Heft 2 / 2001:
Recht Macht Geschlecht
Notwendigkeit und Perspektiven feministischer Rechtspolitik
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Deutschland darf sterben müssen
 

Was ehemals nur gehobeneren Punkkreisen geläufig war, dem schloss sich kürzlich auch die gehobene Gerichtsbarkeit in Gestalt des Bundesverfassungsgerichts an. Wie ein Schuss Poesie inmitten all der rechtsfinderischen Prosa nahmen sich die im Beschluss rezitierten Zeilen des Kultliedes der Punkband SLIME aus: //Wo Faschisten und Multis das Land regiern/wo Leben und Umwelt keinen interessieren/wo alle Menschen ihr Recht verliern/da kann eigentlich nur noch eins passieren:/Deutschland muss sterben, damit wir leben können.//
Dies wird nun nicht mehr als Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole gewertet (§ 90 a Strafgesetzbuch), sondern bewegt sich innerhalb der durch Art. 5 Abs. 3 S. 1 Grundgesetz geschützten Kunstfreiheit. Die Berliner Justiz hatte dies in mehrjährigen Prozessen und unter Verhängung einiger Monate Untersuchungshaft, Bewährungsstrafen und Tausenden Mark Verfahrenskosten nicht so gesehen. Dabei ist das Stück, das 1997 auf einer angemeldeten Versammlung in Berlin-Kreuzberg vom Band kam, im Handel frei erhältlich.
Und dies zu Recht. Anstatt die Kunstfreiheit vorschnell dort enden zu lassen, wo mancherorts offenbar der unumstößliche Schutzbereich des § 90 a Abs. 1 StGB anfängt, hat das Bundesverfassungsgericht bei der Abwägung der widerstreitenden Verfassungsgüter genau hingeschaut bzw. -gehört: Unverkennbar sei die Kritik mit satirischem Einschlag. Deutlich (...) werden Missstände in den Bereichen Politik, Umweltverschmutzung, Kriegsgefahr sowie der rapide Wandel durch technische Neuerungen angeprangert. Dabei vergaß es auch nicht, dass im Sinne der Kunstfreiheit die Anwendung des § 90 a StGB nicht zur Immunisierung des Staates gegen Kritik und Ablehnung führen dürfe.
Für eine dem künstlerischen Anspruch des Liedes gerecht werdende Interpretation hat das Bundesverfassungsgericht sogar tief in der Schatzkiste gegraben und mit Heinrich Heines Gedicht von den schlesischen Webern aus dem Jahr 1844 ein Werk hervorgezaubert, das sowohl formal als auch im Ansatz und in der Metaphorik weitgehende Ähnlichkeit aufweist.
Der zeitgeschichtliche Bezug des Liedes beginnt jedoch fast ein Jahrhundert später in der Hamburger Heimatstadt der Band, dauert allerdings bis heute an: Heinrich Lerschs Gedicht Soldatenabschied war es, auf das die Nazis zurückgriffen, als sie 1936 dem Hanseatischen Infanterieregiment ein Denkmahl errichteten. "Deutschland muss leben, und wenn wir sterben müssen", heißt es noch immer in der dazugehörigen Inschrift.

Bilal Alkatout, Berlin.

Quelle:

BVerfG, 1 BvR 581/00 vom 3.11.2000, www.bverfg.de/entscheidungen/