertragsentwurf regelmäßig nichts mehr ändern; sie sehen sich einem außenpolitischen "fait accompli" gegenüber.6 Die einmal getroffene Zustimmung kann - anders als ein innerstaatliches Gesetz - kaum wieder rückgängig gemacht werden, da die Kündigung eines multilateralen Vertrages mit hohen Hürden versehen ist. Auch die Kontrolle der Regierung durch das Parlament ist in internationalen Entscheidungen nur eingeschränkt möglich.
Hinzu kommt, daß den Parlamenten die Bedeutung ihrer Zustimmung oft nicht bewußt ist. Dies zeigte sich deutlich an der Zustimmung des Bundestages zu den WTO-Verträgen.7 Nach Abschluß der Uruguay-Runde blieb ihm angesichts der im Oktober 1994 stattfindenden Bundestagswahl kaum Zeit, sich mit dem Ergebnis der Verhandlungen intensiv zu befassen. In der Ratifikationsdebatte wurde kaum über die WTO, sondern über andere wirtschaftspolitische Themen diskutiert, die im Zusammenhang mit dem Wahlkampf standen. Der Bundestag stimmte dem WTO-Abkommen entsprechend mit nur wenigen Gegenstimmen zu. Mit Ausnahme des US Kongresses ist die Entscheidung in den anderen Parlamenten weitestgehend ähnlich verlaufen.8 Im Ergebnis läßt sich somit ein deutliches Defizit an demokratischer Legitimation für die WTO feststellen.

Partizipation und Transparenz der WTO-Entscheidungsfindung

Auch in der WTO-Entscheidungsfindung zeigen sich Defizite. Am augenfälligsten ist die Diskrepanz zwischen dem formal in der WTO geltenden Prinzip der Konsensentscheidung und der tatsächlichen Praxis. Nach dem Konsensprinzip gilt eine Entscheidung dann als angenommen, wenn ihr niemand formell widerspricht. Dieses egalitäre Prinzip, das auf den ersten Blick jedem Staat ein formales Veto-Recht einzuräumen scheint, wird jedoch zur Farce, wenn einem Staat schlicht die materiellen Ressourcen fehlen, um zum Zeitpunkt der Entscheidung mit einer Vertretung anwesend zu sein. In PraktikerInnenkreisen wird davon ausgegangen, daß ein Land mindestens vier Delegierte in Genf haben muß, die sich fast ständig mit der WTO befassen, um an allen Sitzungen teilnehmen zu können, wozu längst nicht alle Staaten in der Lage sind. Das Konsensprinzip ist damit - anders als in der Literatur zuweilen vertreten9 - faktisch kein Instrument zum Schutz der Schwachen, sondern zur Sicherung des Einflusses der Mächtigen, die sich eine omnipräsente Vertretung leisten können.
Die WTO-Entscheidungsfindung zeichnet sich zudem durch ein hohes Maß an Informalität und Intransparenz aus. Dies zeigt sich an den sog. "green room"-Gesprächen, die ein zentrales Strukturelement der WTO darstellen. Diese informellen Konsultationen werden benutzt, um unter Ausschluß der meisten WTO-Mitgliedstaaten einen Konsens in bestimmten Fragen zu erreichen. Sie beginnen regelmäßig damit, daß der/die Vorsitzende eines WTO-Organs dessen Sitzung unterbricht, "damit die Mitglieder in informellen Gesprächen einen Konsens finden können." Danach ziehen sich einige wenige Delegationen - immer die sog. Quad-Staaten (USA, EG, Kanada und Japan) und manchmal einige wichtige Entwicklungsländer (Indien, Brasilien oder ein ASEAN-Mitglied) - in einen nicht bekanntgemachten Raum zurück, um dort weiterzuverhandeln. Gelangen sie zu einem Ergebnis, wird dieses als Konsenslösung dem Hauptorgan präsentiert, in dem die übrigen Staaten diesem Ergebnis faktisch nur noch zustimmen können. Fast immer werden im "green room" auch die endgültigen Rechtstexte ausgehandelt. Zusammensetzung und Verhandlungsthemen der "green room"-Gruppe werden von dem/der Vorsitzenden und den Quad-Staaten festgesetzt und sind nicht transparent. Mitgliedsstaaten, die nicht am "green room"-Prozeß teilgenommen haben, werden nur sehr sporadisch über den Verlauf und die Ergebnisse informiert. Teilweise wurde interessierten StaatenvertreterInnen sogar der Zutritt zu einem "green room"- Gesprächen verweigert.10 Dies dürfte aufgrund des Prinzips der souveränen Gleichheit der Staaten und des Prinzips der egalitären Repräsentation der Mitgliedsstaaten in der WTO-Entscheidungsfindung rechtswidrig sein.

