Heft 1 / 2002:
könnte besser sein
Sozialrecht
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Jürgen Müller und Götz Schulz-Loerbroks Zum ersten Artikel des Schwerpunkts Zur Rubrik Ausbildung Zur Rubrik Recht kurz Zum Sammelsurium Zur Rubrik Politische Justiz Zur BAKJ-Seite
Leben ohne Barriere
Das neue Behindertengleichstellungsgesetz
 

"Chancengleichheit und Teilhabe lösen Fürsorge und Diskriminierung ab", so Karl Hermann Haack, Behindertenbeauftragter der Bundesregierung, anlässlich der Verabschiedung des Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG) durch das Bundeskabinett am 7. November 2001. 1 Fragt sich, was tatsächlich hinter den pathetischen Worten steckt.

Mit dem Gesetz, dessen Erste Lesung im Bundestag am 15. November 2001 stattfand und das voraussichtlich am 1. Mai 2002 in Kraft tritt, soll das seit 1994 in Art. 3 Abs. 3 S. 2 Grundgesetz (GG) verankerte Benachteiligungsverbot von Behinderten mit Leben erfüllt werden. Zwar bestehen im Bundes- und Landesrecht schon verschiedene Regelungen, die behinderten Menschen z.B. den Schulbesuch und ein Hochschulstudium ermöglichen sowie eine behindertengerechte Erstellung von Bauten vorschreiben. Jedoch stellen sie nur vereinzelte und punktuelle Regelungen mit unterschiedlichen Voraussetzungen dar und können als Grundlage nur auf die Bestimmung im Grundgesetz verweisen; ein einheitliches Gesetz mit durchsetzbaren Ansprüchen würde dem verfassungsrechtlichen Gleichheitsgrundsatz endlich zur Geltung verhelfen und für die Betroffenen eine echte Erleichterung bringen.

Selbstbestimmt Leben

In den 80er Jahren wurde der Gedanke der Gleichstellung und dessen Umsetzung in der Rechtswirklichkeit weniger von traditionellen Behindertenverbänden als von Gruppen eingefordert, die sich in der Tradition des US-amerikanischen "independent living movement" sahen. Diese Bewegung, in Deutschland vor allem mit dem Namen der "Interessengemeinschaft Selbstbestimmt Leben" (ISL) verbunden, gründet sich auf die Idee der Selbstbestimmung der Behinderten. Unter Mitwirkung von Behindertenaktivistinnen und -aktivisten wurde 1990 in den USA die Verabschiedung des Gleichstellungsgesetzes "Americans with Disabilities Act" erreicht. Die Bewegung erhielt in den 90er Jahren, als um die Änderungen des Grundgesetzes gerungen wurde, größere Durchschlagskraft. Gegen die zunächst bestehenden Vorbehalte der großen Volksparteien konnte - nun auch mit Unterstützung durch die etablierten Behindertenverbände - das Diskriminierungsverbot in Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG verankert werden.

Doch der neue Gleichheitssatz konnte nicht alle Schwierigkeiten von behinderten Menschen im Alltag lösen. Einer breiteren Öffentlichkeit deutlich wurde dies insbesondere an zwei Gerichtsentscheidungen: Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) gab der Überweisung eines Körperbehinderten von einer Regelschule zu einer Schule für Körperbehinderte wegen Fehlens der finanziellen, personellen, sachlichen und organisatorischen Möglichkeiten statt 2; das Oberlandesgericht Köln gewährte den Nachbarinnen und Nachbarn einer Behindertenwohngemeinschaft einen Abwehranspruch gegen "behindertentypischen Lärm". 3

Im Zuge der Verfassungsdiskussion konstituierte sich ein "Forum behinderter Juristinnen und Juristen", dem Menschen mit verschiedenen Behinderungen angehörten, um den Versuch zu unternehmen, ein Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG ausfüllendes Gesetz zu schaffen. Es formulierte in mehrjähriger Arbeit den Entwurf eines Behindertengleichstellungsgesetzes (ForumE). Auf diesem sehr umfassenden, das öffentliche und zivile Recht betreffenden Vorschlag basierte Mitte 2001 der ReferentInnenentwurf (RefE)4 des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung. Er findet sich im Entwurf der Bundesregierung (RegE; Kabinettsbeschluss vom 7. November 2001)5 wieder - wenn auch in einer durch die Intervention von Bundeswirtschafts- und -innenministeriums deutlich abgeschwächten Form.

