Heft 1 / 2002:
könnte besser sein
Sozialrecht
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Helmut Gispert Zum ersten Artikel des Schwerpunkts Zur Rubrik Ausbildung Zur Rubrik Recht kurz Zum Sammelsurium Zur Rubrik Politische Justiz Zur BAKJ-Seite
Vertreibung und Demokratie
Odachlosigkeit und oeffentlicher Raum
 

Als der Stadtstreicher Erwin Tinz in den Abendstunden des 11. Dezember 1980 verstarb, war niemand da, um ihn zu retten. Er starb alleingelassen, irgendwo in einem Weinberg vor den Toren der Stadt Mainz, wohin ihn ein Gefangenentransport der Polizei gebracht hatte. Er wurde zum Opfer einer Vertreibungspraxis, die man gemeinhin mit Verbringungsgewahrsam bezeichnet.

Was in Mainz damals geschah, war und ist bundesweit kein Einzelfall. Überall in Deutschland ist ein solches Vorgehen an der Tagesordnung, wenn es darum geht, die Stadt, wenn auch nur kurzzeitig, von unerwünschten BürgerInen zu säubern. Der Ausdruck säubern mag hier zynisch klingen, trifft aber den Nagel auf den Kopf. Seit Anfang der 90iger Jahre läuft bundesweit ein Programm: "Die saubere Stadt". Dabei geht es nicht nur um Reinigung der Straßen und öffentlichen Plätze von Schmutz, Unrat und Hundekot. Es geht um die Menschen, die vermeintlich nicht in das Bild passen, das sich städtische Verwaltungen und die sogenannten Normalbürger von "ihrer" Stadt machen.

Was Recht ist bestimmt die Stadtverwaltung

Der Stuttgarter Verwaltungsgerichtshof hat die Vertreibungspraxis der Städte und Gemeinden wegen fehlender Gesetzesgrundlage als Unrecht gerügt und hob dabei auch das Bettelverbot auf. Trotzdem scheint sich keiner der politisch verantwortlichen an die Rechtsprechung gebunden zu fühlen. Polizeigesetze und Verordnungen werden bestenfalls umformuliert, ohne im Kern verändert zu werden. Dabei kommt es oft zu Verschärfungen der Gesetze und damit zu erheblichen Einschränkungen der Grundrechte. Solches Vorgehen können sich die Verwaltungen nur deshalb leisten, weil diejenigen, die als erste betroffen sind, sowieso marginalisiert sind und am Rande der Gesellschaft stehen. Von ihnen ist in den meisten Fällen keine Gegenwehr zu erwarten und wenn, dann wird in aller Regel das Vorgehen als Einzelfall deklariert. In den Augen politisch interessierter Bürger haben manche dieser Gesetze schon den Tenor von Ermächtigungsgesetzen, wie das Berliner Allgemeine Ordnungs- und Sicherheitsgesetz (ASOG).1

New Yorker Model und Berliner ASOG

Am 16. September 1999 tagte in der Evangelischen Luisenkirche in Berlin-Charlottenburger ein Symposium zur Frage: "Wem gehört die Stadt?" Eingeladen hatte die Armutskonferenz des Ökumenischen Rates Berlin-Brandenburg. Unter den Podiumsgästen waren Landtagsabgeordnete der Grünen und der PDS, ExpertInnen aus dem Bereich Verwaltungsrecht und VertreterInnen von Obdachlosenorganisationen.

Anlass für das Symposium waren die seit Mai desselben Jahres geltenden Änderungen des ASOG für Berlin und die Sorge, dass das sogenannte New Yorker Model auf Berlin übertragen werden sollte. Die Hohchzeit dieses Models lag zwischen 1994 und 1996, doch sein angeblicher Erfolg war trügerisch. Am 11. Februar 2001 meldete die Frankfurter Rundschau zum Thema New Yorker Modell, die Zahlung von 50 Millionen Dollar Entschädigungen an über 50 000 Opfer von Polizeiübergriffen.

Die TeilnehmerInnen des Symposiums befürchteten für Berlin ähnliche Effekte, vor allem bei der Aufhebung oder Beeinträchtigung demokratischer Grundrechte. Die Neuregelungen des ASOG erleichtern insbesondere verdachtsunabhängige Personenkontrolle, sowie Platzverweise und deren zeitliche Ausdehnung bis auf ein Jahr. Die damals geäußerten Befürchtungen gingen auch in die Richtung, dass der Polizei Tür und Tor geöffnet würde, politisch unerwünschte Personen effizienter unter Druck setzen zu können.