Das Scheitern der Ministerkonferenz von Seattle

Die Ministerkonferenz ist das höchste Organ der WTO. Sie setzt sich aus den Handels- und WirtschaftsministerInnen zusammen und tagt mindestens alle zwei Jahre. Auf der Konferenz in Seattle sollte eine neue multilaterale Verhandlungsrunde eröffnet werden. Diese Runde, die vorab schon als "Millenium Runde" propagiert wurde, hätte zu einer weiteren Liberalisierung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen, vor allem im Dienstleistungs- und im Agrarsektor führen sollen. Darüber hinaus hatten die verschiedenen WTO-Mitgliedsstaaten unterschiedliche Vorstellungen, worüber noch verhandelt werden sollte. Während die EG ein ehrgeiziges Programm verfolgte, das die Themen Umweltschutz, Direktinvestitionen (quasi als "MAI light")11 und ein internationales Wettbewerbsrecht umfaßte, strebten die USA eine "kleine Runde" an, in der neben Agrar- und Dienstleistungen höchstens noch das Thema Handel und soziale Standards auf der Tagesordnung gestanden hätte. Zahlreiche Entwicklungsländer standen auf dem Standpunkt, daß vor einer neuen weltweiten Liberalisierungsrunde erst einmal die Auswirkungen der Uruguay Runde genau analysiert und nachgebessert werden sollten.
Diese Interessengegensätze waren keineswegs beigelegt worden, als sich die Minister am 30. November in Seattle trafen. Unterschiedliche Vorstellungen der USA und der EG im Agrarbereich, eine undiplomatische Verhandlungsführung seitens der gastgebenden USA gepaart mit einer mangelhaften Durchführung der Konferenz und die zahlreichen Proteste und Demonstrationen, die jedenfalls am ersten Tag Verhandlungen praktisch unmöglich machten, führten dazu, daß sich die Delegationen trotz nächtlicher Marathonsitzungen nicht auf den Beginn einer neuen Runde einigen konnten.
Bemerkenswert war in Seattle die Vehemenz, mit der eine bunte Koalition aus Gewerkschaften, Umweltschutzverbänden, Nord-Süd-AktivistInnen, Frauengruppen, Bio-LandwirtInnen, Kulturschaffenden und BürgerInnengruppen aus vielen Ländern gegen die Konferenz protestierte und diese durch eine weltweite Medienberichterstattung in die Schlagzeilen brachte. Ebenfalls bemerkenswert war das Erstarken der Entwicklungsländer in Seattle. Anders als bei früheren WTO-Ministertreffen oder als im Rahmen der GATT 1947-Verhandlungsrunden waren sie mit konkreten Vorstellungen über die zukünftige Gestaltung des Welthandelssystems erschienen. Sie hatten mehrfach gefordert, daß die neue Runde eine "Entwicklungsrunde" werden müsse, in der vor allem ihre Interessen Gehör fänden. Als sie merkten, daß die Industrieländer auf ihre Forderungen nur minimal eingehen wollten und als sie zudem von den ab dem dritten Tag vermehrt benutzten "green room" Gesprächen ausgeschlossen wurden, protestierten sie lautstark und drohten, einer Abschlußerklärung nicht zuzustimmen. Diese Drohung hat die VerhandlungsführerInnen derart beeindruckt, daß sie es nicht einmal mehr wagten, ein formelles Abschlußdokument zur Abstimmung zu stellen. Die Konferenz wurde ergebnislos abgebrochen. Fünf Jahre nach ihrer Gründung steht die WTO damit mitten in einer schweren Existenzkrise.

Nach der Krise: Reform oder "business as usual"?