Übersicht

Flankiert wird das BGG von dem bereits am 19. Juni 2001 in Kraft getretenen Neunten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB IX)6, das das Schwerbehindertengesetz (SchwbG) ersetzt und darüber hinaus Regelungen zu "Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen" trifft. Geltung für Behinderte und andere benachteiligte Menschen auf dem privatrechtlichen Sektor soll das kurz Antidiskriminierungsgesetz (ADG) genannte "Gesetz zur Verhinderung von Diskriminierungen im Zivilrecht" beanspruchen, das ebenso wie das Gleichstellungsgesetz für Behinderte noch in der laufenden Legislaturperiode verabschiedet werden soll.

Mit dem 56 Artikel umfassenden "Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen und zur Änderung anderer Gesetze" werden die Träger öffentlicher Gewalt verpflichtet. In den meisten der Artikel geht es um marginale Änderungen von Berufsordnungen: So wird z.B. im Fall der Versagung bzw. des Widerrufs der anwaltlichen Zulassung in §§ 7 Nr. 7, 14 Abs. 2 Nr. 3 Bundesrechtsanwaltsordnung die als diskriminierend empfundene Beschreibung "wegen eines körperlichen Gebrechens, wegen Schwäche seiner geistigen Kräfte oder wegen einer Sucht" durch die Wörter "aus gesundheitlichen Gründen" ersetzt.

Echte Neuerungen sind mit Artikel 2 und 3 des Gesetzes verbunden: Behinderten Menschen soll durch verschiedene Maßnahmen die Teilnahme an Bundestags- und Europawahlen erleichtert werden; u.a. können Sehbehinderte dann Wahlschablonen zur Hilfe nehmen, so dass sie zur Ausübung ihres Wahlrechts nicht mehr auf Dritte angewiesen sind.

Für den universitären Bereich ist Artikel 28 von Belang, der das Hochschulrahmengesetz (HRG) ändert und das Gebot der Chancengleichheit als Element von Prüfungsordnungen postuliert. So sollen Behinderte gemäß des neuen § 2 Abs. 4 HRG ein Studium ohne fremde Hilfe absolvieren können; Prüfungsordnungen sollen ihre Belange zur Wahrung der Chancengleichheit berücksichtigen, § 16 S. 3 HRG.

Von besonderer Bedeutung ist Artikel 1, der das eigentliche "Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen" (Behindertengleichstellungsgesetz - BGG) beinhaltet. Das BGG hat gemäß § 1 des RegE zum Ziel, "die Benachteiligung von behinderten Menschen zu beseitigen und zu verhindern sowie die gleichberechtigte Teilhabe von behinderten Menschen am Leben in der Gesellschaft zu gewährleisten und ihnen eine selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen". Grundanliegen des Gesetzes ist dabei die barrierefreie Gestaltung der Umwelt, worunter gemäß § 4 BGG-RegE die Zugänglichkeit und Nutzung "ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe" zu verstehen ist. Insbesondere der öffentliche Personennah- und -fernverkehr soll barrierefrei gestaltet werden. Im neu eingefügten § 4 Abs. 1 Nr. 2a des Gaststättengesetzes wird darüber hinaus als anlagenbezogener Versagungsgrund für Gaststätten das Fehlen von Barrierefreiheit normiert.

Bauliche Anlagen und akustische sowie visuelle Informationseinrichtungen sollen ohne Einschränkung auch für Behinderte nutzbar sein. Zu unterscheiden ist hierbei zwischen baulichen Anlagen in öffentlicher Hand - diese müssen im Fall von Neu-, Um- oder Erweiterungsbau stets barrierefrei gestaltet werden, § 8 BGG-RegE - und solchen in privater Hand: Hier sollen Behindertenverbände direkt an die private EigentümerInnen herantreten und mit diesem sog. Zielvereinbarungen treffen (§ 5 BGG-RegE). Ein Anspruch auf barrierefreie Gestaltung von Mietwohnungen wurde schon bei der umfassenden Mietrechtsänderung im Juni 2001 mit § 554a Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) installiert.

