Heft 4 / 2001:
grenzenlos beschränkt
MigrantInnenpolitik in BRD und Europa
xxx

Marek Schauer Zum ersten Artikel des Schwerpunkts Zur Rubrik Ausbildung Zur Rubrik Recht kurz Zum Sammelsurium Zur Rubrik Politische Justiz Zur BAKJ-Seite
Diskriminierendes Grundgesetz ?
Ein Plädoyer für die Ersetzung von "Deutschengrundrechten" durch Menschenrechte
 

Friedrich Merz tönte vor kurzer Zeit mit einer durchschaubaren Forderung in allen Medien: AsylbewerberInnen sollten sich in Deutschland nicht politisch gegen ihr Herkunftsland positionieren und engagieren dürfen, da sie so erst einen Grund für ihre politische Verfolgung schaffen würden.

Faktisch bedeutet dies, das ohnehin schon seit 1993 amputierte Grundrecht auf Asyl, Art. 16a Grundgesetz (GG), durch die Hintertür gänzlich aus dem GG zu verbannen, was ja eine uralte Forderung von CDU/CSU ist. Denn nach dieser weiteren Merz´schen Sinnlosigkeit würde es den Asylgrund wegen staatlicher Verfolgung gar nicht mehr geben, da ja ein/e AsylbewerberIn, die sich nicht politisch engagiert (da es ihm/ihr verboten wird), wohl kaum ein/e DissidentIn sein kann?!

Auch jede/r AsylbewerberIn, welche/r in Deutschland erst beginnt, sich gegen sein/ihr Herkunftsland aufzulehnen, da hier zunächst grundsätzlich die Möglichkeit besteht, sich politisch zu engagieren, wären dadurch Schranken gesetzt und jeglicher Stammtisch-Diskriminierung als "Wirtschaftsflüchtling" Tür und Tor geöffnet.

Was Herr Merz und andere bei dieser ganzen Deutschtümelei schon lange nicht mehr sehen bzw. noch nie gesehen haben, ist die generelle Diskriminierung von AusländerInnen durch die in Deutschland herrschenden Gesetze bis hin zum Grundgesetz. Letzteres verweigert gerade bei den Grundrechten für politische Betätigung AusländerInnen die ihnen zustehende justizielle Kontrolle vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG). Das Vorhandensein von "Deutschengrundrechten" an sich ist in einer Gesellschaft, die für sich Offenheit und Toleranz reklamiert, schon äußerst fragwürdig.

Grundrechte nur für Deutsche

Tragischerweise gibt es selten so viel Gesetzesklarheit wie bei der Einteilung der Grundrechte in Jedermanns- und Deutschengrundrechte. Diese "In-Sich-Diskriminierung" bietet vor allem für konservative und nazistische JuristInnen schon insofern eine Grundlage für die Behauptung, daß die Grundrechte für AusländerInnen generell keine Gültigkeit haben, als angeblich "sporadisch explizit" darauf hingewiesen wird, daß diese Verfassung nur für das deutsche Volk gilt.

Dies wird jedoch durch die Abkehr von jeglichem nationalem Kollektivismus nach den grauenhaften Verbrechen des Nationalsozialismus bereits in Art. 1 Abs. 1 GG hinreichend widerlegt. 1 Mit dem Satz "Die Würde des Menschen ist unantastbar" wird der antifaschistische Gehalt des Grundgesetzes eingeleitet. Die Mütter und Väter des GG wollten deutlich machen, daß der Nazi-Doktrin, der Einzelne sei nichts und nur die nationale Volksgemeinschaft alles, eine klare Absage erteilt wird. Trotzdem konnten sich die Mütter und Väter des Grundgesetzes offenbar nicht dazu durchringen, Demokratie von der Nation zu trennen, also politische Mitbestimmung und Willensbildung für alle auf deutschem Territorium lebenden Menschen explizit verfassungsrechtlich zu verankern.

Konkret bedeutet dies für folgende Normen des GG: Art. 8 Abs. 1 (Versammlungsfreiheit); 9 Abs. 1 (Vereinigungsfreiheit); 11 Abs. 1 (Freizügigkeit); 12 Abs. 1 (Berufsfreiheit); 16 Abs. 2 (Auslieferungsverbot); 20 Abs. 4 (Widerstandsrecht) und 33 Abs. 1 und 2 (Beamtenzugang) GG; keine Geltung für AusländerInnen. Dabei blieb mensch stark hinter den ersten Verfassungen der Bundesländer zurück, welche kaum noch Unterscheidungen innerhalb der verankerten Rechte zwischen Nichtdeutschen und Deutschen kannten! So z.B. die Verfassungen von Bayern und Bremen: Es gibt keine Unterscheidung zwischen Jedermanns- und Deutschengrundrechten bei der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, bei der Freizügigkeit, der Ausbildungsfreiheit und auch beim Widerstandsrecht (letzteres nur in der Bremer Verfassung). 2 Auch die Berliner Verfassung kennt diese diskriminierende Differenzierung von Menschen nicht.

