Heft 2/2000:
Mächtig organisiert - Die neue Weltordnung
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Jörg Schindler Zum ersten Artikel des Schwerpunkts Zum ersten Artikel des Forums Zur Rubrik Ausbildung Zur Rubrik Recht kurz Zum Sammelsurium Zur Rubrik Politische Justiz Zur BAKJ-Seite
Instrumentalisierung oder Normalfall?
Entwicklungen internationaler Politik und Kritik des Völkerrechts
 

Die Veränderung der internationalen Weltlage nach dem Wegfall der Blockkonfrontation hat zu intensiven politischen und völkerrechtlichen Diskussionen geführt. Auslöser waren dabei die Militärinvasionen im Irak und im Kosovo. GegnerInnen wie BefürworterInnen dieser Einsätze verweisen dabei meist auf völker- und menschenrechtliche Prinzipien. Dieser Artikel will dagegen begründen, weshalb eine fortschrittliche Argumentation gegen Militäreinsätze, die einen Verstoß gegen das Völkerrecht und Menschenrechte annimmt, nicht genügt, sondern vielmehr eine grundsätzliche Kritik des Völkerrechts und der Menschenrechte vorgenommen werden muss.

Völkerrecht - Verfahrensvorschriften beim Faustrecht der Nationalstaaten

Das Völkerrecht unterscheidet sich in einem wesentlichen Punkt von innerstaatlichem Recht: Den Nationalstaaten als Rechtssubjekten ist keine (relativ unabhängige) judikative Gewalt übergeordnet, die über die Auslegung der völkerrechtlichen Regeln verbindlich entscheidet und ihre Durchsetzung erzwingen kann. Vielmehr verpflichten sich "alle Nationen, ob groß oder klein" (Präambel der UN-Satzung) zur wechselseitigen Respektierung ihrer Einzelgewalten. Es handelt sich hierbei jedoch um eine Selbstverpflichtung der Staaten, nicht um eine Unterordnung unter eine Zentralgewalt.
Gleichwohl es keine übergeordnete Gewalt gibt, ist das Völkerrecht nicht nur wirkungslose Absichtserklärung. Vielmehr wirken die Regelungen des Völkerrechts als Filter konkreter staatlicher Politik. Die Regelungen des Völkerrechts werden fortwährend von den Staaten selbst nach den jeweiligen staatspolitischen Interessen "ausgelegt" und als Begründung der Außenpolitik dieses Nationalstaates herangezogen. Aus dem ständigen Abgleich der "Auslegung" der Staaten, die selbstverständlich eine unmittelbar politische ist, bilden sich kollektive Urteile von Interessengruppen und Staatenblöcken heraus.
Mit diesen völkerrechtlichen Verfahrensregeln unterscheidet sich das moderne von dem früheren feudalistischen Völkerrecht. Danach hatte jeder souveräne Staat alle Freiheiten im Umgang mit anderen Staaten. Das galt insbesondere auch für dessen härteste Form, den Krieg.
Nach dem modernen Völkerrecht ist dagegen eine Militärinvasion erst nach dem beschriebenen Abgleich der nationalstaatlich-interessegeleiteten Auslegungen und der darauf fußenden kollektiven Willensbildung legitim. So heißt es in der Präambel der UN-Satzung: "Wir, die Völker der UN, ... fest entschlossen, künftige Generationen vor der Geißel des Krieges zu bewahren, ... werden für diese Zwecke... ihre Kräfte vereinen und Grundsätze annehmen und Verfahren einführen, dass Waffengewalt nur mehr im gemeinsamen Interesse angewandt wird." Gewaltanwendung wird also nicht etwa ausgeschlossen, sondern ist "nur im gemeinsamen Interesse" legitim. Ein Mitgliedsstaat, der dagegen unvermitttelt "nur" seine eigenen Interessen verfolgt, verstößt gegen Völkerrecht, indem er eine "Bedrohung oder Bruch des Friedens" oder eine "Angriffshandlung" (Art. 7 der UN-Satzung) begeht. Gleiches gilt nach der UN-Satzung schon bei "Androhung von Gewalt" (Art. 2 Ziffer 4). Gegen diese Handlungen ist die "Völkergemeinschaft" berechtigt - natürlich wieder nur nach entsprechendem Interessenabgleich und der folgenden Ermächtigung durch die UN - "Maßnahmen zu ergreifen und Waffengewalt im gemeinsamen Interesse anzuwenden". (Art. 7) Daneben besteht gegen den völkerrechtswidrig handelnden Staat ein "naturgegebenes Recht auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung" (Art. 51).
Durch das moderne Völkerrecht wird also das gewaltförmige Verhältnis der konkurrierenden kapitalistischen Nationalstaaten nicht etwa abgeschafft, sondern in eine Verfahrensform rechtlich legitimer und illegitimer zwischenstaatlicher Gewalt gegossen, deren Einhaltung durch die einzelnen Staaten überwacht und gegebenenfalls kriegerisch sanktioniert wird.
Soweit demnach von den KritikerInnen der aktuellen Militäreinsätze vorgebracht wird, das Völkerrecht würde durch nationalstaatliche Interessen in internationalen Konflikten instrumentalisiert, ist dem entgegenzuhalten, dass es bereits Wesen des geltenden Völkerrechts ist, einzelne nationalstaatliche Interessen völkerrechtsnormiert miteinander abzugleichen und in die Kategorien "legitime Gewalt" und "illegitime Gewalt" einzuteilen. Mehr noch als bei innerstaatlichen Rechtsnormen, bei denen eine relativ autonome staatliche Normsetzung und -durchsetzung existiert, ist das Völkerrecht notwendigerweise Ausfluss akzeptierter nationalstaatlicher Interessen.