Aber nicht nur DemonstrantInnen, sondern auch Obdachlose sahen die Veranstalter als mögliche Opfer und dies nicht grundlos. 1996 machte man bei der Berliner "AG Leben mit Obdachlosen" eine seltsame Entdeckung. In den von der AG betriebenen Wärmestuben, Suppenküchen und Notunterkünften gingen Erzählungen von Verbringungsgewahrsam um. Diesen ging man nach und recherchierte gezielt. Das Ergebnis war: Tausendfache Verbringung von Obdachlosen, jugendlichen und erwachsenen Prostituierten an den Stadtrand. Manche von ihnen waren bis zu 70 Mal aus der Stadt gebracht worden. Dies alles ohne rechtliche Handhabe. Damals hatte die AG zum Gespräch in die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche eingeladen. Doch die Polizeiführung hielt es nicht für notwendig, teilzunehmen. Später bei Befragung im Sozialausschuss musste man seitens der Polizei eingestehen, im Jahre 1995 mehr als 1750 Verbringungen durchgeführt zu haben. Auch zum Symposium im September 1999 waren Vertreter der Polizeiführung und der Regierung eingeladen. Auch diesmal erschien keiner der Eingeladenen.

Eine neue Form der Vertreibung

Zwischenzeitlich und unter ökonomischem Druck handeln politisch Verantwortliche nach neuer Maßgabe. Öffentlichen Straßen und Plätze sauber zu halten ist teuer und die öffentlichen Kassen leer. Da scheint es wie die ultima ratio, diese Orte zu privatisieren. Das spart Steuergelder und als PolitikerIn ist mensch auch nicht mehr daran Schuld, wenn es zu Übergriffen kommt. Die hat der Privatier zu verantworten, und mensch kann als staatlicheR WürdenträgerIn gelassen der nächsten Wahl entgegen sehen. So sorgt die Abschaffung des öffentlichen Raumes für die einfache Entsorgung sozialer Probleme.

Beispiele für die Privatisierung öffentlicher Räume sind unter anderem die Deutsche Bahn AG nebst der Berliner S-Bahn GmbH, aber auch die Berliner Plätze Potsdamer Platz oder der Los Angeles Platz. An den genannten Orten gilt bis auf das Strafgesetzbuch kein öffentliches Recht mehr, sondern nur mehr Hausrecht. Von diesen Möglichkeiten machen die Daimler-Chrysler Tochter DEBIS am Potsdamer Platz, aber auch die DB AG regen gebrauch. In den öffentlich zugänglichen Bereichen beider Unternehmen wimmelt es nur so von Sicherheitspersonal uniformiert und in Zivil. Was angeblich zum Schutz der KundenInnen aufgefahren wird, dient lediglich der Überwachung eines ungestörten Konsums. Wer da nicht hingehört, der kann schnell mit Fäusten, Füssen oder Schlagstöcken Bekanntschaft machen. Häufig kommt es zu Übergriffen, sie werden aber nicht verfolgt, weil die Opfer meist allein und die Täter in der Mehrzahl sind und sich vor ZeugInnen nichts abspielt.

Was den BesucherInnen zum Beispiel des Potsdamer Platzes meist entgeht, ist die Tatsache, dass dort alles Privatgelände ist. Gleichwohl täuscht das gesamte Ambiente des nicht überdachten Raumes öffentliches Straßenland vor. Da fällt es vielen schwer sich vorzustellen, dass letztlich jeder Wächter darüber befinden kann, wer sich dort aufhalten darf.

Bei der DB AG und ihrer Tochter S-Bahn GmbH gibt es einen eigenen Umgang mit als problematisch angesehenen BesucherInnen. Dies muss schon allein deshalb sein, weil beide Unternehmen teilweise vom Bundesgrenzschutz bewacht werden. Der oder diejenigen, die auffällig geworden sind erhalten ein Hausverbot für wenigstens 24 Stunden. Ihnen ist dann nur noch erlaubt, den Bahnhof zu betreten, um den nächsten Zug zu ihrem Reiseziel zu benutzen. Ein Verstoß gegen die Auflagen wird mit einer Anzeige wegen Hausfriedensbruches geahndet. Nicht selten erhalten die Betroffenen dann einen Strafbefehl, den sie aus Unkenntnis ihrer Rechte oder aus sonstigen Gründen nicht beachten und bearbeiten. Dadurch werden Einspruchsfristen überschritten. Ist der Befehl erst einmal rechtskraeftig, wartet in den meisten Fällen eine Geldstrafe bzw. über Ersatzhaft das Gefängnis oder "Arbeit statt Strafe" auf die Betroffenen. Wer sich jedoch adäquat zu wehren weiß, dem/der passiert in den meisten Fällen nichts.