Auch JuristInnen haben sich der hier dargestellten Problematik angenommen und verschieden Position bezogen, einige sogar sehr kritisch, jedoch mit zumeist sehr unzureichenden Lösungsvorschlägen.

Begründung für den status quo

Ein Teil der heutigen Lehre begründet die Differenzierung der Grundrechte in personeller Hinsicht wegen der sogenannten "Volkssouveränität" 3 insbesondere in Bezug auf die Forderung eines Ausländerwahlrechts, welches vom BVerfG aufgrund von Art. 20 Abs. 2 GG für verfassungswidrig erklärt wurde. 4 Ausgehend von einem deutschen Staat und dem Deutschenbegriff des Art. 116 GG wird erklärt, daß schon aus demokratietheoretischen Überlegungen (Demokratie = Volksherrschaft) eben nur das deutsche Volk legitimiert sei, auf Parlamente Einfluß zu nehmen und dementsprechend auch an der Meinungs- und Bewußtseinsbildung via Versammlungen, Vereine etc. teilzunehmen. Dem sollen die auf höchstgesetzlicher Ebene bezeichneten Differenzierungen Rechnung tragen.

Von vorn herein wird also das Recht auf politische Mitbestimmung von der Nationalität abhängig gemacht. Die Argumentation ist jedoch nicht nachvollziehbar. Es ist schon unverständlich, warum jemand ohne deutsche Staatsbürgerschaft, wenn er/sie hier ihren Lebensmittelpunkt gestaltet, in Deutschland nicht wählen darf. Ihm bzw. ihr die in der Verfassung verankerten Rechte auf Versammlungs-, Vereinigungs- und weitere Freiheiten bzw. Rechte im Hinblick auf ihre Einklagbarkeit beim BVerfG zu verwehren, ist allerdings noch weit unverständlicher. Nur eine durch Zufall bestimmte Tatsache, die Zugehörigkeit zu einer historisch gewachsenen Institution, ist jedenfalls als Argument für eine Beschränkung von Freiheiten und Rechten abzulehnen. Gerade im Hinblick auf die Tatsache, daß die BRD mittlerweile parteiübergreifend als Einwanderungsland qualifiziert wird, sollte überdacht werden, ob einfache Gesetze wie § 1 Versammlungsgesetz (VersG), welcher die Versammlungsfreiheit wiederum jedermann / jederfrau zugesteht, den Weg in die Verfassung finden.

Die "Unbefriedigten"

Ein weiterer Teil der Lehre ist "unbefriedigt" 5 über den Ausschluß der AusländerInnen von einigen Freiheitsrechten und versucht, mit verqueren Rechtskonstrukten eine Lösung zu finden, statt das Problem am Schopf zu packen und eine weitgehende Forderung zu formulieren.

Teilweise wird vertreten (und vom BVerfG abgelehnt 6 ), im Hinblick auf Art. 1 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 2 GG sei in jedem Deutschengrundrecht der Menschenwürdekern auch auf Ausländer anwendbar. 7 Dies hilft dem/der TürkIn, die/der in Deutschland für die Freiheit der politischen Gefangenen in der Türkei eine Demonstration anmeldet, einem staatlichen rechtswidrigen Eingriff zum Opfer fällt und sich vor das BVerfG klagt, jedoch nicht weiter! Mit einem Trostpflaster versuchen die VertreterInnen der dargestellten Meinung jedoch auch diese Problematik zu lösen und bieten gemeinsam mit dem BVerfG Art. 2 Abs. 1 GG als Auffanggrundrecht an, falls speziellere Freiheitsrechte dem Wortlaut nach nur Deutschen zustehen. 8

Einige aus dem besonders weit rechten Spektrum stammende JuristInnen sind der Meinung, daß selbst diese juristische Auslegung unserer Verfassung verfehlt ist, denn wenn die Mütter und Väter des Grundgesetzes nicht wollten, daß AusländerInnen ein Grundrecht auf Versammlungsfreiheit etc. zusteht, dann darf mensch ihnen dies auch nicht durch die Hintertür verschaffen. Damit würde mensch "Jeder Deutsche" durch "Jedermann" ersetzen. 9

Unabhängig von dieser "Sorge" um die Aushöhlung der Deutschengrundrechte ist aber auch die "Art. 2 Abs. 1 GG Variante" nicht ausreichend, um AusländerInnen umfassenden Grundrechtsschutz zu bieten, da die Schranken des allgemeinen Persönlichkeitsrechts wesentlich niedriger angelegt sind, als die der entsprechenden, spezielleren und nur Deutschen zustehenden Freiheitsrechte. 10

Die rebellierenden Doktoranden

An diesen Mißstand knüpfen einige rebellierende Doktoranden an, zumindest bei der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. Letztere nur als Grundrechte für Deutsche festzuschreiben widerspreche dem Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG. 11 Zu Recht verweisen die VertreterInnen dieser Auffassung auf das Fehlen eines sachlichen Differenzierungsgrundes bei einer Ungleichbehandlung von Menschen bei Grundrechten. Dadurch seien die Art. 8, 9 GG willkürliche Durchbrechungen des allgemeinen Gleichheitssatzes. 12 Zudem widerspreche eine solche Differenzierung der elementaren antivölkischen Verfassungsentscheidung in Art. 1 Abs. 1 GG. 13

