Heft 2 / 2001:
Recht Macht Geschlecht
Notwendigkeit und Perspektiven feministischer Rechtspolitik
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Diskriminierung und Legitimitätsverlust des Rechts
Rezension
 

David Cole, No Equal Justice - Race and Class in the American Criminal Justice System, The New Press, New York, N.Y. 1999, $ 14.95, www.thenewpress.com

"Sie haben das Recht zu schweigen. Sollten Sie von diesem Recht keinen Gebrauch machen, kann alles, was Sie sagen, vor Gericht gegen Sie verwendet werden. Haben Sie verstanden?" Diese aus unzähligen Kriminalfilmen geläufige Formel wird tagtäglich Tausenden von Straftatverdächtigen in den USA vorgehalten. Hieraus könnte man schließen, daß die sog. Miranda-Warnung 1 geeignet sei, dem von Verfassungs wegen garantierten Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz auch in der Verfassungswirklichkeit Geltung zu verschaffen. Tatsächlich aber wird häufig mit der Beweiserhebung fortgefahren, obwohl sich die Verdächtige auf ihr Schweigerecht berufen hat; vor Gericht kann dann ein so erlangtes Geständnis aufgrund des bloßen Vorhandenseins einer Belehrungspflicht verwertet werden.
Für David Cole (Georgetown University) stellt eine solche Anwendung der Miranda-Warnung nur ein Beispiel dar für die Diskrepanz von Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit, die in den USA zu einer Diskriminierung unterprivilegierter Schichten und Ethnien geführt habe. Das Besondere an seinem Buch ist jedoch, daß er nicht nur beklagt, man habe die diskriminierende Anwendung des Strafrechts ignoriert oder nicht hinreichend bekämpft, sondern postuliert, sie sei dem amerikanischen Strafrechtssystem inhärent, ja es könne ohne diese gar nicht funktionieren.

Diskriminierung

Cole beschreibt in schonungsloser Weise die gegenwärtige Situation des amerikanischen Strafrechtssystems, in dem Angehörige unterprivilegierter Schichten und Ethnien überproportional häufig mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Besonders verheerend stelle sich die Situation für schwarze männliche Amerikaner dar. 1995 verbüßte jeder Dritte Afroamerikaner im Alter von 20 bis 29 eine Gefängnis- oder Bewährungsstrafe. Auf jeden farbigen Hochschulabsolventen kommen landesweit 100 (!) Afroamerikaner, die verhaftet werden. Aber auch auf legislatorischer Ebene fänden sich erstaunliche Differenzierungen. Im (vorrangig von Weißen besetzten) US-Kongreß einigte man sich auf hundertmal (!) höhere Strafen im Zusammenhang mit Crack-Kokain als für Besitz und Weitergabe von reinem Kokain. Während 90% der Crack-Kokaindelikte von Afroamerikanern begangen werden, sind es bei reinem Kokain nur 20%.

Verfassungsdogmatischer Hintergrund

Nach Cole ist diese Entwicklung das Ergebnis einer ungerechten, d.h. ungleichen Aufhebung des Widerspruchs zweier konfligierender Rechtsgüter von Verfassungsrang zu Lasten der unterprivilegierten Gruppen. Es stünden sich einerseits die Schutzpflicht des Staates, Leib, Leben und Eigentum seiner Bürgerinnen durch ein funktionierendes Strafrechtssystem zu bewahren, sowie andererseits das Freiheitsrecht jeder Beschuldigten auf ein faires Verfahren, das sie nicht zum Objekt staatlichen Handelns macht, gegenüber. Bei der Überlegung, wie eine solche praktische Konkordanz der widerstreitenden Interessen aussehen sollte, unterscheide man traditionell ein konservatives und ein liberales Lager. Während letzteres im Zweifel den Freiheitsrechten mehr Raum gewähren will, betont ersteres stärker die Schutzpflicht des Staates vor Rechtsbrecherinnen. Selbst wenn sich beide Ansichten kaum darauf einigen könnten, wo genau man die Grenze zwischen Schutzpflichten und Freiheitsrechten ziehen sollte, so bestehe wenigstens Konsens darüber, daß diese Linie für alle Bürgerinnen gleichermaßen Geltung beanspruchen müsse. Es sei also ein evidentes Gebot der Gerechtigkeit, daß Freiheitsrechte nicht zu Lasten einer Bevölkerungsgruppe stärker beschränkt werden dürfen, um das Schutzniveau für eine andere zu erhöhen, ohne daß auch diese gleichzeitig eine Einschränkung individueller Freiheit erfahren. Doch ist nach Cole genau dies in den USA der Fall. Die gegenwärtige Strafverfolgungspraxis, die auf ein hartes Durchgreifen gegen Verbrecherinnen setzt, werde von der weißen Mehrheit nur deshalb gebilligt, weil sie überproportional davon profitieren (d.h. ihre Rechtsgüter geschützt werden und/oder sich zumindest ihr subjektives Sicherheitsgefühl erhöht), ohne daß sie auch deren Kosten in Form der Einschränkung von Freiheitsrechten erdulden müßten. Die weiße Bevölkerungsmehrheit kann sich die mit der Masseninhaftierung einhergehenden "Kosten" für die individuelle Freiheit nur deshalb leisten, weil die Mehrheit der Gefangenen nicht weiß ist.

