Heft 4 / 1996:
Law Online
Auf dem Weg in die Informationsgesellschaft
xxx

Oliver Schilling Zum ersten Artikel des Schwerpunkts Zum ersten Artikel des Forums Zur Rubrik Ausbildung Zur Rubrik Recht kurz Zum Sammelsurium Zur Rubrik Politische Justiz Zur BAKJ-Seite
Behinderte dürfen nicht zu ihrem Glück gezwungen werden
 

Körperlich Behinderte dürfen grundsätzlich nicht gegen ihren Willen zu einer sonderschulpädagogischen Behandlung gezwungen werden. Stehen dem Schulbesuch an einer Regelschule organisatorische, sächliche oder personelle Hindernisse entgegen, so entsteht eine "besondere Begründungspflicht" für die Ablehnung. Dies hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in seinem Beschluß vom 30. Juli 1996 festgestellt. Damit haben sich die Karlsruher RichterInnen erstmals auf das 1994 ins Grundgesetz (GG) aufgenommene Benachteiligungsverbot Behinderter berufen.
Das BVerfG hatte über die Verfassungsbeschwerde eines behinderten Mädchens zu entscheiden. Die Schülerin rügte ein Urteil des Oberverwaltungsgericht (OVG) Lüneburg, durch welches ihr die Zwangsüberweisung in eine Sonderschule drohte. Sie hatte ihre Grundschulzeit in einer Regelschule verbracht und wollte ihre Schulzeit auch weiterhin zusammen mit Nichtbehinderten verbringen. Zum Schuljahr 1995/96 wechselte sie in die fünfte Klasse einer integrierten Gesamtschule. Aufgrund eines Gutachtens stellte die Schulbehörde einen "sonderpädagogischen Förderbedarf" bei ihr fest und verfügte ihre sofortige Überweisung auf eine Sonderschule. Eine weitere Unterrichtung der Schülerin auf der Gesamtschule führe zu einer Überlastung der Lehrkräfte sowie zu einer Beeinträchtigung des Unterrichts und sei auch für das Mädchens schädlich, da ihr nicht die Förderung zukomme, die sie eigentlich benötige, so die Behörde.
Die Betroffene und ihre Eltern bewerteten die Situation jedoch vollkommen anders: Sie sehen die Berufs- und Lebenschancen durch den Besuch einer Sonderschule gemindert und fordern, daß das Kind weiterhin "integriert" leben darf. Bis zu der Entscheidung über ihre Klage gegen den Bescheid der Schulbehörde verlangten sie eine Aufschiebung der Zwangsüberweisung. Diese wurde zwar von dem zuständigen Verwaltungsgericht anerkannt, jedoch vom OVG Lüneburg abgelehnt.
Das BVerfG hat nun dem Antrag auf Aufschub des Beschlusses der Schulbehörde stattgegeben. Streng getadelt wurden die Lüneburger KollegInnen, weil ihr Urteil ein Bewußtsein für das Interesse der Beschwerdeführerin, wegen ihrer Behinderung nicht benachteiligt zu werden, nicht erkennen lasse. Der schlicht "nichtssagende Hinweis auf ‚organisationsbedingte' Umstände" genüge nicht für einen Verweis des Mädchens in die Sonderschule. Das BVerfG fragt sich in seiner Entscheidung, "was dem Einsatz einer pädagogisch oder therapeutisch vorgebildeten Stützkraft entgegenstehen soll".
Dabei ist im Niedersächsischen Schulgesetz (NSchG) das im GG verankerte Benachteiligungsverbot besonders ausgestaltet: Behinderte SchülerInnen sollen einen vorrangigen Anspruch auf gemeinsame Beschulung mit SchülerInnen ohne sonderpädagogischen Förderbedarf haben (§§ 4, 14 Abs. 2 Satz 1, § 68 Abs. 1 Satz 2 NSchG).

Oliver Schilling, Bonn

Quellen und Literatur:

(zum Urteil) Aktenzeichen: 1 BvR 1308/96; Frankfurter Rundschau, Süddeutsche Zeitung, tageszeitung v. 5.8.1996.