Die Deutsche Gebärdensprache (DGS) wird neben den lautsprachbegleitenden Gebärden (LBG) als eigenständige Sprache - z.B. vor Gericht - anerkannt, §§ 6, 9 BGG-RegE. Der jahrelange Streit in der Gehörlosenpädagogik zwischen der als Gehörlosen-Kultur empfundenen DGS und den am Sprechen orientierten LBG wird dadurch nicht entschieden. Auch andere Kommunikationsformen (wie das sog. Lormen in die Hand von Taubblinden) können zugelassen werden.

Amtliche Bescheide und Vordrucke sollen behindertengerecht gestaltet werden, § 10 BGG-RegE. Auch im Fall der Neuen Medien (insbesondere Internet und CD-ROM) werden die Träger öffentlicher Gewalt gemäß § 11 BGG-RegE zur Schaffung einer barrierefreien Informationstechnik verpflichtet.

Die Durchsetzung von Ansprüchen wird behinderten Menschen erleichtert: So sollen sie sich gemäß § 12 BGG-RegE vor Gericht durch einen Behindertenverband vertreten lassen können. Verbänden wird über § 13 BGG-RegE das Verbandsklagerecht gewährt.

Ein besonderes Anliegen des BGG stellt die Gleichberechtigung behinderter Frauen als doppelt Benachteiligter dar, § 2 BGG-RegE: So soll z.B. für sie vermehrt Teilzeitarbeit ermöglicht werden. Im übrigen wird in §§ 14f. BGG-RegE das Institut der/ des schon seit 1980 agierenden "Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen" (zur Zeit besetzt mit dem SPD-Bundestagsabgeordneten Karl Hermann Haack) auf eine rechtliche Basis gestellt.

"Behinderung"

Hat der alte § 3 SchwbG Behinderung noch medizinisch-defektologisch als die "Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden Funktionsbeeinträchtigung, die auf einem regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand beruht" bestimmt, wurde sich im Gesetzgebungsverfahren für das SGB IX um einen moderneren Begriff bemüht. So wird nunmehr in § 9 Abs. 1 S. 1 SGB IX (wortgleich übernommen in § 3 BGG-RegE) als zusätzliche Voraussetzung für Behinderung die Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft benannt.

So definiert der neue § 3 BGG-RegE "Behinderung": Menschen sind behindert, "wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist". Der neue Behinderungsbegriff wurde an die "International Classification of Functioning, Disability and Health" angelehnt, die die Weltgesundheitsorganisation (WHO) auf ihrer Vollversammlung im Mai 2001 verabschiedet hat. Die WHO berücksichtigt darin - losgelöst von der alleinigen Betrachtung körperlicher Defizite - den gesamten Lebenshintergrund des Menschen und macht Behinderung auch an der Gesellschaft fest: Denn Beeinträchtigte werden erst durch eine Gesellschaft, die behindert, zu Behinderten.

Indes sieht das deutsche Recht zwei Einschränkungen vor: Zum einen muss die Beeinträchtigung voraussichtlich mindestens sechs Monate bestehen, um von (heilbaren) Krankheiten abzugrenzen, zum anderen darf sie kein alterstypisches Defizit bedeuten. Durch diesen Normalzustand, auf den das körperliche Defizit bezogen wird, bleibt die Gesetzgebung letztlich weiterhin dem medizinisch-defektologischen Begriff von Behinderung verhaftet.

Verbandsklagerecht

Aus dem BGG ergeben sich mehrere subjektiv-öffentliche Rechte, aus denen der/ die Betroffene vorgehen kann: So das allgemeine Benachteiligungsverbot des § 7 Abs. 2 BGG-RegE, daneben u.a. die Barrierefreiheit in Bau und Verkehr, das Recht auf Verwendung von Gebärdensprache und auf Erhalt amtlicher Bescheide in zugänglicher Form. Relativ neu ist noch die Einbeziehung von Verbänden: Diese können nicht nur eigene Betroffenheit (z.B. Verletzung ihres Rechts auf Zielvereinbarung) geltend machen. Es steht ihnen nunmehr im Rahmen des § 12 S. 1 BGG-RegE ein Vertretungsrecht für einzelne Betroffene zu. Weiterhin können sie sich auch bei fehlender eigener Betroffenheit auf ein originäres Verbandsklagerecht berufen, § 13 Abs. 1 BGG-RegE. Das Institut der Verbandsklage ist dabei allerdings so neu nicht, sondern findet sich schon länger in § 13 Abs. 2 Nr. des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb, in § 3 Abs. 1 Nr. 2 Unterlassungsklagengesetz (ehem. § 13 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 des Gesetzes zur Regelung des Rechtes der Allgemeinen Geschäftsbedingungen) sowie in vielen Landesnaturschutzgesetzen (nicht in Bayern); im Bundesnaturschutzrecht soll es ebenfalls installiert werden. Sinnvoll ist es insbesondere deshalb, weil dadurch das finanzielle Prozessrisiko des/ der einzelnen Betroffenen gemindert wird, dem/ der ansonsten meist die ausreichende Durchsetzungskraft gegen einen Großkonzern oder eine staatliche Institution fehlt.