Irak und Kosovo - Präzedenzfälle der neuen Weltordnung

In Zeiten der Blockkonfrontation des Kalten Krieges war der Einflussbereich der Weltmächte weitgehend nach den Vorgaben des atomaren "Gleichgewichts des Schreckens" abgesteckt. Diese Situation hat sich in den 90er Jahren grundlegend verändert. Völkerrechtlich unabgestimmte militärische Interventionen (Vietnam, Grenada, Afghanistan, Tschechoslowakei) der beiden Weltmächte fanden in Zeiten des Kalten Krieges nämlich nur entweder in ihrem unbestrittenen Einflussbereich statt oder wurden "in bilateraler Konfrontation" mit der anderen Weltmacht ausgefochten. Für eine Beteiligung der restlichen "Weltgemeinschaft" unter Anwendung der völkerrechtlichen Verfahrensfragen ließen USA und UdSSR keinerlei Raum. Dies wurde von den anderen Staaten - denn auch Völkerrechtsfragen sind Machtfragen - hingenommen. Waren sich die beiden Weltmächte doch zumindest insoweit einig, das entsprechende Problem ohne Zwischenschaltung dritter Staaten lösen zu wollen. In der Praxis hielten sie die völkerrechtliche Regelung "durch Dritte" dadurch außen vor, indem sie jede Entscheidung über den Konflikt im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen durch das berühmte "Njet" bzw. "No" im Weltsicherheitsrat blockierten.
Dieses eingespielte völkerrechtliche System - Geltung eines völkerrechtliches Verfahrens der Gewaltanwendung mit "Exklusivrechten" der Aushandlung für die beiden Großmächte USA und UdSSR - änderte sich jedoch mit dem Zusammenbruch des sozialistischen Blocks. Die Militärinterventionen im Irak und Kosovo stellen sich daher - und das gilt für BefürworterInnen solcher Militäraktionen ebenso wie für deren GegnerInnen - als Präzedenzfall des Völkerrechts unter grundlegend veränderten internationalen Kräfteverhältnissen dar.
Als Weltmacht ist nunmehr nur noch die USA mit den NATO-Staaten im Schlepptau übrig geblieben. Die Militärintervention entspricht daher deren faktischen Möglichkeiten, weltpolitisch zu agieren. Die Satzung der Vereinten Nationen ist hingegen weiterhin auf die Blockkonfrontation ausgelegt. Neben dem Recht auf Anerkennung aller Staaten als eigene Rechtssubjekte des Völkerrechtes unabhängig von ihrer inhaltlich-politischen Einschätzung (denn darüber wären sich die Weltmächte in Zeiten des Kalten Krieges sowieso nicht einig geworden) betraf das insbesondere den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Der UN-Sicherheitsrat hat nach der UN-Satzung "die Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens" und "handelt im Namen der Mitglieder der Vereinten Nationen." (Art. 24 Abs. 1 der Satzung der Vereinten Nationen) Diesen stellen die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges und damit die Staaten, von denen angenommen wurde, dass gegen deren Willen international prinzipiell keine Entscheidung durchzusetzen sei. Sie wurden deshalb mit einem Veto ausgestattet.