Im Vergleich zu den bereits erläuterten vertretenen Auffassungen wirkt diese ja schon äußerst fortschrittlich. Schaut mensch jedoch genauer hin, so gehen die VertreterInnen einen Schritt vor und einen halben wieder zurück. Der Gesetzgeber könne nämlich, um die ganze Misere zu beseitigen, durch eine menschenrechtliche Ausgestaltung der Grundrechte auf der verfassungsrechtlichen Ebene die Individualinteressen der Ausländer in den Vordergrund rücken und den staatlichen Notwendigkeiten auf der einfachen Gesetzesebene durch Erlaß einschränkender Ausführungsnormen, [...], Rechnung tragen". 14 Denn so könne man vermeiden, "staatlich berechtigte Belange preiszugeben". 15 In concreto heißt der so eben erläuterte Vorschlag: Grundrechte für alle, so lange staatliche Belange, wobei irgendwie alles Mögliche von staatlichem Belang sein kann, dem nicht entgegenstehen. Ein Lippenbekenntnis auf verfassungsrechtlicher Ebene, eine einschränkende und wiederum diskriminierende Regelung auf einfach-gesetzlichem Terrain. Noch deutlicher wird alles bei Entdecken der Intention der VertreterInnen. "Moderner Fremdenverkehr" und "Massenbeschäftigung ausländischer Arbeitnehmer" 16 werden als Begründung für ihre Positionen aufgeführt, mithin also die ökonomische Verwertung des Menschen, nicht primär die Gewährleistung elementarer Menschenrechte.

Menschenrechte für alle!

Die gesamte Diskussion in einem Teil der "juristischen Szene" zielt offenbar weniger auf den Menschen als Menschen, sondern orientiert sich eher an nationalistischen, dogmatischen oder ökonomischen Kriterien.

Deutschengrundrechte haben aufgrund von Art. 1 Abs. 1 und 3 Abs. 1 GG keine Legitimation. Es ist nicht einzusehen, warum hier Lebenden elementare Menschenrechte verfassungsrechtlich verweigert werden.

Vor allem aus gesellschaftspolitischen Motiven sollte der Differenzierung zwischen Menschen ihrer Nationalität wegen bei den Grundrechten kein Raum mehr gelassen werden. Eine Änderung der entsprechenden Verfassungsnormen (und natürlich auch auf einfachgesetzlicher Ebene) würde auch ein deutliches Signal setzen, um Diskriminierungen und Xenophobie, welche bis in die bürgerliche Mitte existieren, entgegenzuwirken und hier lebenden Menschen einen jedem zustehenden (verfassungs)rechtlichen Schutz zu gewährleisten. Statt Neonazis durch sinnlose Nationalstolzdebatten, diskriminierende Asylgesetzgebung und brutale Abschiebungen aufzumuntern, ist es notwendig, aufzuzeigen, daß jegliche Differenzierung zwischen Menschen, rechtlich oder anderweitig, illegitim ist.

Marek Schauer studiert Jura in Berlin und ist Mitglied der kritischen JuristInnen / AL Jura am Fachbereich der Freien Universität.

Anmerkungen

1 Jarass/Pieroth, GG, 5. A., München 2000, Art. 1 Rn. 1.
2 Sachs BayVBl. 1990, 385 (386).
3 Pieroth/Schlink, Staatsrecht II: Grundrechte, 13. A., Heidelberg 1997, Rn.108.
4 Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) Bd. 83, 37 (60).
5 Pieroth/Schlink, Rn.112.
6 BVerfG BayVBl 1989, 719.
7 Bleckmann, Staatsrecht II Allgemeine Grundrechtslehren, 2. A., Köln 1985, 113; Dürig in Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 2 Rn.86, Art. 2 Abs. 1 Rn.66.
8 Stern, Staatsrecht III/1, München 1988, 104; BVerfGE 35, 382 (399), 78, 179 (196).
9 Erichsen, Staatsrecht I, 3. A., München 1982, 142; Schwabe, Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 1974, 1044 ff.
10 Degenhart, Juristische Schulung (JuS) 1990, 167 f; BVerfGE 78, 179 (196).
11 Rolvering, Die Rechtsgarantien für eine politische Betätigung von Ausländern in der BRD, Tübingen 1970, S.113 ff.; Ruppel, Der Grundrechtsschutz der Ausländer im deutschen Verfassungsrecht, Würzburg 1968, 39, 43.
12 Rolvering 1970, 113.
13 Rolvering 1970, 121.
14 Ruppel 1968, 232.
15 Ruppel 1968, 232 a.E.
16 Ruppel 1968, 232.

Literatur:

Sachs, Michael, Ausländergrundrechte im Schutzbereich von Deutschengrundrechten, in: Bayerische Verwaltungsblätter (BayVBl.) 1990, 385 (386).