Einschränkend wirkt allerdings der Umstand, dass sich die Verbände zur Erlangung der Vertretungs- und Klageberechtigung einem Anerkennungsverfahren beim Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung unterziehen müssen. Die dafür in § 13 Abs. 3 BGG-RegE genannten Voraussetzungen wie "Gewähr für eine sachgerechte Aufgabenerfüllung" öffnen der Politik Tür und Tor für selbstgefällige Entscheidungen.

Zugang zur Informationstechnik

Auf vielfache Kritik von Betroffenenverbänden ist die Regelung des § 11 BGG-RegE zur Barrierefreiheit von Informationstechnik gestoßen. Diese gründet sich insbesondere darauf, dass die im BGG-ForumE weitergehende Bestimmung im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens immer mehr verwässert worden ist. So bestimmte Art. 1 § 11 BGG-ForumE noch absolut, dass Internet- und Intranetseiten sowie grafische Programmoberflächen im Bereich der EDV derart gestaltet sein müssen, dass sie von behinderten Menschen uneingeschränkt benutzt werden können. Dem gegenüber galt in § 10 BGG-RefE die Barrierefreiheit nur noch "grundsätzlich" - Ausnahmen waren also denkbar. Nach § 10 Abs. 1 S. 4 BGG-RefE sollte außerdem eine Rechtsverordnung die anzuwendenden Standards festlegen. In § 11 Abs. 1 BGG-RegE wird auf die Anpassung des Intranets verzichtet. Darüber hinaus soll die Herstellung der Barrierefreiheit zum einen nur noch "schrittweise" und zum anderen unter Maßgabe technischer, finanzieller und verwaltungsorganisatorischer Möglichkeiten verwirklicht werden. Nicht nur wegen der dem § 11 BGG-RegE innewohnenden zeitlichen Streckung, sondern vor allem auch wegen der Einschränkung der Pflicht zur Zugänglichmachung der Informationsangebote in jeder denkbaren materiellen Hinsicht wird der Zugang zu Informationen der öffentlichen Gewalt völlig entwertet und bleibt eine nette Absichtserklärung.

Zudem ist gegen den eigenen Anspruch des Gesetzes die für blinde und sehbehinderte BürgerInnen erforderliche Erläuterungspflicht von grafischen Elementen durch beschreibende Texte (also von Grafiken, Bildern, multimedialen Darstellungen und Animationen) im BGG-RegE weggefallen.

Weitere wichtige Inhalte werden in die Rechtsverordnung verschoben und bleiben vorerst ungeregelt. Dazu gehören die anzuwendenden Standards bei der Gestaltung der Informationsangebote, der Zeitpunkt der Umsetzung (§ 11 I 2 Nr. 2 BGG-RegE) sowie die zu gestaltenden Bereiche und Arten der amtlichen Information (§ 11 I 2 Nr. 3 BGG-RegE).

Dabei legt die Formulierung "amtliche Informationen" nahe, "amtlich" als eine Einschränkung zu begreifen. Sind von dem Anliegen, einen barrierefreien Zugang zu ermöglichen, auch nicht-amtliche Mitteilungen oder alle Formen der behördlichen Selbstdarstellung (z.B. Presseerklärungen und Informationshefte) erfaßt? Dieser Begriff wird im neuen Datenschutzrecht verwandt und dort umfassend, im Sinne von alle im dienstlichen Zusammenhang erlangten Informationen in verschiedener Form verstanden (vgl. §§ 4 I; 3 Informationsfreiheitsgesetz IFG von NRW). Weiter bleibt, nachdem § 11 I 1 BGG-RegE auf § 7 I 1 BGG-RegE verweist und dort als Normadresssat der Träger öffentlicher Gewalt genannt ist, unklar, ob der Pflicht zur Herstellung barrierefreier Informationstechnik im Sinne des § 11 BGG-ReGE neben Informationen der Behörden der Bundesverwaltung als Exekutive auch Veröffentlichungen der Bundesgerichte als Judikative (z.B. Gerichtsentscheidungen) und des Bundestages als Legislative (z.B. Bundestagsdrucksachen) im Internet unterfallen.