Das Veto erweist sich unter der veränderten Weltlage nunmehr als hinderlich für die an die neuen Bedingungen angepasste Verfahrensregelung der Staatenkonfrontation namens internationales Völkerrecht. Es ist damit nach Ansicht der InterventionsbefürworterInnen ein Beleg für die "Handlungsunfähigkeit" der UNO.1 Dagegen bemängeln die KritikerInnen des "Verstoßes" (besser: der Nichtakzeptanz) dieser völkerrechtlichen Spielregeln, dass "unter solchen Bedingungen die UNO nicht funktionieren" könne.2 So warnt der Völkerrechtler Bernhard Graefrath vor "einer Geringschätzung der UN-Charta". Diese müsse "gegen die imperialistische Politik der USA verteidigt werden" und sei, so der Völkerrechtler Manfred Mohr, "ein wichtiges Instrument für die Linke".3 Tatsächlich ist den BefürworterInnen derart militärischer Interventionen zuzugeben, dass unter den veränderten Bedingungen der Konfliktaustragung global-kapitalistischer Staatenkonkurrenz die völkerrechtlichen Regelungen des Kalten Krieges "mangelhaft" sind. So sieht es auch die deutsche Außenpolitik: "Was soll man machen, wenn eine Pflicht zum Eingreifen besteht und sich dennoch uneinsichtige Vetos auf das Völkerrecht berufen...?"4 Vor diesem Dilemma argumentieren die InterventionsbefürworterInnen unter den VölkerrechtlerInnen entweder mit einem "übergesetzlichem Notstand", der in der Realität hingegen ein juristischer Notstand fehlender Übereinstimmung von völkerrechtlichen Regelungen und neuen Bedingungen einer nunmehr einzigen Weltmacht ist. Oder sie argumentieren mit dem Recht auf Selbstverteidigung aus Art. 51 der UN-Satzung. "Selbstverteidigung" wird von NATO-Seite danach soweit ausgelegt, dass nicht nur die Integrität des eigenen Territoriums, sondern schlicht alle nationalen Interessen betroffen sind: "... Unseres Erachtens beinhaltet Art. 51 und das Völkerrecht im allgemeinen, dass Staaten gemeinsam handeln dürfen, wenn ihre Sicherheit bedroht ist, und nicht erst abwarten müssen, bis es zu einer Invasion kommt. Im Falle des Kosovo bestand die sehr reale Gefahr des Ausuferns des Konflikts...., wenn nicht gehandelt worden wäre. Eine solche Instabilität in der Region kann Stabilität und Sicherheit bedrohen, und Konflikte können auf NATO-Mitglieder übergreifen."5 Das bedrohte "Selbst" fängt aktuell bereits irgendwo mitten im Kosovo oder Irak an. Faktisch wird damit die temporäre Überlagerung und Außerkraftsetzung der alten völkerrechtlichen Regelungen durch die (einige) NATO-Allianz begründet. Diese durch die neue Weltlage bestimmte Rechtswirklichkeit ist gültig und nicht juristisch widerleg-, geschweige denn korrigierbar, da die "Auslegung" der völkerrechtlichen "Rechtslage" ja nicht von einer übergeordneten Instanz, sondern durch die Einzelstaaten selbst erfolgt. Das ist auch das entscheidende Argument gegen die "Instrumentalisierungsthese" der linken und linksliberalen InterventionskritikerInnen. Denn auch hier gilt wieder, dass es gerade im Wesen des Völkerrechts begründet liegt, unmittelbar (also nicht durch eine relativ autonom handelnde "Weltjudikative" vermittelt) an die bestehenden politischen und insbesondere militärischen Machtverhältnisse gekoppelt zu sein. "Politische Fragen müssen auch politisch beantwortet werden", meinte zu diesem Thema richtig der Friedensforscher Arndt Wellmann und warnt vor "einer zu stark rechtsförmigen Argumentation".6 Daraus begründet sich auch unter antimilitaristischen Gesichtspunkten die Fragwürdigkeit etwa der aktuell in der PDS diskutierten Forderung, die UNO oder gar das Völkerrecht "zu stärken" oder den UNO-Interventions-Artikel 7 anzuerkennen.

