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Regeln statt Strafen   Heft 3/2006
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Kriminalpolitik
Seite 78
Für eine Regelung nach dem Vorbild der Niederlande  
 

(s. auch den Infokasten zum Begriff Sterbehilfe)

Wenn über eine Sterbehilferegelung gestritten wird, geht es nicht nur um die Autonomie des sterbewilligen Patienten und den Schutz derer, die nicht sterben wollen. Aus juristischer Sicht geht es zunächst einmal um die Strafbarkeit des Arztes/der Ärztin, der/die eine Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) begeht. Die Frage, die sich dabei stellt, ist nicht die, ob sich der Einzelne richtig verhält, wenn er darum bittet, getötet zu werden, oder ob MedizinerInnen das Richtige tun, wenn sie einer solchen Bitte nachkommen. Die Frage ist vielmehr, ob der Staat legitimiert ist, die Sterbehilfe zu kriminalisieren.
Die Argumente, die gegen die Legalisierung und damit für die Strafbarkeit der Sterbehilfe angeführt werden, sind fast alle Ausdruck der Angst vor einem Dammbruch. Solche Argumentationen sind deshalb so wirkungsvoll, weil sie in letzter Konsequenz Horrorszenarien beschreiben oder zumindest suggerieren. Die Legalisierung von Sterbehilfe würde demnach bald nicht mehr nur die Autonomie der PatientInnen stärken und Leiden beheben, sondern gleich zur Entlastung der Rentenkassen eingesetzt werden. Vielleicht wäre doch die Sterbehilfe - im Niederländischen benutzt man das Wort Euthanasie - nur eine Vorstufe zu dem, was man in Deutschland unter Euthanasie versteht.

Keine Angst vor dem Dammbruch I: Die empirische Variante

Zum einen wird die empirische Variante der Dammbruchgefahr beschworen: Auch wenn ein Gesetz die aktive Sterbehilfe nur in angemessen Schranken zulässt, führt nicht die Erlaubnis selbst dazu, dass sich in der Praxis Fälle von aktiver Sterbehilfe außerhalb dieser Schranken häufen? Führt die Legalisierung aktiver Sterbehilfe, die auf dem freien Willen der PatientInnen beruht, zu aktiver Sterbehilfe ohne oder gegen deren Willen? Wenn Sterbehilfe als äußerstes Mittel zugelassen wird, wird sie nicht auch als Alternative zu anderen medizinischen Maßnahmen eingesetzt werden?
Um die empirische Variante der Dammbruchgefahr zu belegen, wird auf die Erfahrungen in Holland verwiesen. 1995 waren dort 0,7 % aller Todesfälle (d.h. etwa 900) das Resultat von Tötungen durch MedizinerInnen ohne ausdrückliche Bitte der PatientInnen1. Diese Fälle gehören nicht zum Bereich der erlaubten aktiven Sterbehilfe. Sie sind in den Niederlanden auch nach der Legalisierung der Sterbehilfe strafbar. Das Auftreten solcher Gesetzesübertretungen allein kann also kein Argument gegen die Legalisierung sein. Nur eine Zunahme von Vorfällen, die nach alter und neuer holländischer Rechtslage verboten sind, kann belegen, dass sich die Praxis der Sterbehilfe in den Niederlanden auf der slippery slope befindet. Und selbst dann muss noch eine kausale Verbindung zwischen der Legalisierung und der Zunahme der Fälle festgestellt werden. Dies könnte etwa durch einen internationalen Vergleich ermittelt werden. So müsste z.B. in Deutschland die Zahl von Sterbehilfeleistungen ohne den Willen der PatientInnen oder an Menschen ohne unerträgliche Leiden weniger stark zugenommen haben als in den Niederlanden.2 Der Beleg dafür fehlt.

Keine Angst vor dem Dammbruch II: Die konzeptionelle Variante

Daneben gibt es die konzeptionelle Variante der Dammbruchgefahr: Wenn wir heute bereit sind, Sterbehilfe nur unter strengen Voraussetzungen zu legalisieren, werden nicht unter dem Eindruck der veränderten Rechtslage unsere Vorstellungen von zulässiger Sterbehilfe aufweichen? Werden wir dann bald geringere Standards akzeptieren, die schließlich zu einem noch liberaleren Recht führen? Auch hier räumt ein Blick nach Holland Bedenken aus. Umfragen haben ergeben, dass den HolländerInnen zwei Prinzipien wichtig sind: die Autonomie des Patienten und die Behebung von Leiden3. Diese Prinzipien begrenzen sich gegenseitig. Nach Vorstellung der HolländerInnen ist die Tötung eines Kranken, der seinen Tod nicht will, unzulässig, auch wenn seine Leiden so beendet werden könnten. Hier wirkt das Prinzip Autonomie als begrenzender Faktor. Andersherum sorgt das Prinzip Behebung von Leiden dafür, dass nicht jedes Tötungsverlangen als legitim empfunden wird, auch wenn so die Autonomie des Patienten gestärkt würde. Es ist also nicht zu befürchten, dass eine Legalisierung von Sterbehilfe unter strengen Voraussetzungen eine Erosion der ethischen Vorstellungen und gesetzlichen Regelungen bezüglich anderer Tötungen zur Folge haben würde.

Ein besonderer Rechtfertigungsgrund

Dem Artikel 293 des niederländischen Strafgesetzbuches, dem Pendant zum deutschen § 216 StGB, wurde ein zweiter Absatz hinzugefügt, nach dem ÄrztInnen rechtmäßig handeln, wenn sie unter genau festgelegten Voraussetzungen Sterbehilfe leisten. Diesem Beispiel sollte der deutsche Gesetzgeber folgen. Dabei bietet sich auch die Gelegenheit, die genauen Voraussetzungen der Sterbehilfe zu definieren und effektive Kontrollmechanismen - nicht unbedingt nach dem Vorbild der Niederlande - zu installieren. Denn auch wenn die potentiellen Gefahren einer Legalisierung nicht ausreichen, um die Kriminalisierung der Sterbehilfe zu rechtfertigen, so handelt es sich doch zweifelsohne um einen äußerst regelungsbedürftigen Bereich.

Jan Gallert studiert Jura in Hamburg

Anmerkungen:

1 Elena Fischer: Recht auf Sterben?!, 2004, 176.
2 Vgl. John Griffiths: The Slippery Slope: Are the Dutch sliding down the Slippery Slope or are they Clambering up?, in: David C. Thomasma et. al. (Hrsg.), Asking to Die: Inside the Dutch Debate about Euthanasia, 1998, 98.
3 J.Van Holsteyn und M. Trappenburg: The Last Judgement - Public opinion concerning new forms of Euthanasia, 1996.