Ein Blick in das VwVfG hilft auch nicht weiter (abgesehen von dessen unmittelbaren Anwendung nur für das Verwaltungsverfahren des Bundes). Zwar definiert § 1 Abs. 4 VwVfG eine Behörde als jede Stelle, die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnimmt, doch sind gemäß § 2 Abs. 3 Nr. 1 VwVfG die Tätigkeiten der Justizverwaltung ausdrücklich ausgeschlossen. Da § 7 I 1 BGG-RegE für Träger öffentlicher Gewalt von "Dienststellen und sonstigen Einrichtungen der Bundesverwaltung" im Gegensatz zum § 15 Abs. 3 BGG-RegE spricht, der die Aufgaben und Befugnisse des/der Beauftragten behinderter Menschen regelt und vom Wortlaut weitergehend "alle Bundesbehörden und sonstigen öffentlichen Stellen im Bereich des Bundes" verpflichtet, bedarf es im Gesetzgebungsverfahren - eingedenk des Gesetzeszwecks - noch einer Klarstellung oder Korrektur.

Unannehmbar ist auch, dass per Rechtsverordnung bestimmt wird, für welche Behinderungsgruppen die Pflicht zur Zugänglichkeit überhaupt gelten soll (§ 11 I 2 Nr. 1 BGG-RegE). Dem Bundesinnenministerium als Verordnungsgeber bleibt überlassen, ob und in welchem Umfang in diesem essenziellen Bereich letztlich Barrierefreiheit geschaffen wird. Die Frage drängt sich auf, ob die Verschiebung derartiger Inhalte überhaupt der Maßgabe des Art. 80 Abs. 1 GG entspricht: danach soll der wesentliche Gehalt gerade dem vom Parlament erlassenen Gesetz entnommen werden und eben nicht der Rechtsverordnung der Exekutive.

Daneben mag es manchem angesichts der Bestellung des Schily-Ministeriums zum Sachwalter eines grundgesetzlichen Benachteiligungsverbots erscheinen, als würde hier der Bock zum Gärtner gemacht.

Zielvereinbarung

Weitere Neuerung ist die Möglichkeit des Abschlusses von Zielvereinbarungen, § 5 Abs. 1 BGG-RegE. Sie sollen zwischen Behindertenverbänden und privaten Unternehmen zustande kommen und allgemein die Herstellung der Barrierefreiheit im Sinne von § 4 BGG-RegE beinhalten, also für bauliche Anlagen, Verkehrsmittel und Informationsangebote. Eine Zielvereinbarung ist dabei als ein zivilrechtlicher Vertrag gemäß §§ 241 Abs. 1, 311 Abs. 1 BGB (§§ 241, 305 BGB a.F.) einzustufen; das BGG trifft deshalb keine verbindlichen Regelungen und stellt stattdessen die Verwirklichung der Ziele in das Belieben der Parteien. Zwar normiert § 5 Abs. 2 BGG-RegE gewisse Mindestvoraussetzungen (wie Geltungsdauer und -bereich); fraglich ist jedoch, ob bei Fehlen einer Voraussetzung der Vertrag gemäß § 134 BGB nichtig ist, da ein Verstoß gegen den gesetzlichen Zweck dann wohl nicht vorliegt.

In § 11 Abs. 2 BGG-RegE wird die Zielvereinbarung erneut erwähnt: Demzufolge wirkt der Gesetzgeber beim Angebot von Internetseiten durch Private auf Abschluss von Zielvereinbarungen zur Barrierefreiheit hin; dies bedeutet ein Mehr als "anregen", aber ein Weniger als "zwingen"; dennoch dürfte der Gesetzgeber die Verpflichtung haben, bei Scheitern einer Zielvereinbarung selbst zu regulieren. In § 8 Abs. 2 BGG-RegE ist dagegen für die barrierefreie Gestaltung von nicht-öffentlichen baulichen Anlagen, öffentlichen Straßen und Verkehrsmitteln die Zielvereinbarung nicht ausdrücklich genannt. Dennoch kommen auch hier Zielvereinbarungen in Betracht: Die Regelung formuliert nämlich eine Gestaltungspflicht "nach Maßgabe anderer einschlägiger Bundesregelungen", wozu auch Zielvereinbarungen zu zählen sind; daneben legt die kategorische Formulierung des § 5 BGG-RegE eine Erfassung nahe.