Inzwischen hat die WTO ihre Arbeit in Genf wieder aufgenommen. Unklar ist, wie es weitergehen wird. Problematisch ist insbesondere, daß die WTO-Verträge eine Verpflichtung enthalten, mit den Verhandlungen in bestimmten Gebieten fünf Jahre nach Inkrafttreten des Vertrages zu beginnen. Der Allgemeine Rat der WTO, zwischen den Ministertagungen das wichtigste Organ, hat entschieden, daß Verhandlungen im Dienstleistungs- und Landwirtschaftssektor ("built-in agenda") im Februar bzw. März beginnen sollten. Da die Delegationen für diese Verhandlungen jedoch von ihren Regierungen kein Mandat erhalten haben, werden wohl keine echten Verhandlungsangebote gemacht. Daß es schon bald zu einer neuen Ministerkonferenz kommen wird, auf der eine Runde doch noch beschlossen wird, ist mehr als fraglich.
Das Scheitern von Ministerkonferenzen ist in der GATT-Geschichte schon öfter passiert. Gleichwohl muß die Ministerkonferenz von Seattle als Wendepunkt angesehen werden. Sie hat gezeigt, daß die WTO und mit ihr das geltende Welthandelsrecht nicht in der Lage ist, angemessene Antworten auf die Herausforderung der Globalisierung zu geben. Der Staatengemeinschaft wurde in Seattle überdeutlich vor Augen geführt, daß große Teile der Gesellschaft das Primat der Handelsliberalisierungen als zentrales Strukturelement des Welthandelsrechts nicht akzeptieren. Es ist deshalb kein Zufall, daß knapp acht Wochen nach der Konferenz von Seattle auf der UN-Konferenz in Montreal ein Vertragswerk erfolgreich abgeschlossen werden konnte, das nicht von dem Primat der Handelsliberalisierung, sondern durch das gesundheitliche und ökologische Vorsorgeprinzip gekennzeichnet ist, auch wenn sich die Bedeutung des Protokolls von Montreal in der Praxis erst noch zeigen muß.
Man muß zwar nicht gleich die Abschaffung der WTO fordern,12 dennoch kann es für die WTO nicht "back to business as usual" heißen. Die Mitgliedstaaten der WTO müssen den Reformbedarf des Systems erkennen und adäquat darauf reagieren. Drei Aspekte stehen hierbei im Mittelpunkt: Das WTO-Recht muß sich gegenüber Umweltschutz-, Entwicklungs- und Sozialschutzinteressen öffnen und deren Grundprinzipien als gleichrangig neben der Liberalisierung des Handels anerkennen. Die Entscheidungsfindung in der WTO muß so gestaltet werden, daß sich alle Staaten dort wiederfinden und schließlich muß die WTO-Rechtssetzung einer verbesserten demokratischen Kontrolle und Begleitung unterzogen werden. Dieser Appell richtet sich allerdings nicht nur an die Delegationen in Genf und die Wirtschaftsministerien, sondern auch an die nationalen Parlamente, die bezüglich der WTO einigen Nachholbedarf haben.

Markus Krajewski ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Hamburg.

Literatur:

Benedek, Wolfgang, Die Rechtsordnung des GATT aus völkerrechtlicher Sicht, 1990.
Bellman, Christophe/Gerster, Richard, Accountability in the WTO, Journal of World Trade (JWT) 30 (1996), No. 6, 31ff.
Eckert, Alexandra/ Sckick, Thomas, Nie mehr Pflichten, nur noch Rechte, Forum Recht (FoR) 3/1999, 87f.
Hilf, Meinhard, The case of Germany, in: John Jackson/Alan Sykes (eds.), Implementing the Uruguay Round, 1997, 21ff.
Hohmann, Harald, Der Konflikt zwischen freiem Handel und Umweltschutz in WTO und EG, Recht der internationalen Wirtschaft (RIW) 2000, 88ff.
Petersmann, Ernst-Ulrich, Constitutional Functions and Constitutional Problems, 1991.
Stoll, Peter-Tobias, Freihandel und Verfassung, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (ZaöRV) 1997, 82ff.
ders., Die WTO, ZaöRV 1994, 241ff.
Tomuschat, Christian, Der Verfassungsstaat im Geflecht internationaler Beziehungen, Veröffentlichungen des Verbandes der deutschen Staatsrechtslehrer (VVDStRL) 1978, 7ff.

Anmerkungen:

1 Siehe http://www.biodiv.org/
2 dazu Stoll, ZaöRV 1994, 241ff.
3 unter http://www.wto.org/wto/dispute/distab.htm abrufbar.
4 Stoll, ZaöRV 1997, 82ff. Ähnlich zum GATT bereits: Petersmann 1991, 221ff.
5 Hohmann, RIW 2000, 89.
6 Tomuschat, VVDStRL 1978, 28ff.
7 Hilf, in: Jackson/Sykes (eds.), 127ff.
8 siehe auch Bellman/Gerster, JWT 1996, No. 6, 31 ff.
9 etwa Benedek 1990, 48f.
10 Frankfurter Rundschau vom 6.12.1999.
11 dazu Eckert/Schick, FoR 3/1999, 87f.
12 So aber z. B. Peoples Global Action Network, www.apg.org/apg/en/index.htm.