Legitimitätsverlust des Rechts

Die Praxis dieser tatsächlichen Ungleichbehandlung in Ausführung einer auf formaler Gleichbehandlung fußenden Strafrechtsordung leiste nicht nur rassenbezogenen Ressentiments Vorschub, sondern untergrabe die Akzeptanz des unhintergehbaren Grundsatzes, daß das positivierte (Straf-) Recht zum Schutze der vom Gesetzgeber definierten Rechtsgüter gelten soll. Diese Unterminierung der Legitimität des Strafrechtssystems führe somit zu erhöhter Straffälligkeit bei den von den doppelten Standards negativ betroffenen Gruppen, womit die herrschende Praxis selbst die Realität erzeuge, die zu bekämpfen sie angetreten sei.

"community-based criminal justice policy"

Als Ausweg aus dieser moralisch und pragmatisch unhaltbaren Situation fordert Cole zunächst lediglich, das Problem zu erkennen und die doppelten Standards als solche zu benennen. Die Wiederherstellung der Legitimität des Strafrechtssystems sei allerdings nur im Wege der Prävention und Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs unter Einbeziehung der kommunalen Ebene erreichbar.
Die Straffälligen müßten von Mitgliedern ihres sozialen Umfeldes zur Rechenschaft gezogen werden. Strafe könne dort ihre reintegrative Wirkung entfalten, wo sie die Delinquentinnen als Mitglieder einer Gemeinschaft betreffe, ohne sie aus dieser auszustoßen. Als Beispiel nennt Cole das Prinzip der Beschämung als mögliche Strafsanktion ("shaming penalties"). Indem die Gemeinschaft ihr moralisches Unwerturteil über die Tat zum Ausdruck bringt, zeige sie gleichzeitig, daß sie die Delinquentin gleichwohl als ihr Mitglied betrachte. Für die Straffälligen wiederum habe die Angst vor der beschämenden Strafe ein hohe spezialpräventive Wirkung, da sie ihr unmittelbar ausgesetzt seien und ihr nur schwerlich entkommen könnten.
Die gegenwärtige Praxis der Masseninhaftierung hingegen verfehle nicht nur eine Läuterung der Straffälligen, sondern zerstöre auch deren Anbindung an ein intaktes soziales Umfeld. Bei diesem Ansatz einer moralisch aufgeladenen Sanktionierung von Straftaten wird Kritik laut an einer individualistisch-liberalen Konzeption der Strafe, die die Prinzipien der Verfassung nur für Wenige im Alltag bewahrt, gleichzeitig aber zu einer Exklusion breiter Bevölkerungsschichten führt. Somit macht sich Cole auf der Ebene des Verbrechensbekämpfung die kommunitaristische Kritik am Liberalismus 2 zu eigen, nach der sich in den USA eine Gesellschaft herausgebildet habe, deren Gerechtigkeitsvorstellung sich nur auf atomisierte, voneinander isolierte und nur ihrem Eigeninteresse verpflichteten Individuen stütze und auf diese Weise beharrlich ihre eigenen Grundlagen untergrabe 3. Die Funktionsfähigkeit der liberalen Gesellschaft könne langfristig nur durch einen ausgeprägteren Bürgersinn, mehr solidarisches Engagement und eine Besinnung auf gemeinsame Tugenden aufrechterhalten werden 4. Zugespitzt geht es hierbei um die Ersetzung der liberalen Grundidee gleicher Rechte und Freiheiten durch eine noch zu präzisierende Gemeinschaftsethik 5.