Insgesamt ist das Institut der Zielvereinbarung in der hier vorliegenden Form deutlich zu kritisieren: Es gibt den Betroffenenverbänden keinen Anspruch auf Abschluss, sondern nur den auf Verhandlung, § 5 Abs. 1 S. 3 BGG-RegE. Im Einzelfall kann es fraglich sein, ob z.B. ein Selbsthilfeverband das fachliche bzw. personelle Potenzial zu einer adäquaten Verhandlungsführung besitzt (wie auch auf der anderen Seite ein kleineres Unternehmen mit derartigen Verhandlungen schlichtweg überfordert sein kann). Im besonderen Maße problematisch ist die Präklusionsvorschrift des § 5 Abs. 4 BGG-RegE, nach der ein Verband u.a. während schon laufender Verhandlungen von der Teilnahme ausgeschlossen ist. Hier stellt sich die Frage, inwiefern sich Verbände über anvisierte Verhandlungen informieren können: Der Beginn von Verhandlungen soll nun zwar durch das Bundesarbeitsministerium im Internet bekanntgegeben werden, zweifelhaft bleibt, ob dieser Weg für die Information der Betroffenen ausreicht. Ebenfall präkludiert sind Verbände, wenn das Privatunternehmen zu einer in einem anderen Fall zustande gekommenen Zielvereinbarung beitritt, § 5 Abs. 4 Nr. 4 BGG-RegE; hier besteht die Gefahr, dass Zielvereinbarungen ohne inhaltliche Würdigung übernommen werden, die auf die Möglichkeiten der ursprünglichen Verhandlungspartner abstellen.

Ähnlich dem Verbandsklagerecht (aber unabhängig von ihm) sollen sich die interessenvertretenden Verbände zuerst einem Zulassungsverfahren beim Bundesarbeitsministerium unterziehen. Entscheidungskriterien werden dafür keine gegeben.

Länder

Sollen sich die - ohnehin spärlichen - Errungenschaften des BGG nicht als Messer ohne Klingen erweisen, sind nunmehr die Bundesländer gefragt, haben diese doch die Gesetzgebungskompetenz in solch wichtigen Bereichen wie Schulrecht und Hochschulrecht und sind für die barrierefreie Gestaltung der Landesbauten zuständig.

Vorbilder mit vergleichbarem Inhalt sind hier schon Berlin, wo seit 1999 ein "Landesgleichberechtigungsgesetz" (LGBG) besteht, sowie Sachsen-Anhalt, dessen "Behindertengleichstellungsgesetz" (BGStG) am 20. November 2001 verabschiedet worden ist.7 Angesichts der Berliner Erfahrungen mit dem LGBG offenbart sich jedoch die Gefahr eines Gesetzes, das vornehmlich aus schönen Formulierungen besteht und kaum durchsetzbare Ansprüche enthält. So nimmt es nicht wunder, dass es von Selbsthilfeverbänden, die mit dem LGBG arbeiten müssen, mit harscher Kritik überzogen wird. Soll sich ein Gleichstellungsgesetz für Behinderte nicht als Potemkinsches Dorf erweisen, müssen echte Veränderungen her.

Antidiskriminierungsgesetz

Noch in Herta Däubler-Gmelins ReferentInnenküche befindet sich das zivilrechtliche ADG 8: Nach dem ReferentInnenentwurf soll der ergänzte § 319 BGB-RefE als zivilrechtliches Pendant zu Art. 3 GG ein allgemeines Benachteiligungs- und Belästigungsverbot zum Inhalt haben. Hierbei soll es zu einer Beweislastumkehr kommen, § 319c BGB-RefE; dem/ der Benachteiligten steht der Anspruch auf Unterlassung, Folgenbeseitigung sowie ggf. Schadenersatz zu, § 319e BGB-RefE. Interessant ist die geplante Regelung des § 44a Bundeshaushaltsordnung, nach der Unternehmen, die diskriminieren, keine Bundesmittel mehr erhalten sollen. Die Erfahrung des BGG zeigt jedoch, dass auch beim Antidiskriminierungsgesetz im Gesetzgebungsverfahren noch Verwässerungen nicht unwahrscheinlich - wenn nicht gar zu erwarten - sind. Aufmerksamkeit ist gefragt