Demokratie nein Danke?

Bisher haben PolitikerInnen aller Fraktionen es noch nicht für notwendig befunden, an diesen Praktiken etwas zu ändern. Im Gegenteil, Klagen von Geschäftsleuten, bestimmte Personengruppen, wie Obdachlose oder Junkies störten den Geschäftsbetrieb, werden gehört und es wird versucht den Anlass der Klage zu beseitigen: Menschen, deren Lebensraum ebenso die Stadt ist, die nur kein Geld bringen. Das Recht auf Freizügigkeit für alle wird systematisch zu Gunsten der Profite weiter ausgehöhlt. Besonders eindrucksvoll lässt sich dies am Beispiel der Bahnhöfe darstellen.

Die Bahn AG unter Hartmut Mehdorn hat ein neues Konzept für die wirtschaftliche Verwertung der Bahnhöfe entwickelt. Mit Milliarden Aufwand werden zunächst alle größeren Bahnhöfe in Deutschland zu riesigen Malls umgebaut. Hier kann mensch Tag und Nacht auch Sonn- und Feiertags einkaufen. Super- und Drogeriemärkte bieten neben kleinen Einzelhändlern alles was man zum Leben braucht. Der Bahnhof wird zur profitablen Erlebniswelt.

Menschen die traditionell den Bahnhof als Schutzraum oder als Ort der Begegnung und des Informationsaustausches genutzt haben und beim modernen Konsumrausch nicht mithalten können, werden zu unerwünschten BesucherInnen erklärt und des Feldes verwiesen. Dies geschieht Notfalls auch mit körperlicher Gewalt. Vielen ist dabei nicht klar, dass allein der Sicherheitsangestellte, der ihnen gegenüber tritt und das Hausrecht verkörpert, zunächst darüber entscheidet, ob jemand bleiben darf oder nicht. Bei einem normalen Geschäft würde man sagen, der Kunde kann auch ein anderes Geschäft aufsuchen. Bei einem Bahnhof geht das nicht. Die Menschen müssen ihn betreten, um am Öffentlichen Personennah- und Fernverkehr teilnehmen zu können.

Die Auwirkungen sollen am Beispiel von Wolfgang K. Anschaulich gemacht werden. Er ist Analphabet, hat ein Alkoholproblem und lebt von Sozialhilfe. Daneben verkauft er das Straßenmagazin "Die Stütze", mit dem er nur selten in der S-Bahn zu sehen ist. Ihm ist nicht klar zu machen, dass er nicht mit seiner Zeitung über dem Arm durch die Bahnhöfe gehen kann, wenn es der Wachschutz nicht duldet. "Ich kann doch rumlaufen wie ich will"; meint er, "Hauptsache ist doch, ich verkaufe nicht." K. kann nicht verstehen, dass das Recht auf Freizügigkeit allein im öffentlichen Raum gilt, zu dem Bahnhöfe nicht formal mehr zählen.

Ob ASOG Berlin oder privatisierter Bahnhof oder öffentlicher Platz, zukünftig werden es BürgerInnen schwerer haben ihre Grundrechten einzufordern, weil es keine öffentlichen Raum mehr gibt oder das öffentliche Recht dermaßen schwammig ist, dass sich damit alles verbieten oder erlauben lässt, grad wie es den Interessierten gefällt. Es gibt heute eine Form der Selektion, deren Hauptkriterien in Solvenz und Outfit besteht. Dies ist normal in einer Welt, die nach und nach jegliche menschliche Regung und jedwedes menschliche Handeln, inklusive aller moralischen Kategorien, nur bei monetärer Verwertbarkeit als existenzberechtigt betrachtet. Fiskalisch und profitorientiert mag das in Ordnung gehen, die demokratische Entwicklung der Gesellschaft wird damit aber angehalten und das bisher Erreichte in zynischer Art als Steinzeitdenken gebrandmarkt.

Zum oben beschriebenen Vorgehen der Bahn AG hat die Bundesregierung schon mal vorab ihre Neutralität erklärt. Öffentlich die Frage zu stellen, ob sie dazu überhaupt das Recht hat, ist bisher noch von niemandem ernsthaft in Erwägung gezogen worden.

Helmut Gispert