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Körperlich Behinderte dürfen grundsätzlich nicht gegen ihren Willen zu
einer sonderschulpädagogischen Behandlung gezwungen werden. Stehen dem
Schulbesuch an einer Regelschule organisatorische, sächliche oder personelle
Hindernisse entgegen, so entsteht eine "besondere Begründungspflicht"
für die Ablehnung. Dies hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in seinem
Beschluß vom 30. Juli 1996 festgestellt. Damit haben sich die Karlsruher
RichterInnen erstmals auf das 1994 ins Grundgesetz (GG) aufgenommene Benachteiligungsverbot
Behinderter berufen.
Das BVerfG hatte über die Verfassungsbeschwerde eines behinderten Mädchens
zu entscheiden. Die Schülerin rügte ein Urteil des Oberverwaltungsgericht
(OVG) Lüneburg, durch welches ihr die Zwangsüberweisung in eine Sonderschule
drohte. Sie hatte ihre Grundschulzeit in einer Regelschule verbracht und
wollte ihre Schulzeit auch weiterhin zusammen mit Nichtbehinderten verbringen.
Zum Schuljahr 1995/96 wechselte sie in die fünfte Klasse einer integrierten
Gesamtschule. Aufgrund eines Gutachtens stellte die Schulbehörde einen
"sonderpädagogischen Förderbedarf" bei ihr fest und verfügte ihre sofortige
Überweisung auf eine Sonderschule. Eine weitere Unterrichtung der Schülerin
auf der Gesamtschule führe zu einer Überlastung der Lehrkräfte sowie zu
einer Beeinträchtigung des Unterrichts und sei auch für das Mädchens schädlich,
da ihr nicht die Förderung zukomme, die sie eigentlich benötige, so die
Behörde.
Die Betroffene und ihre Eltern bewerteten die Situation jedoch vollkommen
anders: Sie sehen die Berufs- und Lebenschancen durch den Besuch einer
Sonderschule gemindert und fordern, daß das Kind weiterhin "integriert"
leben darf. Bis zu der Entscheidung über ihre Klage gegen den Bescheid
der Schulbehörde verlangten sie eine Aufschiebung der Zwangsüberweisung.
Diese wurde zwar von dem zuständigen Verwaltungsgericht anerkannt, jedoch
vom OVG Lüneburg abgelehnt.
Das BVerfG hat nun dem Antrag auf Aufschub des Beschlusses der Schulbehörde
stattgegeben. Streng getadelt wurden die Lüneburger KollegInnen, weil
ihr Urteil ein Bewußtsein für das Interesse der Beschwerdeführerin, wegen
ihrer Behinderung nicht benachteiligt zu werden, nicht erkennen lasse.
Der schlicht "nichtssagende Hinweis auf ‚organisationsbedingte' Umstände"
genüge nicht für einen Verweis des Mädchens in die Sonderschule. Das BVerfG
fragt sich in seiner Entscheidung, "was dem Einsatz einer pädagogisch
oder therapeutisch vorgebildeten Stützkraft entgegenstehen soll".
Dabei ist im Niedersächsischen Schulgesetz (NSchG) das im GG verankerte
Benachteiligungsverbot besonders ausgestaltet: Behinderte SchülerInnen
sollen einen vorrangigen Anspruch auf gemeinsame Beschulung mit SchülerInnen
ohne sonderpädagogischen Förderbedarf haben (§§ 4, 14 Abs. 2 Satz 1, §
68 Abs. 1 Satz 2 NSchG).
Oliver Schilling, Bonn
Quellen und Literatur:
(zum Urteil) Aktenzeichen: 1 BvR 1308/96; Frankfurter Rundschau, Süddeutsche
Zeitung, tageszeitung v. 5.8.1996.
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