Bedenken

Dieser kommunitaristische Ansatz erscheint mir jedoch insofern problematisch, als er die gesellschaftliche Ausdifferenzierung von Recht und Moral in Frage stellt. Im 18. Jahrhundert begann man, Recht als auf externen und Moral als auf internen Zwängen beruhende Handlungssteuerung zu unterscheiden 6. Als vorher Moral mit (zumeist religiös abgeleitetem) Recht gleichzusetzen war, gab es keinen Lebensbereich, der nicht dem obrigkeitlichen Zugriff offengestanden hätte. Erst durch deren Trennung wurde es dem Individuum ermöglicht, sich staatlicher Sanktionierung zu entziehen und es entstanden rechtsfreie Räume 7. Ein Strafrechtstatbestand bestimmt eben nicht nur positiv, was strafbar ist, sondern umgrenzt gleichzeitig negativ den Zugriffsbereich staatlicher Macht.
Definiert man Moral nunmehr als eine besondere Art von Kommunikation, die Hinweise auf Achtung oder Mißachtung einer Person als ganze mitführt 8, hat das kommunitaristische Postulat einer Remoralisierung des Rechts weitreichende Konsequenzen für den Freiheitsraum des Individuums. Moralisch aufgeladene, beschämende Strafe, die von Mitgliedern des sozialen Umfelds der Delinquentin exekutiert wird, spricht dann ein Unwerturteil nicht über die Tat, sondern über den Täter als Person und läßt mithin keinen Lebensbereich unberührt von staatlicher Sanktion. Es bleibt also zu beachten, daß "(n(ur wenn das Recht gegen die unbeständige Flut und Ebbe moralischer Kommunikation differenziert und von ihr an Hand rechtseigener Geltungskriterien unterscheidbar ist, können auch die Tatsachen spezifiziert und gegen eine Gesamtbeurteilung der Person abgegrenzt werden, auf die es in Rechtszusammenhängen ankommt" 9.
Über diese Bedenken hinaus ist unklar, wer überhaupt den moralischen Strafgehalt festlegen oder die Modalitäten seiner Anwendung bestimmen sollte, ohne daß dies einer demokratischen Legitimierung entbehre. Denn über Moral läßt sich bekanntlich trefflich streiten. Bei der Umsetzung der von Cole propagierten Alternativen zur polarisierenden "zero tolerance"-Politik ist also die Begrenzungsfunktion des Rechts ernst zu nehmen und seiner ausufernden Remoralisierung entgegenzuwirken.

Tobias Bender studiert Jura in Hamburg und ist unter tobias_bender@yahoo.com erreichbar.

Anmerkungen:

1 US Supreme Court (1966) Miranda v. Arizona; zur Rezeption des Urteils im deutschsprachigen Raum: F. Salditt, 25 Jahre Miranda (...), Goltdammer´s Archiv 1992, 51-75; F. Lorenz, "Formalismus, Technizismus, Irrealismus" (...), Strafverteidiger 1996, 172-179; C. Salger, Das Schweigerecht des Beschuldigten, Köln 1998, S. 87ff., 135ff.; N. Schmid, Strafverfahren und Strafrecht in den Vereinigten Staaten, 2. Aufl., Heidelberg 1993, S. 128ff.; BGHSt 38, 214 (230) bzgl. § 136 I S. 2 StPO.
2 Zum Streit zwischen Liberalismus und Kommunitarismus eingehend: L. Meyer, John Rawls und die Kommunitaristen, Würzburg 1996 und A. Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus: eine Debatte über die moralischen Grundlagen modernen Gesellschaften, Frankfurt 1993 m.w.N. insbes. auf John Rawls "Theory of Justice" (1971) und Michael Walzers "Spheres of Justice" (1983).
3 L. Meyer (Fn. 2), S. 4; A. Honneth, (Fn. 2), S. 9 .
4 L. Meyer, (Fn. 2), S. 5.
5 A. Honneth, (Fn. 2), S. 10.
6 N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt, 1995, S. 39f.; grundlegend zum Verhältnis von Recht und Moral: H. Geddert, Recht und Moral, Berlin 1984.
7 I. Maus, Die Trennung von Recht und Moral als Begrenzung des Rechts, Rechtstheorie 20 (1989), 191-210 (192).
8 N. Luhmann, Paradigm lost: über die ethische Reflexion der Moral, Frankfurt 1990, S. 17f.
9 N. Luhmann, (Fn. 6), S. 79; Hervorhebung durch T.B.