">"Menschenrechte" - neuer völkerrechtlicher Ordnungsfaktor

Die neue Weltordnung wird also in jedem Fall Änderungen der völkerrechtlichen Begrifflichkeiten mit sich bringen. Insbesondere dem Begriff der sogenannten "Menschenrechte" kommt hier eine Schlüsselrolle zu. So scheinen "Menschenrechte" der zentrale politische Hebel zur Anpassung des Völkerrechts an die neue Weltordnung zu werden. Kein Diktator könne sich nunmehr hinter der staatlichen Souveränität seines Territoriums verstecken, tönte nach dem Kosovo-Krieg Außenminister Joschka Fischer. Mit anderen Worten: Eine Grundvoraussetzung der völkerrechtlichen Regelungen der Blockkonfrontation wird neuerdings bestritten - die Anerkennung der territorialen Integrität eines Nationalstaates unabhängig von der politischen Bewertung seiner Regierung und seine Akzeptanz als "auslegendes" Rechtssubjekt des Völkerrechts. Völkerrechtlich wird hierbei argumentiert, die UN-Menschenrechtserklärung, die von den Nationalstaaten unterschrieben worden ist, sei ebenso wie die UN-Satzung normativer Bezugspunkt des Völkerrechts. Neben der Prüfung des Verfahrens zwischenstaatlicher Konfrontation im kapitalistischen Weltmaßstab gelangt damit auch die "Art" der inneren Verhältnisse der Nationalstaaten (im tagespolitischen vulgo: "Diktatur" oder "Demokratie") zur von den Staaten völkerrechtlich "auszulegenden" Überprüfung. Nach dem Wesen des Völkerrechts als Herrschaftsinstrument der aktuell maßgeblich Mächte des Westens, ist diese Veränderung ebenso interessengeleitet wie logisch. Kein Zweifel dürfte auch darüber bestehen, welche Lesart von "Menschenrechten" sich bei dieser Bewertung durchsetzen werden. Zu gewähren sind nämlich völkerrechtlich die formalen bürgerlich-demokratischen Freiheitsrechte unter der Voraussetzung des Privateigentums an Produktionsmitteln, was im Ergebnis eine krasse Form materieller Ungleichheit bedingt. Dies zeigt, dass die Bezugnahme auf "Menschenrechte" für eine links-alternative völkerrechtliche Diskussion wenig brauchbar ist. Denn in der Idee der Menschenrechte werden die Menschen nur als Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft betrachtet, die sich egoistisch gegenüberstehen.7 Von den zugrundeliegenden gesellschaftlichen Verhältnissen, die diese Konkurrenz bedingen, vor allem die verschiedene soziale Stellung wird völlig abstrahiert. So reproduziert das "Menschenrecht" auf Privateigentum als bestimmende Instanz aller anderen "Menschenrechte" materiell ungleiche Verhältnisse, indem die für die kapitalistische Zirkulationssphäre erforderliche (formale) Freiheit und Gleichheit der Tauschenden zu gewährleisten ist8 . Materielle Fragen spielen hingegen keinerlei Rolle, und ihre Einforderung würde sich daher eher als eine Verletzung des Menschenrechts auf freien Gebrauch seines Eigentums zur Gewinnerwirtschaftung darstellen. So ist die Politik der führenden Industriestaaten zu verstehen. Danach ergeht es den Staaten diverser Bösewichte, in denen der Kapitalverkehr mit der Einhaltung der "Menschenrechte" als dessen Geschäftsgrundlage nicht genügend hochgehalten wird, schlecht: Sie werden vom Westen völkerrechtlich für illegitim erklärt. Da sie sich, aus welchen Gründen auch immer - dies können sowohl fortschrittliche (z.B. Kuba), als auch reaktionäre (z.B. Iran) Gründe sein -, diesen herrschenden Vorgaben nicht unterzuordnen bereit sind, werden sie so von Völkerrechtssubjekten zu Völkerrechtsobjekten. Sie dürfen bombardiert werden.

Jörg Schindler ist Rechtsanwalt und lebt in Wittenberg und Berlin. Er ist Mitglied bei JungdemokratInnen-Junge Linke und war im Bündnis linker und radikaldemokratischer Hochschulgruppen (LiRa) aktiv.

Anmerkungen:

1 Süddeutsche Zeitung v. 19.01.1999
2 Ex-Generalsekretär Butros Ghali in: SPIEGEL 2/1999
3 Neues Deutschland v. 27.03.2000
4 Staatsminister im Auswärtigen Amt Günther Verheugen in: le monde diplomatique 1/1999
5 Staatssekretär für politische Angelegenheiten im US-Verteidigungsministerium W. Slocombe in: Amerika-Dienst v. 13.01.1999
6 Neues Deutschland v. 27.03.2000
7 Marx-Engels-Werke 1, 364
8 Marx-Engels-Werke 23, 189