Fazit

Im übrigen sollen mehrere unerträgliche Regelungen unberührt von BGG und ADG bleiben: So das Urheberrecht, das Sinnesbehinderten den Zugang zu Informationen erschwert, weil es für die Umsetzung von gedruckter Literatur (mittels Scannen oder Aufsprache auf Tonträgern) eine Erlaubnis des/der UrheberIn fordert, §§ 16, 31 Urheberrechtsgesetz. Hörbüchereien für Sehgeschädigte zahlen so gleich doppelt: Neben der (sehr teueren) Kassettenproduktion auch oft noch Lizenzgebühren (sofern überhaupt die Erlaubnis erteilt wird). Diese Einschränkung ist nur schwerlich mit dem Grundsatz der Sozialbindung des Eigentums in Art. 14 Abs. 2 S. 2 GG zu vereinbaren. Auch Gehörlose werden weiterhin im deutschen Recht diskriminiert: Gemäß § 187 Abs. 1 Gerichtsverfassungsgesetz steht es im gerichtlichen Ermessen, ihren Prozessvortrag überhaupt zu berücksichtigen; § 828 Abs. 2 S. 2 BGB stellt sie in der Schuldfähigkeit mit beschränkt Geschäftsfähigen gleich. (Zumindest bei der letzten Regelung stellt das Däubler-Gmelin-Ministerium jedoch eine Änderung in Aussicht.)

Zusammenfassend kann es grundsätzlich begrüßt werden, wenn eine weitere Stufe der sehr langen Treppe zur Gleichstellung von Behinderten erklommen wird. Ärgerlich ist es aber, wenn eigentlich vielversprechende Ansätze im Gesetzgebungsverfahren zulasten des Gesetzeszwecks immer mehr verwässert werden. "Gleichberechtigte Teilhabe" und "selbstbestimmte Lebensführung" scheinen gerade hinsichtlich der Barrierefreiheit und des Zugangs zu den neuen Medien immer noch in weiter Ferne zu liegen. Ein Schön-Wetter-Gesetz ohne wirksame Ansprüche und Sanktionen ist für die Arbeit der Selbsthilfeverbände eher kontraproduktiv, da die Gefahr besteht, dass sie stets auf das unzureichende Gesetz verwiesen werden.

Bis zum endgültigen Inkrafttreten des BGG sind allerdings noch Änderungen möglich. Mehrere Behindertengruppen versuchen im direkten Kontakt zu den Verantwortlichen, die gröbsten Fehler des Gesetzes auszuräumen. Bleibt zu hoffen, dass sie Erfolg haben.

Jürgen Müller & Götz Schulz-Loerbroks, Erlangen.

Anmerkungen:

1 vgl. http://www.behindertenbeauftragter.de/presse/pr071101.stm.
2 Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 1998, 131 ff; frühere Entscheidungen waren noch positiver: vgl. BVerfG, NJW 1997, 1062 f und 1844, dazu Jürgens/Jürgens, NJW 1997, 1052f.
3 NJW 1998, 763 ff, dazu Wassermann NJW 1998, 730 f und Lachwitz NJW 1998, 881 ff.
4 Beide Entwürfe sind unter http://www.nw3.de/wsite/bundnavi.htm abrufbar.
5 vgl. Bundestagsdrucksache 14/7420
6 vgl. Bundesgesetzblatt 2001 I, 1046 ff.
7 vgl. Gesetz- und Verordnungsblatt für Berlin 1999, 178 ff und Gesetz- und Verordnungsblatt Sachsen-Anhalt 2001, 457 ff.
8 Das ADG war bei Beendigung des Manuskripts noch nicht im Wortlaut veröffentlicht; vgl. zum Inhalt http://www.cebeef.com/to/2001/12/tof6031.html.

Links:

http://www.behindertenbeauftragter.de
http://www.who.int/icf http://www.nw3.de (Netzwerk Artikel 3)
http://www.bigub.de (Blinde in Gesellschaft und Beruf)
http://www.dvbs-online.de (Deutscher Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf)
http://www.gleichstellung.behindertenrat.de